Wer weiß, was den Furzknoten dazu getrieben hatte, mich in den Glaskasten zu verbannen. Offiziell begründete der große Inhaber die Maßnahme damit, ich sei jetzt Führungskraft und müsse zu meinen Untergebenen Distanz wahren. So dürfe ich die Kollegen, denen ich nun vorgesetzt war, nicht mehr duzen, sondern müsse sie siezen. Das ist so ungefähr der Psychoquark meines Chefs, der sich für klug und gewitzt hält. Mich aber zwang es dazu, nicht mehr an der Nahtstelle zwischen Konzeption und Grafik zu sitzen, sondern am anderen Ende des verwinkelten Großraumbüros in einer Kabine.
Meisterbude nannte Emil das Ding, denn er hatte viele alte Filme gesehen, die im Millieu der Fabriken frührer Jahre spielten. Eigentlich wurde die erhöht über der Werkshalle angebracht und waren rundum verglast, damit der Meister sehen konnte, ob die Arbeiter auch richtig arbeiteten. Mein Glashaus lag so blöd und war so bescheuert konstruiert, dass mich zwar alle Vorübergehenden sehen konnten, ich aber immer nur den Doppelschreibtisch der tumben Budgetfrickler im Blick hatten, die sich tagsüber kaum je bewegten.
Emil durfte ich jetzt auch nicht mehr Emil nennen, sondern sollte Herr Manheim sagen. Und dann ist da auch noch Jelle, die eigentlich Gabriele heißt und sofort anfängt zu weinen, wenn jemand aus Versehen oder mit Absicht Gabi zu ihr sagt. Weil das Kollegenpack Jelle doof findet, haben sie ihr den Spitznamen Schnitzel verpasst. Und zu der soll ich nun Frau Schnitzler sagen. Das hat der Furzknoten, der mein oberster Chef ist, mir persönlich bei einer Audienz ins Hirn gewaschen.
Wobei sein Büro ein einziger Psychotrick ist. Natürlich sitzt er mit dem Rücken zum Fenster. Selbstverständlich steht der Schreibtisch auf einem etwa acht bis zehn Zentimeter hohen Podest. Klar, dass die Sitzgelegenheiten für die Deliquenten so niedrig sind, dass man beinahe die Knie am Kinn hat, wenn man dort hockt. Diese Sitze sind fest verschraubt, und es erfordert unelegante Bewegungen, den Arsch aufs weiche Sitzkissen zu wuchten. Und immer wenn man beim großen Inhaber ist, klingelt nach genau acht Minuten sein Telefon. Oder Sabine Brünnen (die für uns nur Lawine Brunnen heißt) kommt rein und reicht dem Maestro was zum Unterschreiben.
Kann sein, dass der Furzknoten Ahnung von der Produktion und dem Vertrieb hat, von Marketing und Kommunikation versteht er jedenfalls nichts. Also ignoriere ich seine Anweisungen mit Fleiß, und er merkt das nicht einmal. Nur seine sogenannten disziplinarischen Maßnahmen, können wir Kreativköppe kaum umgehen. Schließlich wissen wir, dass die lange Pam sein Spürhund ist, seine IM, sein Spion, Spitzel, Petze. Pamela Windrath bekleidet offiziell die Funktion einer Assistentin der Geschäftsleitung. Davon hat der Zampano gleich drei: für jede zu kontrollierende Abteilung eine. Was die zu tun hat, flüsterte mir Lawine auf der Betriebsfeier vor zweieinhalb Jahren.
Weil die lange Pam aber mindestens fünfmal pro Tag reinschneit, bleibe ich hübsch im Meisterbüdchen und vermeide so unnötigen Ärger. Dabei würde ich lieber wieder vorne links, vier Schreibtisch von der Flügeltür sitzen. Freies Ohr nach rechts auf die ewig blödelnden Texter, deren Zynismus so zynisch ist, dass er auf der liebevollen Seite wieder herauskommt. Und vor allem den unverbaubaren Blick auf die vier Grafik-Designerinnen. Schöne Mädchen allesamt und soch so verschieden.
Am verschiedensten aber ist Frau Schnitzler, die nicht nur weint, wenn man sie Gabi nennt. Sie weint im Durchschnitt dreimal pro Tag. Nicht mehr vor Schmerz, sondern oft auch aus Rührung, weil vielleicht jemand eine Geschichte erzählt hat, in der ein Mensch (oder ein Tier) einem anderen Menschen (oder Tier) etwas Gutes getan hat. Natürlich machen sich die Wortakrobaten einen Spaß daraus, solche Stories am laufenden Meter zu verfertigen, um Jelle zum Flennen zu bringen. Ich finde das weniger plump als die Versuche der Media-Fuzzis, sie grob oder fein zu verarschen oder zu beleidigen, um ihre Tränenproduktion anzuregen.
Und weil die Menschen in der heutigen Zeit eher zum Harten greifen, weil sie selbst hart sein wollen, ist ihnen das Sensible eher fremd. Wobei das Adjektiv seinsibel für das Wesen der Frau Schnitzler viel zu schwach ist. Sie ist ein Bündel starker Gefühle, die jeder sehen kann – ob sie will oder nicht. So wie man im gläsernen Menschen im Museum in Dresden alle Organe und das fließende Blut sehen kann. Und so wie der hat Jelle nur eine transparente Haut auf der Seele. Ich persönlich finden das wertvoll und schön und lebenswert.
Zumal sie nicht nur oft weint, sondern noch viel öfter lacht und sich freut. Vielleicht nicht hier bei uns auf der Arbeit. Aber ich kenne sie ja nun ein bisschen besser, um es vorsichtig auszudrücken. Es begann damit, dass sie die Erste aus der Abteilung war, die mich aus freien Stücken im Glaskasten besuchte. „Du bist…,“ fing sie an und korrigierte sich: „Sie sind bestimmt ganz einsam hier drin.“ Ich sah den Anflug eines feuchten Scheins in ihren bernsteinbrauen Augen mit den immer ein wenig zu großen Pupillen. „Das tut mir so leid.“ Ging vor meinem Schreibtisch in die Hocke, legte ihre Hände auf die Kante und sah mich von unten mit einer solch tiefen Empathie an, dass auch ich kurz vorm Tränen war.
So zart ihre Seele, so robust ist Jelles Physis. Sie steht auf starken Beinen, die in eher breiten Hüften montiert sind, trägt ein wenig Bauch, und aus den kräftigen Schultern wächst ein bemerkenswert muskulöser Nacken. Den man zum Glück auch sehen kann, weil sie ihre mausbeigen Haare entsprechend schneiden lässt. Dabei bewegt sie sich mit einer kraftvollen Eleganz, die eher an eine Ringerin erinnert denn an eine Tänzerin. Inzwischen kenne ich sie so gut, dass ich schon im Ansatz erahne, welche Bewegung sie als nächstes ausführen wird; alle beteiligten Baugruppen werden zunächst in Bereitschaft gesetzt, dann kümmern sich Gelenke um die Stabilität und die Muskeln machen die Arbeit.
Im Prinzip hätte ich mich auch in Mischa, Sisse oder Paluna verlieben können. Wir sind ja alle ungefähr im selben Alter, mehr oder weniger single, insgesamt betrachtet ganz charmant. Die eine sucht mehr das Abenteuer, während die andere nach ehelicher Konstanz sucht. Aber das wechselt. Und ich gelte im ganzen Haus als Hahn im Korb wegen dieser vier Damen. Sagen wir: ich galt. Mit dem Umzug in die Kabine bin ich von meinen vier Grazien getrennt. Außer eben von Frau Schnitzler, die mich regelmäßig besuchen kommt und seit Neustem immer ein kleines Geschenk mitbringt.
Zum Beispiel einen winzigen Schwan, gefertigt aus 100-Gramm-Papier in Orgami-Technik. Oder einen, na ja, beinahe herzförmigen Kiesel, auf den sie vorn und hinten je ein rotes Herz gemalt hat. Gern auch kunterbunte Papierstreifen, einzelne Blütenblätter oder irgendwelche kleinen Fundstücke von der Straße oder sonst woher. Für jedes Geschenk bekommt sie seiben Küsse, zahlbar nach Feierabend an einem verschwiegenen Ort, also bei ihr oder bei mir. Vermutlich ist die lange Pam das einzige menschenähnliche Wesen in der Firma, das nicht von unserer speziellen Beziehung weiß. Immerhin hat mich der Furzkonten noch nicht darauf angesprochen, was denn da so laufe zwischen mir und dieset Gabi Schnitzler.
Viel wahrscheinliicher aber, dass Pamela Windrath Bescheid weiß, aber uns nicht beim großen Inhaber verpetzt, vielleicht aus boshaftem Interesse zu sehen, wie lange das denn gut geht mit uns. Könnte sogar sein, dass sie einen perfinden, von Eifersucht getriebenen Plan verfolgt, den ich nicht durchschaue. Immerhin habe ich sie seinerzeit, ich war jung und frisch im Stall, während der Jubiläumsreise nach Mallorca einigermaßen harsch abblitzen lassen. Man sagt: Die lange Pam ist so süchtig nach jungen Kerle wie nach ihren stinkenden Zigarillos, die sie überall qualmend liegen lässt.
Jelle habe ich nicht abblitzen lassen während des Jahresausflugs auf die Zugspitze, die wir übrigens nie erreichten, weil die Reiseabteilung auf ganzer Linie versagte. Stattdessen blieben wir einfach in unserem Transithotel weit, weit draußen vor den Toren Münchens. Man sagt, der Barkeeper haben nach den zweieinhalb Nächten mit und gegen uns seinen Beruf aufgegeben.
Sie trug wie immer bunt. Obwohl damals der schwwarze Rollkragenpullover zur schwarzen Jeans an schwarzen Schuhen praktisch Pflichtuniform in kreativen Kreisen war. Frau Schnitzler aber hat – das weiß ich inzwischen – einen ganzen Schrank voller stark gemusterter Pluderhosen in Sommer- und Winterqualität sowie stapelweise Batik-Oberteile vom Tanktop bis zum polartauglichen Hoodie. Dazu Schuhwerk in Farben, die sich nie jemand für dieses Beiwerk ausgedacht hat, quietschfarbene Handschuhe, Schals und Mützen. Tatsächlich besitzt sie nicht einmal einfarbige Unterwäsche. Wobei sie auf Bauformen steht, deren Oberfläche eigentlich nicht groß genug ist für verschiedene Töne.
Unser aller Furzknoten, der sich zu allem Überfluss für einen Womanizer hält, nahm ihre Kleiderordnung zum Anlass, sich nach dem vierten Gin-Tonic an Jelle ranzuwanzen und intensiv zu besprechen. Im Kreise meiner Lieben schwebte ich auf einem Barhocker am anderen Ende des Tresen, und wir redeten dummes Zeug und flirtetn wahl- und fruchtlos durcheinander. Plötzlich nahm ich einen ultrakurzen, aber hilfsbedürftigen Blick von gegenüber wahr. „Rette mich,“ funkte Jelle und schickte mehrere Ausrufezeichen hinterher. Es war nicht schwer, Mischa, Sisse oder Paluna als humanitären Konvoi zu rekrutieren, der sich auf den Weg Richtung Inhaber machte, um das arme, kleine Schnitzel aus den Fängen des Oberschweins zu befreien.
„Danke,“ sagte sie als sie über den Umweg Damen-WC bei mir gelandet war. „Lass uns verschwinden,“ meinte sie. Leider oder zum Glück verliefen wir uns, fanden eine Fluchttür, auf deren anderen Seite sich der angesichts der Uhrzeit bereits geschlossene Wellness-Bereich befand. Wir schwamen nackt wie die Delfine im Pool, immer umeinander, ohne zu zu fangen, nur unsere Außenhäute berührten sich, und das alles war ein ernstes Spiel. Später nach unserem Zusammenkommen auf einer Massageliege weinte Jelle ein bisschen. „Weinst du auch manchmal vor Glück?“ fragte ich.
Seit diesem Zeitpunkt plane ich die Flucht aus dem Glaskasten, denn der ist das Einzige, das unserer Liebe noch im Weg steht.