Sie liegen nebeneinander auf der Decke in der Sonne und fühlen sich noch einmal so jung wie damals, als sie sich kennenlernten. Wie sie dann mit den Klischees gespielt hatten: Der blonde Engel und die schwarzhaarige Domina. Galten über viele Jahre als das bekannteste Lesbenpaar der Stadt und waren doch nur gute Freundinnen. „Ich bin eine schwedische Finnin“, so stellte sich Helma vor. Und Ulrike sagte dann jedes Mal: „Quatsch! Sie ist eine finnische Schwedin“. Damals war Helma das, was man fraulich nannte, und fühlte sich wohl in ihrem Körper. Ulrike überragte sie um anderthalb Köpfe, dünn, beinahe dürr, mit raspelkurzen Haaren. Trug meist schwarze Jeans und eine dazu passende Motorradjacke. Rauchte schwarzen Tabak und soff Wodka pur. Zusammen sind sie alt geworden. Und haben sich über die Zeit aneinander angeglichen. Nach ihrer langen Krankheit ist Helma abgemagert und lässt sich die weißgrauen Haare immer sehr kurz schneiden. Ulrike hat durch das viele Training Muskeln angesetzt und trägt einen langen, schwarzen Zopf.
Gegen die Gerüchte haben sie nie etwas unternommen und auf Fragen dazu nie geantwortet. Es war ihnen auch egal, was die Leute dachten. Auch den vielen Kerlen, mit denen sie schliefen, war es egal. Das war in den Siebzigern und vor AIDS, als es ohnehin allen egal war, wer mit wem schlief. Die dümmeren unter den Liebhabern bildeten sich etwas darauf ein, eine Lesbe rumgekriegt zu haben und prahlten damit vor ihren Kumpeln. Die Klugen schwiegen, ohne dass Helma und Ulrike sie dazu hätten verpflichten müssen. Die Unklarheit ihrer sexuellen Orientierung und das selbstbewusste Bewegen in der Öffentlichkeit nutzten sie für ihren geschäftlichen Erfolg.
Der begann mit der Eröffnung der ersten Galerie, die noch auf Helmas Namen lief. Sie selbst war an der Kunst gescheitert und hatte die Akademie nach drei Semstern verlassen, konnte aber nicht von den Künstlern lassen. Und gerade die Maler, die Bildhauer und die Fotografen ihrer Generation liebten sie und wollten nur von ihr vertreten werden. Innerhalb von kaum drei Jahren galt Helmas Galerie als neuer Stern am Kunstmarkthimmel. Ulrike war nicht kreativ und hatte keinerlei Ehrgeiz in dieser Richtung. Überhaupt war ihr das Streben nach Anerkennung und Erfolg fremd. Sie wollte einfach sein und hatte keine Ansprüche an einen Beruf oder den Job. Damals arbeitete sie als Fremdsprachenkorrespondentin beim M.-Konzern, saß mit einem Dutzend anderer Frauen in einem Schreibüro und tippte Korrespondenz auf Französisch, deren Texte in Form von Diktatbändern angeliefert wurden.
Dass sie später Wirtin werden würde, lag eigentlich nicht in ihrem Interesse; es passierte einfach. Und es war ihr erstes gemeinsames Projekt. Das HU war aus einer typischen Eckkneipe in einem Viertel entstanden, das damals überhaupt nicht angesagt war. Helma bestimmte die Ästhetik, und so kamen im Laden nur die Farben Schwarz und Weiß vor – lange bevor dies bei Bars und Ckubs modern wurde. Der erste Wirt, den sie engagierte, ruinierte den Laden innerhalb von nur einem Jahr. Komm, mach du das, hatte sie zu ihrer Freundin gesagt, und Ulrike kündigte sofort ihren Job und übernahm, weil sie ihrer Lebensgefährtin vertraute.
Aus der Galerie und dem HU wurde ein kleines Imperium, das die Beiden reich machte. So reich, dass sie an Ulrikes fünfzigstem Geburtstag beschlossen, alles zu verkaufen, um nie wieder arbeiten zu müssen. Zwei Jahre später, dieses Mal feierte Helma den Fünfzigsten, konnten sie den Plan umsetzen und begaben sich als erstes auf eine ausgedehnte Reise durch Südamerika. Später bereisten sie dann auch ganz Asien, Nordamerika und schließlich auch das südliche Afrika. Ulrike sprach fließend Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Mandarin, kam also überall zurecht und hatte vor nichts und niemand Angst. Helma bestand anfangs darauf, nur in den teuersten Hotels abzusteigen und alle Gegenden zu meiden, die sie für gefährlich hielt. Schon am Ende der ersten großen Reise änderte sich das, und die lange Fahrt mit Landrover von Angola durch Mosambique und Südafrika bis nach Zimbabwe wurde zum Höhepunkt ihres gemeinsamen Lebens.
Dann kam die Diagnose. Helma hatte Angst vor dem Sterben. Ulrike hatte Angst, Helma zu verlieren. Sie kämpften gemeinsam, aber am Ende war es der Reichtum, der Helmas Heilung ermöglichte. Als eine der ersten Patienten bekam sie das Medikament, das den Virus besiegen konnte. Fast das ganze gemeinsame Vermögen ging dafür innerhalb von zwei Jahren drauf. Ulrike begann in dieser Zeit damit, Sport zu treiben. Sie hatte vorher in ihrem Leben noch nie trainiert, war nie sinnlos durch die Gegend gelaufen oder hatte irgendeinen sportlichen Ehrgeiz entwickelt. Nun verbrachte sie sechs Tage die Woche jeweils zwei Stunden im Studio am Eisen. Und je mehr Muskeln sie aufbaute, desto schweigsamer wurde sie. Helma und Ulrike hatten nie viele Worte gebraucht, um sich zu verständigen, aber nun kommunizierte die starke Freundin hauptsächlich mit Gesten. Immer noch schliefen sie gemeinsam in einem schmalen Bett, immer noch hielten sie sich im Schlaf bei den Händen und immer noch war Beiden klar, dass die anderen sie liebte.
Fuerteventura ist ihre Insel geworden, denn das Studio in Jandia ist die letzte Immobilie, die sie noch besitzen. Hier haben sie beide das Motorradfahren und das Surfen gelernt. Hier sind sie Abend für Abend rüber nach La Pared gefahren, um von ihrem Lieblingsplatz aus den Sonnenuntergang zu sehen. Hier waren sie Stammgäste in allen Restaurants und Bars so lange es noch Restaurants und Bars gab, denn der All-inclusive-Tourismus hat sie beinahe alle verjagt. Hier hatten sie aus dem verfallenen Schuppen am Hang oberhalb der Costa Calma eine Bar gemacht, die über Jahre der angesagteste Ort im Süden der Insel war. Hier waren sie noch bekannter gewesen als daheim. Das lag mehr als zehn Jahre zurück, und jetzt kennt sie niemand mehr. Und nur ein paar Touristen, die an ihrer Sandkuhle bei der Lagune vorbei trotten, wundern sich über die zwei älteren Damen, die nackt und Hand in Hand dicht beieinander in der Sonne liegen.