Klaus auf Kuba

Viele Menschen in seiner Umgebung finden Klaus attraktiv. Aber er selbst bekommt das nicht mit. Und wenn er es mitbekäme, dann würde er es nicht glauben oder abstreiten. Er sieht sich selbst nicht im Spiegel, nicht einmal wenn er beim Rasieren hineinschaut. Eigentlich müsste er sich bewusst sein, dass man ihn für gutaussehend hält. Denn er war ein außergewöhnlich niedlicher Säugling und ein hübsches Kind, und oft genug hatten ihm Verwandte mitgeteilt, er sein ein schöner Mensch. Klaus beschäftigte sich nicht damit, so wie er sich auch sonst nicht mit seinem äußeren beschäftigte. Er war mehr berüchtigt als berühmt für seine karierten Hemden und die altmodischen Schuhe. Weil er aber keine Freunde hatte, erfuhr er nicht, was die Leute von ihm hielten. [Lesezeit ca. 16 min]

Schon in der Kindergarten- und Schulzeit waren ihm Freunde erspart geblieben. Nicht dass er jemand gewesen wäre, der außerhalb der Gemeinschaft steht oder gar ein Mobbingopfer. Es hatte sich einfach nicht ergeben, dass irgendein anderes Kind das Bedürfnis gehabt hätte, öfter mit ihm zusammen zu sein oder irgendwelche Aktivitäten und Geheimnisse zu teilen. Er war dann auch der einzige aus dem Jahrgang, der unmittelbar nach dem Zehnte-Klasse-Abschluss eine Berufsausbildung begann, durch die alle alten Kontakte schnell abrissen. Eher zufällig war er so Speditionskaufmann geworden, spezialisiert auf internationale Bahnfracht. Weil er der einzige Experte auf diesem Gebiet in der Firma war, hatte er auch keine Kollegen, mit denen er enger zu kooperieren hatte.

Klaus hat sich in diesem Leben eingerichtet. Einsam ist er nicht. Er geht oft unter Menschen, hat sogar eine Stammkneipe, wo man ihn kennt und grüßt. Allerdings ist er in keinem Club Mitglied. Weder sammelt er etwas, noch kann er sich für etwa so richtig begeistern, dass er Fan von irgendetwas wäre. Er liebt sein Auto, auch wenn es sich um einen ganz normalen, einfachen Kleinwagen einer koreanischen Marke handelt. Ins Kino geht er gerne, gelegentlich auch ins Theater oder zu einem Comedian. Manchmal schaut er sich einen romantischen Film auf DVD an, und wenn es traurig wird, dann weint er auch ein bisschen. Wobei er sich immer wieder fragt, was denn das Besondere daran sei, mit einem Partner ein Paar zu bilden. So weit er es beurteilen kann, liegt der einzige Vorteil einer Partnerschaft darin, nicht allein zu leben. Wenn es einen also nicht stört, allein zu leben, wozu soll man dann mit jemandem zusammen ein Paar bilden.

Nur manchmal, da spürt er deutlich, dass ihm etwas fehlt. Vermutlich, so denkt er dann, ist es das, was man Liebe nennt. Vielleicht, vermutet er, ist es gar nicht, dass er vermisst geliebt zu werden, sondern dass er niemanden hat, dem er seine ganze Liebe geben kann. Denn tief im Inneren ist er voll von dieser Liebe. Und außerdem hat er Sehnsucht nach einer Frau. Klaus ist vierunddreißig und entdeckt er seit einigen Jahren das Besondere an den Frauen. Also das, was einen heterosexuellen Mann an einer Frau anzieht. Es begann mit der neuen Kollegin in der Abteilung Container, die im selben Großraum wie er angesiedelt ist. Frau Siepmann hieß sie und schloss sich der Gruppe an, die praktisch jeden Mittag gemeinsam in der Pause zum Essen ging. Auch Klaus ging an zwei oder drei Tagen in der Woche mit.

Dann saßen sie eines Tages beim Griechen nebeneinander, und sie sagte: Hi, ich bin die Angelika; meine Freunde nennen mich Geli. Später stellte sich heraus, dass Geli fast zehn Jahre älter ist als er, alleinerziehende Mutter mit zwei schulpflichtigen Kindern, zweimal geschieden. Bald gingen sie fast jeden Tag gemeinsam in die Pause. Meist nicht mehr mit den Kollegen, sondern zu zweit, runter an den Fluss. Geli brachte Butterbrote mit und Obst- und Gemüsestücke in der Tupperdose, während er für die Thermoskanne mit dem Milchkaffee sorgte. Sie erzählte ihm alles über ihren Alltag, über ihre Sorgen, aber auch über die schönen Erlebnisse. Er hatte nichts zu erzählen, hörte aber gern und konzentriert zu. Manchmal sagte er: Da kann ich dir auch nicht raten. Oder: Wenn ich nur wüsste, wie ich dir helfen kann. Sie war eine selbstbewusste, fröhliche Frau. Und er fand sie sehr, sehr schön.

Dann lud sie ihn zum Essen bei sich zuhause ein, aber es wurde ein schrecklicher Abend. Die Kinder waren bei Schulfreunde. Sie hatten einen romantischen Tisch gedeckt und eine CD mit sanfter Kuschelmusik aufgelegt. Hübsch hatte sie sich gemacht, aber das gefiel ihm gar nicht. Das war nicht mehr die Geli, mit der er die Arbeitstage verbrachte. Er spürte, dass sie vor allem ein sexuelles Interesse an ihm hatte. Das hatte er schon an ihrem Parfüm und der Kleidung gemerkt, aber auch an ihrem Verhalten, das er irgendwie schleimig fand. Ihm war unwohl in der Situation. Also log er nach dem Dessert, er bekomme wohl gerade eine Grippe, habe Kopfschmerzen und wolle ins Bett. Ja, antwortete sie, dann gehen wir eben schon jetzt gleich ins Bett. Klaus floh, und Frau Siepmann ließ sich in einer andere Niederlassung versetzen.

Irgendwo hatte er gelesen, dass eine Partnerschaft für den Mann ideal sei, in der die Frau ihm gleichzeitig Gefährtin und Geliebte sei. In den Monaten mit Geli hatte er kennengelernt, wie es sich anfühlt, eine Frau zur Freundin zu haben. Davor aber, eine Geliebte zu haben, fürchtete er sich. Er wusste ja auch nicht, wie das geht, mit einer Geliebten zusammen zu sein. Dann kam der Tag, als der ledige Herr Borging von der Luftfracht berichtete, er habe Urlaub auf Kuba gemacht, eine herrliche Insel mit wunderbaren Menschen, vor allem schönen Frauen, die er am gern alle geliebt hätte. So aber sei es nur eine gewesen, die ihm zwei Wochen lang Tag und Nacht nicht von der Seite gewichen sei. Details wollte er aber nicht preisgeben.

Also hat Klaus eine dreiwöchige Reise nach Kuba gebucht. All-inclusive in einem Ressort auf Varadero. Sein erster Urlaub in Übersee; bisher hat er Europa noch nie verlassen. Am dritten Tag hat ihn ein junger Typ am Strand angesprochen. Ob er Lust habe, eine Entdeckungstour zu machen. Vier Tage mit ihm als Guide in einem ordentlichen Auto bis runter nach Santiago. Ihm gefiel der Typ, ein langer, dünner Kerl, vielleicht zwanzig Jahre alt, der ein Rolling-Stones-T-Shirt trug und insgesamt vertrauenswürdig wirkte. Sie würden auf einer Zuckerrohrplantage übernachten, dann bei Freunden in den Bergen und außerdem bei Verwandten in Dos Bocas. Das alles für zweihundert Dollar. Klaus willigte ein. Der Mann hieß Ramos, das Auto war ein relativ neuer Lada, kaum achtzehn Jahre alt, beige mit roten Kunstledersitzen.

Ramos ist ein exzellenter Autofahrer, der im wilden Überlandverkehr mitschwamm wie eine Schildkröte unter lauter Haien. Und er redet ununterbrochen. Sein Deutsch ist recht gut, auch wenn er es mit einem starken Akzent spricht. Seine Eltern, erzählt er, hätten beide in der DDR studiert und jeweils fünf oder sechs Jahre dort gelebt; die Mutter in Wismar, der Vater in Eisleben, wo er an der Bergschule studierte. Kennengelernt haben sich die Eltern allerdings erst wieder auf Kuba; bei einem deutsch-kubanischen Freundschaftsfest in Santiago. Der Vater seiner Mutter habe mit gekämpft in der Revolution, an der Seite von Fidel und Che und sein ein echter Revolutionsheld. Deshalb habe die Familie das Haus in der Altstadt auch für sich behalten dürfen. Die Familie seines Vaters sei dagegen erst 1962 nach Kuba eingewandert. Der Großvater, ein glühender Sozialist, war vor dem Battista-Regime nach Venezuela geflohen. So erfährt Klaus auf den staubigen Straßen alles über Ramos und seine Familie.

Sie sitzen ganz allein in der Kantine der Plantage und essen Congrí. Die Mittagspause hat noch nicht begonnen, aber der Koch hat ihnen rasch zwei Portionen warmgemacht, weil Ramos und Klaus so verhungert aussehen. Dann strömen die Arbeiterinnen und Arbeiter hinein, und ehe Klaus es ganz mitkriegt, ist er umringt von einem Dutzend schöner junger Frauen, die auf ihn einreden. Sehr oft, übersetzt Ramos, kommen hier keine blonden Männer hin. Da ist eine sehr dunkle Arbeiterin, die sich direkt neben ihn gesetzt hat. Sie spricht in auf Englisch an. Er findet sie aufregend mit ihrer riesigen Afrokrause und den weichen Gesichtszügen. Wo er herkommen, fragt sie, ob er Amerikaner sei, Tourist oder Geschäftsmann. Ob er mehr als einen Tag bleibe. Wenigstens eine Nacht? Nachdem die Kolleginnen und Kollegen wieder an die Arbeit gegangen sind, bleibt sie sitzen. Ich heiße Zazuela, sagt sie, sei heute Nacht mein Gast. Und ich? fragt Ramos. Du auch.

Sie hat drei Schwestern. Alle wohnen in einem kleinen Haus. Jede hat ein eigenes Zimmer für sich und ihre Kinder. Es gibt eine Gemeinschaftsküche, ein Bad und eine große, halb übderdachte Veranda. Maria ist nicht da, sagt Zazuela zu Ramos, du kannst in ihrem Zimmer schlafen. Mein Sohn geht zu Rosa, im Bett der Kinder ist bestimmt noch ein Platz frei. Klaus fühlt sich willenlos und lässt sich in der Situation treiben. Er schwimmt in der trockenen Hitze, in seinem eigenen Schweiß und hat ständig Durst. Rosa kommt aus dem Haus und begutachtet ihn. Qué hombre lindo! ruft sie und klatscht in die Hände. Sie ähnelt ihrer Schwester kein bisschen, wirkt wie eine alte Frau. Dann sitzen die Erwachsenen am Tisch und essen, was die ältere Schwester gekocht hat. Zazuela hat einen Fruchtpunsch angesetzt, und Klaus spürt nach dem dritten Glas, wie viel Rum sie hineingetan hat.

Am nächsten Morgen geht es ihm schlecht. Er hat Kopfschmerzen und spürt das Essen vom Vortag in seinen Eingeweiden arbeiten. Er erinnert sich, dass ihn die Frau in ihr Zimmer gebracht und ausgezogen hat. Er ist sich nicht sicher, ob sie beide dann nackt unter einem Laken gelegen haben. Er fürchtet, er habe mit Zazuela den Geschlechtsverkehr ausgeübt. Es ist Sonntag, und Ramos und er sitzen allein beim Kaffee, den ihnen Rosa hingestellt hat. Du wirst Geld dalassen müssen, sagt Ramos. Ja, sicher, entgegnet Klaus, für das Essen, die Getränke und die Übernachtung. Nein, nein, antwortet sein Guide, Liebeslohn. Und lacht, sodass man seine Zahnlücke gleich hinter dem oberen rechten Eckzahn sehen kann. Also legt Klaus einen Hundertdollarschein auf den Tisch und beschwert ihn mit der Kaffeetasse. Genug? Ramos nickt.

Unterwegs schläft Klaus trotz der Hitze und der Schaukelei auf den kaum befestigten Bergstraßen ein. Erst im Traum erkennt er, wie die Nacht mit Zazuela war. Träumt von ihrem schweißnassen Körper, der in dem wenigen Licht glänzt, das in der Nacht ohne Mond durch die Fensterläden aus Holz drang. Ihr spitzen Brüste, die er umfasst hält, während sie auf ihm reitet. Ihr Haare wiegen sich wie Gebüsch im Sturm. Später sagt Ramos: Mach dir keine Gedanken, das war alles okay so. Zazuela ist alleinerziehend, sie braucht das Geld. So oft wird sie keine Gelegenheit haben, sich auf diese Weise etwas von einem reichen Touristen dazuzuverdienen. Klaus fragt sich auf der nächsten Etappe nur, ob er sich vielleicht in Zazuele hätte verlieben können. Ob sie möglicherweise die passende Geliebte und Gefährtin für ihn wäre.

Raul und Conchita wohnen in einem Koglomerat aus vier, fünf Hütten am Berg. Man hat sie unter den letzten Bäumen vor dem Ende der Vegetation erbaut. Ursprünglich hausten hier Jäger, dann Forscher, die sich mit den Auswirkungen des Kimawandels befassen sollten. Dann gab man das Lager auf. Ramos erklärt, das Paar habe die Häuser erst vor drei Jahren entdeckt und nach und nach wieder bewohnbar gemacht. Es wäre eine Art Feriendomizil. Conchita begrüßt Ramos überschwänglich und nimmt auch Klaus in den Arm. Raul sei gleich wieder da, er hole gerade noch Wasser von der Quelle. Jede Hütte bildet ein eigenes Zimmer, alle sind auf merkwürdige Weise miteinander verbunden, denn jede steht auf einer anderen Höhe und kein im rechten Winkel zur nächsten. Vor dem Häuschen, das am tiefsten im Wald sitzt, gibt es eine Art Freiluftbadezimmer mit einem großen Holzbottich und zwei Duschen über nacktem Beton.

Die beiden arbeiten in Havanna in der Unterhaltungsbranche; sie ist Tänzerin, er Saxofonist. Weißt du, beginnt Conchita und Ramos übersetzt, das hältst du nicht länger als drei Wochen am Stück aus: drei Vorstellungen pro Tag, sieben Tage die Woche. Deshalb gibt es drei Ensembles. Wir arbeiten also drei Wochen, dann haben wir zwei Wochen Pause. Dann sind wir natürlich hier. Sie hören einen altersschwachen Diesel. Raul fährt in einem Willys vor, der keinen fahrtüchtigen Eindruck macht. Er hat eine laute Stimme und brüllt Ramos und Klaus an. Dann nimmt er sie gemeinsam in den Arm, und Klaus hat Angst erdrückt zu werden. Ihr könnt so lange hier bleiben wie ihr wollt, ruft Raul. Nur eine Nacht, antwortet Ramos, Klaus ist Tourist und hat nicht so viel Zeit.

Später gibt es Kaninchen vom offenen Feuer, Tomaten und Brot. Der Gastgeber zapft Rotwein aus einem rostigen Fass, das unter einem Vordacht auf Böcken liegt. Es ist vollkommen still, wenn Conchita mit ihrer schnellen, hellen Stimme nicht gerade eine Anekdote erzählt oder Raul gröhlend lacht oder laute Bemerkungen macht. Das Feuer in der großen Metallschale knistert leise. Dann fragen sie Klaus aus. Wer er sei, woher er komme, wie ihm Kuba gefalle, ob Ramos ein guter Reiseführer sei. Dann haben sie das Fleisch aufgegessen, das Feuer ist niedergebrannt, und Raul pinkelt auf die letzte Glut. Ihr auch, sagt er, eine Sicherheitsmaßname. Ramos und Klaus schließen sich an. Er geht ins Haus und kommt nach einer Weile nackt zurück. Jetzt gehen wir alle ins Wasser, brüllt er, los, los!

Tatsächlich passen alle vier in de Bottich. Das Wasser hat eine angenehme Temperatur, und dort mit wildfremden Menschen einer anderen Kultur Körper an Körper zu sitzen, kommt Klaus überhaupt nicht komisch vor. Ein wenig Licht scheint vom Hüttendorf herüber. Raul ist stark behaart, nur der Hals unter dem gestutzten Vollbart scheint glatt zu sein. Wie ein schwarzer Bär sitzt er aufrecht da und brummt vor Wohlbehagen. Er hat Conchita beim Einstieg beobachtet. Sie ist eine Tänzerin, das meint er an ihren Bewegungen erkennen zu können. Ihre Haut hat einen olivfarbigen Glanz, sie trägt das Haar ganz kurz und ist am ganzen Körper enthaart. Nur Ramos scheint sich unwohl zu fühlen und sagt schon nach wenigen Minuten: Ich bin müde, ich geh schlafen. Warte, sagt Raul, ich zeig dir dein Bett. Also bleiben Conchita und er allein zurück. Eres guapo, sagt sie und rückt an seine Seite, so dass ihre Schenkel sich unter Wasser berühren.

Dann greift sie nach seinem Geschlecht, das sofort anschwillt. Raul kommt laut singend aus dem Haus und hat eine gewaltige Erektion. Er springt in den Pool und hebt Conchita hoch, um sie auf seinen Schwanz zu stecken wie ein Legomännchen auf Noppen am Baustein. Klaus flüchtet aus dem Wasser und hört die beiden grunzen und hecheln und winseln und schreien. Er findet Ramos, und sie fahren sofort los. Mitten in der mondlosen Nacht holpern sie im Schritttempo über die Waldwege bis sie gegen Morgen die Fernstraße erreichen. Und jetzt? fragt Klaus. Fahren wir durch zu meiner Familie. Unterwegs finden sie eine Bretterbude, die sich selbst Caffé nennt. Eine zahnlose Frau und ihr zahnloser Mann servieren hervorragenden Kaffee, Eier in Tomatensosse und selbstgebackenes Brot. Das macht sie satt, aber nicht wacher. Es sind noch zweihundert Kilometer bis Dos Bacos.

Die Situation am Haus von Raul und Conchita lässt Klaus keine Ruhe. Er fragt sich, welche Rolle Sex in einer solch stabilen Beziehung wie die der beiden spielt. So etwas wie Klebstoff? Oder eine Methode, die Machtverhältnisse klarzustellen? Oder hat das Geschlechtliche keine Bedeutung außer einer rein hormonellen, und der Geschlechtsverkehr ist nur so etwas wie Unterhaltung. Kurz nach der Abreise hat Ramos gesagt: Der größte Unterschied zwischen Kuba und Deutschland ist, hier wird viel mehr gefickt. Klaus hat vergesse nachzufragen, woran das nach Meinung seines Begleiters liegen mag. Er vermutet, es hat mit der Armut zu tun, dass die Menschen sich nicht viel mehr Vergnügen leisten können als das, was nichts oder so gut wie nichts kostet. Offensichtlich sind Kubaner aber auch schneller bereit, mit Fremden zu vögeln. Es bedeutet ihnen nicht so viel, dass sie davon Aufhebens machen würden. Klaus merkt zum ersten Mal, dass er ein ernsthaftes Problem mit dem Sexuellen hat und beschließt, in Zukunft leichtherziger damit umzugehen und mit jeder Frau zu schlafen, die das anstrebt, oder die in sein Verlangen einwilligt.

Das ist ungewöhnlich für die Jahreszeit, sagt Ramos, als sich dichte Wolken über dem Flachland zusammenziehen und immer tiefer sinken. Sie können von Weitem erkennen, dass gewaltige Wassermassen zu Boden stürzen. Es ist beinahe windstill. Der Guide hält an und meint: Das warten wir ab. Er kramt eine Zigarre aus dem Handschuhfach und schneidet sie mit dem Messer in zwei gleiche Teile. Hier, sagt er, und bietet Klaus ein Stück an. Der hat in seinem Leben noch nie geraucht. Findet aber, auch das müsse er jetzt einmal ausprobieren. Ramos bringt ihm bei, die Glut zu erzeugen und am Leben zu halten, den Rauch mehr zu schlucken als einzuatmen. Der Geschmack gefällt Klaus, das Rauchen als Tätigkeit nicht so sehr.

Sag mal, fragt er seinen Guide, bist du verheiratet oder verlobt oder hast du eine feste Freundin? Mmmh, entgegnet der nach dem er drei weitere Rauchwolken ausgestoßen hat, es ist kompliziert. Vor dem Gesetz bin ich seit meinem achtzehnten Lebensjahr mit einer Cousine verheiratet, damit die für sich und ihren Mann eine Wohnung in Santiago bekommen konnte. Mit Manuela habe ich drei Kinder, aber wir lieben uns nicht mehr. Weißt du, auf Kuba ist das nicht schlimm für Frauen, wenn sie allein mit Kindern leben. Es gibt eine Grundversorgung für Mütter, Ärzte und Medikamente kosten nichts, und vom sechsten bis zum siebzehnten Lebensjahr haben alle Kubaner ein Recht auf Schule. Ich schicke Manuela regelmäßig Geld, aber mit den Kindern möchte ich nichts zu tun haben. Sie wissen auch gar nicht, wer ihr Vater ist. Er holt eine Geldbörse heraus und zieht zwei Fotos hervor. Das, sagt er, ist Melia, meine Geliebte in Varadero, und das Canca, die ich heute in Santiago besuchen werde. Ich liebe sie beide, und wenn ich bei ihnen bin, dann schlafe ich auch mit ihnen; zwei-, drei-, viermal. Ramos lacht und macht eine unanständige Geste.

Vor dem Haus herrscht Tumult. Im Zentrum unter dem schütteren Baum steht ein Tisch mit so vielen Stühlen, dass gar nicht alle Platz haben. Alle Sitzgelegenheiten sind besetzt, und um den Tisch herum kreisen zehn, zwölf Erwachsene, während gut zwei Dutzend Kinder jeden Alters den äußeren Ring des Geschehens bilden. Aus einem Ghettoblaster schallt laute Tanzmusik. Nur wenige Leute tanzen, weil alle ununterbrochen reden. Klaus hat innerhalb weniger Minuten Kopfschmerzen. Ganz allen steht er an die Hauswand gelehnt, weil Ramos sofort in der Menge verschwunden ist. Jemand reicht ihm ein großes Glas Fruchtsaft, das er zum Teil leert und an dem er sich festhält. Dann sieht er sie. Ungefähr drei Meter entfernt auf einem Hocker sitzend, etwas außerhalb der Feier. Sie trägt ein kurzes, dunkles Kleid, raucht eine Zigarette und hat die Beine übereinander gelegt. Sie sieht anders aus als alle Frauen, die er bisher auf Kuba gesehen hat. Er würde nicht sagen, dass sie eine Weiße ist, aber ihre Haut ist kaum dunkler als seine eigene.

Kubaner sind Bastarde, hatte ihm Ramos erklärt. Mit der Revolution war auch Schluss mit dem alten Rassismus der weißen Herrscher. Fidel wollte ja, dass es allen Kubanern gleich gut geht. Oder gleich schlecht, wie sich herausstellte. Da war kein Platz für Rassentrennung. Da haben sich die Menschen einfach so gepaart wie es ihnen die Liebe befahl: Tiefschwarze mit Tiefschwarzen oder Braunen, Braune mit Weißen und mit Rothaarigen, Weiße mit Tiefschwarzen und so weiter. Ich behaupte, es gibt keine Kubaner mehr, die eindeutig zu einer der Hautfarben zuzuordnen sind. Du wirst eben kaum Menschen finden, die ganz und gar schwarzafrikanisch aussehen, aber auch keine, von denen man annehmen könnte, sie wären durch und durch weiß. Ich weiß zum Beispiel nur, dass meine Urgroßmutter eine richtig weiße Frau war, die sogar aus Spanien stammte. Mein Großvater mütterlicherseits war dagegen schwarz wie die Nacht. Wir sind alle Mischlinge.

Klaus ist verwirrt, weil er die Fremde im dunklen Kleid ganz plötzlich und sehr stark begehrt. Er denkt fieberhaft darüber nach, wie er sich ihr nähern und sie dann überzeugen kann, mit ihm ins Bett zu gehen. Zumal die Schönheit auf dem Hocker abweisend, angeekelt auf die Menschen vor sich schaut, sehr ernsthaft, überheblich. Dann wechselt sie die Position und schlägt nu ihr rechtes über ihr linkes Bein, wobei sie sich auch ein wenig dreht. Da fällt ihr Blick auf Klaus, und ihr Lächeln ist wie ein Sonnenaufgang im Zeitraffertempo. Sie erhebt sich langsam. Er erkennt wie groß sie ist, dass sie einen perfekten Körper mit anmutigen Bewegungen hat. Sie lehnt sich neben ihn an die Wand, streckt die Hand nach seinem Glas aus und sagt, ohne ihn anzuziehen: Darf ich? Klaus blickt starr geradeaus und reicht ihr sein Getränk. Er hört wie sie am Strohhalm zieht. Sie gibt ihm das Glas zurück und fragt: Zigarette? Er nickt.

Und dann wenden sie ihre Gesichter einander zu und sind beide so verblüfft, dass dieses Bild minutenlang einfriert. Sie hält ihm die Zigarette hin, aber er greift nicht danach. Dann sagt sie: Who are you? Und er vermag ihren Akzent nicht zu identifizieren. Klaus, sagt er, my name is Klaus. Sie wird ihm auch ihren Namen genannt haben, aber weil es in seinen Ohren rauscht hat er ihn nicht verstanden. Die schöne Frau mustert sein Gesicht ausführlich und sagt dann: I like you. Er nickt und denkt, ja, du gefällst mir auch. Dann versucht er herauszufinden, ob der Geruch, der ihm in die Nase und von dort bis ins Hirn zieht, ihr Parfüm ist oder einfach der Duft ihrer Haut. Er bewundert ihre Hände, die langen, feingliedrigen Finger mit recht kurz geschnittenen Nägeln, unlackiert. Weil er meist an ihr vorbei zu Boden schaut, erkennt er, dass sie wunderschöne Füße hat, die in halbhohen Schuhen stecken, die hauptsächlich aus Bändern bestehen. Dann nimmt sie seine Hand und führt ihn an der Menschenmenge vorbei durch das Tor und über die Straße den Hügel hinauf bis zum trocknen Buschwerk, hinter dem es schattig ist, und man sie nicht sieht.

Sie zieht sich aus und macht sich an seiner Hose zu schaffen. Klaus kann an nichts anderes denken, als dass man sie hier aufstöbern könnte und wehrt sie ab. Do you not like me? fragt sie in holprigem Englisch. Doch, doch, sagt Klaus. Will you marry me, Klaus? Sie liegt vor ihm auf den Knien. Er sieht ihre nackten Brüste. You must marry me! sagt sie und greift nach seinen Hosenbeinen. Or I kill you! Er sieht das schlanke Messer in ihrer Hand. Take me from here! Take me to Germany! Understand?! Da kommt Ramos um die Ecke, stürzt sich auf die schöne Frau und reißt sie weg von Klaus. Er brüllt sie an und gibt ihr Ohrfeigen, sodass sie laut schreit und dann wimmert. Lauf, Klaus, befiehlt Ramos.

Später sitzen sie wieder im Hof. Ines heißt sie, erklärt Ramos, sie ist verrückt. Sie denkt, sie kann nicht mehr auf Kuba leben. Eine Prostituierte, spezialisiert auf Touristen. Meine Schwester Erendira kümmert sich um sie. Er blickt zu Boden. Ich hätte es wissen müssen, dass Ines so auf dich reagiert. Entschuldige, bitte. Sie wird später zurückkommen. Also kannst du nicht hier bleiben. Es gibt da ein Hotel in der Altstadt von Santiago, da kannst du übernachten. Ich bringe dich hin. Klaus nickt die ganze Zeit und wünscht sich einfach nur wieder nachhause zu kommen. Das Hotel hat vier Zimmer, die jeweils mit einem schmalen Bett und einem Stuhl möbliert sind. Im Patio gibt es einen Wasserhahn. Klaus hat zwei Dollar im Voraus bezahlt. Und dann hat er auch Ramos sein Honorar gegeben. Aber ich muss dich doch zurückfahren, hat sein Begleiter eingewandt. Nein, nein, hatte Klaus geantwortet, ich fahr mit dem Bus oder dem Zug oder einem Taxi. Ich danke dir für alles, aber ich habe genug von der Tour. Er gibt Ramos noch einen Zwanzig-Dollar-Schein und reicht ihm die Hand.

Im Eingangsbereich sitzt der Hotelier an einem Tisch, auf dem ein Telefon steht, das aber keine Schnur zu irgendeiner Dose hat. Vor ihm liegt ein aufgeschlagenes Buch. Der Kerl ist dick und schlecht rasiert. Zwei Radios spielen gleichzeitig verschiedene Sender. Hinter ihm steht ein antiker Kühlschrank an der Wand; die Tür ist mit einer ausführlichen Preisliste dekoriert. Der Mann erklärt Klaus den Getränkeverkauf. Weil er spanisch spricht, kann er sich nur zusammenreimen, was zu tun ist. Also legt er einen Dollarschein in die bereitstehende Zigarrenkiste, macht dann vier Striche auf der Preisliste und entnimmt die gewünschten Bierflaschen. Er scheint alles richtig gemacht zu haben, denn der Hotelbesitzer nickt zustimmend. In der Nacht hat er einen langen Albtraum in Farbe und 3D. Immer wieder gerät er in Menschenmengen, die ausschließlich aus schönen, dunkelhäutigen Frauen bestehen, die ihn von allen Seiten begrabschen. Manchmal kann er fliehen, ein paar Mal zieht ihn die Meute nackt aus, und in der schrecklichsten Sequenz reiten sie auf ihm, eine und noch eine und noch eine.

Am Busbahnhof bietet ein Verkaufsstand Kaffee und gefüllte Hörnchen an. Er kauft also Frühstück und setzt sich auf eine Bank. Von hier aus, das hat ihm Ramos erklärt, fährt ein Bus durchgehend bis Cárdenas. Der wird knapp zwölf Stunden brauchen, dafür kostete die Fahrt umgerechnet nicht einmal drei Dollar. Es ist kurz vor sieben. Die Sonne ist er vor einer knappen Stunde aufgegangen, und der Wind hat kühle Luft vom Meer in die Stadt gebracht. Der Bus, der gegen halb acht losfahren soll, ist noch nicht da. Klaus döst ein. Als er wieder aufwacht, sitzt eine Frau neben ihm, die seine Zwillingsschwester sein könnte. Dieselbe Hautfarbe, dieselbe Haarfarbe, ein fein geschnittenes Gesicht mit einer kleinen Nase. Hi, sagt sie, my name ist Meike. Und hält ihm die Hand hin. Ich bin der Klaus, sagt er. Oh, gibt Meike zurück, auch aus Österreich? Oder Deutschland? Er nickt. Wo gibt es denn Frühstück, fragt sie. Und Klaus deutet auf die Häuserecke in die Richtung, wo der Verkaufswagen steht. Soll ich dir etwas mitbringen? Klaus schüttelt den Kopf und wird dabei langsam wieder wach.

Dann sitzen sie nebeneinander in der letzten Reihe im Bus, der fast bis auf den letzten Platz ausgebucht ist. Es geht über eine Autobahn Richtung Norden. Meike hat berichtet. Dass sie auf einem Kreuzfahrtschiff gearbeitet hat. Dass es Ärger mit dem Hotelmanager gab. Dass sie gekündigt hat und man sie in Santiago von Bord gejagt hat. Ihr Gepäck sei noch auf dem Schiff, sie habe nur eine kleine Reisetasche mit dem Nötigsten mitnehmen dürfen. Immerhin habe man ihr den gesamten Lohn ausgezahlt, der ihr zustand, und dazu ein Voucher für ein Flugticket zurück nach Frankfurt. Allerdings vom Flughafen Matanzas aus, also Varadero. Und deshalb sitze sie jetzt hier im Bus. Klaus mag nicht von den Abenteuern der vergangenen Tage berichten, es wäre ihm peinlich, einer fremden Frau von den sexuellen Ereignissen zu erzählen. Also sagt er nur, er sei im Urlaub auf Kuba, in einem Ressort auf Varadero, und habe einen mehrtägigen Ausflug auf eigene Faust gemacht. Ober denn Spanisch spräche, will Meike wissen. Nein, das nicht, aber ich hatte einen Guide.

Die Autobahn endet abrupt und geht in eine staubige Piste über. Eine Stunde lang holpert der Bus über eine schmale, löchrige Fahrbahn, während aus dem Lautsprecher ununterbrochen die neusten Reggaeton-Schlager dröhnen. Viele Fahrgäste rauchen ihre Zigarren, deshalb sind alle Fenster, die sich überhaupt öffnen lassen, geöffnet, und der Staub zieht ungehindert hinein. Eine Frau, die so dick ist, dass sie gleich drei Sitze nebeneinander in Anspruch nimmt, verkauft Wasserflaschen aus einer Kühlbox. Meike und Klaus teilen sich eine Literflasche. Dann schläft sie ein und sinkt zur Seite, sodass ihr Kopf in seinem Schoß landet. Es fühlt sich richtig an, und irgendwann beginnt er unwillkürlich, ihr über das helle, seidige Haar zu streicheln. Ganz plötzlich versteht er, dass dies genau eine der möglichen Situationen ist, nach denen er sich immer gesehnt hat, ohne sie beschreiben zu können: der Kopf seiner schlafenden Gefährtin auf seinem Schoß.

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