Als sie die Stelle im Park gefunden hatte, der Zaun kaum zehn Metern von den Ferngleisen entfernt, stellte sie fest, dass der ICE schreit, wenn er vorbeifährt. Ein völlig anderes Geräusch als ein IC mit Lok vorne oder ein Regionalexpress oder gar die S-Bahn. Ein hoher Schrei, der ankommt, wenn der Zug ins Blickfeld gerät, dann anhält bis zum letzten Waggon. Kein Schmerzensschrei, sondern ein selbstbewusstes Geräusch wie ein Tier, das so sein Revier markiert. Dann kam sie öfters hierher, wusste nach einiger Zeit ungefähr, wann ein Express vorbei raste. Sie fuhr gern mit der Eisenbahn, schon seit Kindheitstagen. Liebte Bahnhöfe, und Opa nahm sie manchmal sonntags mit. Dann lösten sie an der Sperre Bahnsteigkarten für zehn Pfennige und marschierten wie selbstverständlich zu den Gleisen 11 und 12, wo der TEE mit laufender Dieselmaschine auf seine Abfahrt wartete und die feinen Leute einstiegen, um über Köln den Rhein entlang, ander Loreley vorbei in ferne Länder zu reisen. Ein paar Mal war sie mit den Eltern nach Bocholt gefahren, wo Vater einen Kriegskameraden besuchte. Die Strecke wurde von einer Dampflok bedient, die drei oder vier Waggons schleppte. Der Rhythmus, mit dem der Dampf aus dem Schlot gestoßen wurde, vom Wind gedrückt, sich auflösend an den Fenstern vorbeizog. Der Rhythmus der Schienestöße, das Pfeifen der Lok an den vielen Bahnübergängen. Und dann das Ablassen des Dampfes im Bahnhof wie ein Ausatmen. Später dann das Brummen des Schienenbusses, der die nicht elektrifizierten Strecke übernahm und einen ganzen anderen Gerucht trug.
Natürlich hatte die Familie in den Fünfzigerjahren kein Auto, wer hatte schon ein Auto? Aber reiselustig waren die Eltern. Also fuhr man mit der Eisenbahn oder mit dem Reisebus. Sie war elf oder zwölf als sie mit einem Ferienzug nach Travemünde reisten, ein ganzer D-Zug voller Familien mit vielen Kindern, die meisten konnten sich die Reise nur wegen der Zuschüsse leisten, die Stadt und Land leisteten. Der Sonderzug war in Köln losgefahren, sie stiegen in Düsseldorf zu, und dann hielt man nur noch einmal in Dortmund. Die Menschen, die dort zustiegen, sahen alle sehr müde aus, obwohl sie doch viel länger hatten schlafen können. Die Kinder liefen hin und her, tobten herum, ärgerten die Schaffner und das Begleitpersonal. Fanden das Abteil der Eltern nicht mehr, bekamen es mit der Angst und fingen an zu weinen. Bis die Reiseleiterinnen sie aufgriffen, die umgehängten Pappkarten entzifferten und die verlorenen Blagen wieder bei ihren Erzeugern ablieferten. Dann hatte Vati im Lotto gewonnen und gab den größten Teil des Gewinns für eine Urlaubsreise an die Adria aus. Mit dem Nachtzug reisten sie, zu fünft im Liegewagen. Der Vater verwandelte die Sitze im Nu in Liegen, und sie wählte die oberste Etage als Schlafplatz. Von dort aus konnten sie den halben Mond im Fensterschlitz sehen. Schlief nicht eine Sekunden, sondern lauschte auf das gleichmäßige Geräusch des Eilzugs, der mit mäßiger Geschwindigkeit durch schlafende Städte fuhr, durch menschenleere Landschaften, und im Morgengrauen sah sie die ersten schneebedeckten Alpengipfel. In Bologna mussten sie umsteigen in einen italienischen Bummelzug, was Vati wieder gelassen meisterte. Angesichts der Diesellok, die aussah wie ein schlecht gepflegter Gebrauchtwagen, ließ er eine abschätzige Bemerkung über die Italiener und ihre Rolle im Krieg fallen.
Für die knapp 150 Kilometer von Bologna nach Venedig brauchten sie fast so lange wie für die Fahrt über die Berge. Der Zug hielt sicher dreißig Mal, und nicht immer an einem Bahnhof. Der Waggon war erfüllt vom pausenlosen lauten Reden der Fahrgäste, die zudem alle ununterbrochen aßen oder tranken. Im Schritttempo überquerte der Zug den Damm von Mestre nach Venedig, und am Bahnhof wurden sie von einem livrierten Mitarbeiter des Hotels in Empfang genommen, der sich ums Gepäck kümmerte und sie zu einem Motorboot führte, das sie durch den Canale Grande und ein paar kleiner Kanäle zu ihrer Herberge brachte. Sie liefen drei Tage lang durch die Stadt voller Wasser, und sie langweilte sich schrecklich. In Rimini, wo die Sommerfrische stattfinden sollte, langweilte sie sich noch mehr. Zumal ständig braune italienische Jungs hinter ihr her waren, sie von allen Seiten ansprachen, nach ihr grabschten und sich laut kurze Sätze zuwarfen, die vielleicht böse waren. Nach Rom fuhren sie dann mit dem Bus, und allen wurde furchtbar schlecht auf den kurvigen Bergstraßen. Aber der Hauptbahnhof entschädigte für vieles. In diesem halbverfallenen Gebäude, das noch alle Spuren des Krieges trug, waren mehr Leute unterwegs als alle Züge Italienes fassen könnten. Hier kamen die Römer nicht etwas hin, um irgendwo hin zu fahren oder jemanden abzuholen, hier kamen sie hin, weil es hier alles gab. Hunderte Händler boten alle möglichen sachen an; meist lag die Ware auf einer Decke, während der Verkäufer an einer Säule lehnte. Und dann kam die Streife vorbei, und die Männer rafften ihr Zeug zusammen und verschwanden. Für ein paar Minuten, denn sobald die Carabinieri vorbei waren, bauten sie wieder auf.
Natürlich war sie eine der ersten, die sich ein Interrail-Ticket beschafften. Und im Sommer 1973 ware sie zwei Monate unterwegs. Bis nach Marokko schafft sie es, und dann quer von Spanien aus über Italien bis nach Griechenland. Und weil sie noch Zeit hat, bricht sie ein zweites Mal auf und fährt in einem Rutsch bis nach Bergen. Eigentlich verlässt sie den Zug kaum jemals, geht nur dann in den jeweiligen Ort, wenn sie genug Aufenthalt hat. Manchmal bleibt sie einfach im Bahnhof, weil es im Bahnhof immer etwas zu essen und zu trinken gibt. Lernt Dutzende anderer Interrailer kennen, schließt sich aber nie an, so wie sie ja auch zuhause nie Teil einer Clique ist und überhaupt niemanden hat, den sie Freundin oder Freund nennt. Das bleibt auch während des Studiums so. An den Wochenenden fährt sie die 600 Kilometer nachhause, Vati hat ihr einen Dauerfahrschein für die Strecke geschenkt. Nach drei Semestern kennt sie die Leute, die ebenfalls an fast jedem Wochenende dieselbe Strecke fahren. Man grüßt sich, und im sechsten Semester hat sich ein kleiner Club von fünf Studenten, drei junge Frauen, zwei Kerle, gebildet, der meisten gemeinsam reist und sich schon frühzeitig am Bahnhof-Zoo trifft, um gemeinsam einen Kaffee oder einen Wein zu trinken und sich gegenseitig zu erzählen, wie die Woche war und was man daheim am Wochenende zu unternehmen gedenke.
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Trostlos, trostlos. Ein trostloser Ort. Albert überquert den Busbahnhof, sieben Haltestellen, diese neumodischen Fernbusse und die Busse des öffentlichen Personennahverkehrs machen Jagd auf ihn. Ein giftgrüner Bus hupt ihn an, blendet ihn mit den Scheinwerfern, und er kann nur knapp ausweichen. Dabei will er nur zu diesem kleinen Döner-Laden am Fuss des Einkaufszentrums, dem einzigen Imbiss im ganzen Koloss, in dem es etwas Genießbares gibt. Ein paar Mal war er schon hereingefallen. Selbst in der Filiale der Burger-Kette war das Essen schlechter als sonst überall in den anderen Niederlassungen. Eine Schnellpizzeria hatte er gleich gemieden, weil sie stank. Und dann hatte er es auch bei einem Schnellrestaurant probiert, das eine bunte Palette an Fastfood anbot. Die lauwarme Wurst schwamm in der ekligsten Currysoße, die er sich nur vorstellen konnte. Und selbst die Fritten hatte der lustlose Typ hinter der Theke versaut. Nur beim Türken unten, direkt am Busbahnhof, da gab es gut gewürztes Fleisch und knackige Salate im Brot. Dort fanden sich die Busfahrer ein und die Taxichauffeure, dort musste das Essen ordentlich sein.
Nach der Mahlzeit und dem Gratistee dazu geht er außen herum, um zur Passage zu kommen, mit der man eine Schnellstraßenschneise überbrückt hat und die irgendetwas mit“Rialto“ heißt. Es dämmert, und vermutlich malt der Himmel sich im Westen schön an, aber durch die dreckigen Dachfenster der Passage kommt nur das immergleiche fahle Licht, das Albert auch im Winter schon erlebt hat. Die Boutiquen mit den billigen Klamotten haben schon geschlossen, ein Goldaufkäufer lässt gerade die Stahlrolläden herunter, und verzweifelte Einwohner schleichen an ihm vorbei als seien sie Lemminge auf dem Weg zur Klippe. Genau an der Ecke, an der die Ladenstraße rechtwinklig abbiegt, in einer winzigen Kneipe, die vier Personen an der Theke und weitere sechs an den Tischen fasst, hocken zwei ältere Männer in grau-grünen Jacken vor Bier- und Schnapsgläsern. Drei Jungs rasen auf ihren Skateboards vorbei, einer hat das Smartphone auf laut gestellt, eine Wolke bösartiger Rap-Musik zieht an Albert vorbei. sodass es ihn ekelt. Selbst das Rathaus der Stadt ist ein Einkaufszentrum, ein runder Bau, der aussieht wie die gestrandete Raumstation einer weniger intelligenten Lebensform. Hier sind Putzkolonnen unterwegs und Personal, das die Osterdekoration abnimmt.
In einem Seitenarm des Gängesystems steigt er drei Stufen hinauf und dann durch die Drehtür, die als Notausgang gekennzeichnet ist. Er steht auf einer Plattform, von der eine schmale, absurd geschwungener Steig abgeht, der sich etwa zwanzig Meter entfernt mit seinem Zwilling vereint, und Albert weiß, dass sie dieses ing „Y-Brücke“ nennen. Die führt zu einem lichtlosen Betonplateau mit Begleitgrün und steinernen Bänken, auf denen sich die Flaschenbiertrinken versammelt haben. Das Konzertgebäude ist flach und war früher weiß, hat sich aber der vorherrschenden Farbe, einem leicht grünlich mellierten Grau, angepasst. Würdelose Waschbetonpaneele gliedern die Front. Allein das warme Licht, das aus dem Foyer durch die gläsernen Eingangstüren dringt, macht Hoffnung. Und Albert weiß, dass diese Hoffnung ihn nicht trügen wird, denn die Musik, die auf ihn wartet, die bietet ihm Trost in seiner ausweglosen Lage.