Es war das letzte Haus in der äußersten Siedlung im Vorort der Kleinstadt, unmittelbar angrenzend an die Felder und Weiden der Großbauern, deren Höfe jenseits des Waldstücks lagen, auf das wir aus dem Küchenfenster und dem Bad blickten. Die Straße war bis zur Garagenauffahrt asphaltiert und ging dann zunächst in eine Schotterstrecke und zwanzig, dreißig Meter weiter in einen Feldweg über, der in sanften Bögen zwischen den Äckern zum Busch führte und dort ohne besonderen Grund endete. Gästen, die mit dem Auto anreisten, sagte der Vater immer, sie sollten bedenken, dass man vor unserem Haus nicht wenden könne. Den Garten hatte er mit einem außergewöhnlich hohen Zaun umgeben lassen, und es kam mir immer so vor, als habe er das nicht getan, um unser Grundstück zu schützen, sondern um eine deutliche Grenze zwischen der Zivilisation und der aus seiner Sicht rauen Wildnis zu markieren, denn er war Zeit seines Lebens ein sehr urbaner Mensch.
Schon der Umzug aus der Metropole in die Heimatstadt der Mutter hatte ihn geschmerzt. Dass sie dann aber ausgerechnet dieses Eigenheim am Rande der Welt als Familiendomizil erwählt hatte, hat er ihr nie verziehen. Zumal er zwar einen Führerschein besaß, aber nur sehr ungern mit dem Auto fuhr, seine Arbeitsstelle, die er in all den Jahren nie wechselte, sich aber am anderen Ende des Ortes befand, der sich mit Stolz Kreisstadt nannte, aber durch und durch bäuerlich geprägt war. Also ging er morgens meistens zu Fuß zur einzigen Haltestelle der Siedlung, beinahe anderthalb Kilometer von unserer Adresse entfernt, nahm dann den Bus, der wochentags zwischen sechs Uhr in der Früh und neun Uhr abends bis zum Marktplatz fuhr, wo er dann eine Viertelstunde auf die Linie warten musste, die ins Industriegebiet fuhr, das man in den Sechzigerjahren ausgewiesen hatte. Hier tat er insgesamt zweiunddreißig Jahre Dienst als Buchhalter einer Landmaschinenfabrik, ja, er sprach immer vom Dienst, nicht von der Arbeit oder gar vom Job und war froh, für den Betrieb beinahe unersetzlich zu sein.
Der Familien-VW stand tagsüber in der Einfahrt, und Mutter nutzte ihn höchstens drei- oder viermal die Woche, um in die Stadt zu fahren und dort Einkäufe zu machen oder Besorgungen zu erledigen. Nie kauften die Eltern das Auto eines anderen Herstellers, und der jeweilige Wagen wurde intensiv gepflegt, um, so drückte Vater es aus, den Wiederverkaufswert hoch zu halten. Wer nun denkt, dass es bei uns durchweg spießig aussah und zuging, irrt. Die seltenen Besucher, die nicht Verwandte der Mutter waren, nahmen die moderne Einrichtung meist mit sichtbarem Erstaunen zur Kenntnis; waren wir in den Sechziger- und Siebzigerjahren noch im Stil der neuen Sachlichkeit möbliert, waren es später hochwertige Stücke von bekannten italienischen, deutschen und amerikanischen Designern. Und dies nicht nur im Wohnzimmer und im Schlafzimmer der Eltern, sondern in allen Räumen, auch im Zimmer meines älteren Bruders und bei mir. Natürlich hielten wir Zeitschriften wie Schöner Wohnen im Abo, und ein paar Mal fuhren Vater und Mutter nur deswegen in die nächstgelegene Großstadt, um nach besonderem Mobiliar Ausschau zu halten.
Schließlich stammte die Mutter zwar aus dieser unbedeutenden Kleinstadt inmitten einer weiten, landwirtschaftlichen Wüste, aber sie war ja die Tochter von Otto A., einem weltweit bekannten Architekten, der seinen Kinder von klein auf das eingebläut hatte, was er einen guten Geschmack nannte – wenn er anwesend war, was insgesamt nicht oft der Fall war. Der offiziellen Biografie dieses Großvaters habe ich entnommen, dass er insgesamt neun Kinder von drei Frauen hatte, zwei davon gleichzeitig. Ob es sein schlechtes Gewissen war oder doch eine Art Familiensinn: Jedem seiner Kinder ließ er ein Haus nach seinen Plänen bauen, und Mutter war die einzige, die weiter in der Kleinstadt leben wollte, die sich mit seinem Namen rühmte. Dem entsprechend sah unser Haus auch nicht aus wie die anderen, sondern war das, was Experten einen anderthalbstöckigen Split-Level-Bungalow nennen.
Für die Kinder der Bauern von jenseits des Waldes muss unser Haus merkwürdig gewirkt haben, war ihre Vorstellung doch, dass ein Wohngebäude einen rechteckigen Grundriss hat, zwei Stockwerke, darüber den Dachboden und natürlich richtige Giebel, einen Dachstuhl, der mit glasierten Pfannen oder höchstens Reet oder Wellblech gedeckt ist. Nichts davon hatte unser Bungalow, und besonders aus Richtung der Felder sah er aus, als habe jemand mit Legosteinen gespielt, manche davon backsteinrot, andere kachelweiß und eine dritte Sorte in einer Farbe, die Mutter Ocker nannte. Was die fremden Kinder von unserer Schwimmhalle hielten, die in einen Pool draußen im Garten mündete, habe ich nie erfahren. Wir hatten aber auch anderes zu tun, als über die Eigenarten des Hauses zu diskutieren. Denn tatsächlich zog es mich, dass piekfeine Mädchen aus einer der besseren Familien, schon zu Grundschulzeiten eher zu den Nachkommen der Landwirte hin, die das Land in unserer Gegend schon seit Hunderte von Jahren beackerten, als zu den dumpfen Kleinstadtspießersprößlingen.
Im Frühling und im Sommer rannte ich, sobald die Hausaufgaben fertig waren und die Mutter mich entließ, hinaus auf den Weg, bis zu den ersten Buchen, und dann hindurch, einen schmalen, weichen Pfad zwischen den alten Stämmen, durch deren Blätterdach die Sonne Muster auf den Waldboden malte. Entweder traf ich die Jungs dann am Lehmhügel, in den sie Kriechgänge und Höhlen gegraben hatten, oder auf einem der Höfe, wo sie Aktionen ausheckten, von denen die Mädchen und Jungen in meiner Klasse nicht die geringste Ahnung hatten. Erlaubt war alles, was den Agrarbetrieb nicht störte, und wenn sicher war, dass einer der Trecker nicht gebraucht wurde, enterte einer der Kerle den, wir anderen sprangen auf und hingen manchmal in Trauben zu acht an einem Schlepper, mit dem der jeweilige Chauffeur wilde Runden auf den Freiflächen zwischen den Stallungen drehte. Natürlich wurden wir vom Bauern oder der Bäuerin, manchmal auch von den Knechten in die tägliche Arbeit eingebunden – sei es im Stall bei den Kälbern oder Schweinen, sei es draußen auf irgendeinem Feld, wo beim Ackern. Säen oder Ernten zu helfen war.
Torsten war wild und ernsthaft. So wild wie die meisten Bauernkinder, ernsthaft wie jemand, der weiß, dass er früh Verantwortung übernehmen, dass er das Erbe antreten und den Hof, der seit über sechshundert Jahren der Familie gehört, wird weiterführen müssen. Zwei Jahre älter war er als ich, und schon als ich noch Zöpfe trug, zog mich etwas zu ihm hin. Vielleicht, weil er anfangs der einzige aus der Bande war, der mich akzeptierte, der mich mitmachen ließ und mich gegen die anderen verteidigte, wenn die mich als Zicke aus dem Bauklötzchenhaus beschimpften. Denn für diese Jungs stand unser Haus für all das, was sie ablehnten, dieses Städtertum, diesen Wunsch, etwas Besonderes zu sein, diese Arroganz der Gymnasiasten und ihrer schwächlichen Väter. Torsten war es auch, der mich nachhause einlud, zum Mittagessen, in der Küche, die größer war als unser ganzes Erdgeschoss, mit einem Tisch für vierundzwanzig Erwachsene in der Mitte und dem Katzentisch für die kleineren Kinder. Hier wohnten drei Generationen unter einem Dach, und die Knechte und die Hausmädchen gehörten zur Familie.
Die Hierarchie war klar, der Bauer saß vor Kopf, am anderen Ende die Bäuerin, links und rechts von ihr die größeren Kinder, dann die Angestellten. Die Großeltern von Torsten wohnten in einem separaten, kleinen Häuschen jenseits der Stelle. Eine der Mägde hatte sie zu versorgen. Mir gefiel das, denn es strahlte Sicherheit aus, Kraft und sogar so etwas wie Zuversicht, und alles schien am richtigen Platz zu sein. Also genau das Gegenteil vom Zustand meines Elternhauses. Spätestens ab dem Sommer, in dem eines der Bauernkinder in den Ferien auf dem Hof mitzuarbeiten hatte, nahm es frag- und klaglos seine Rolle ein, die auch erst einmal nicht in Frage gestellt wurde. Natürlich, sagte Torsten, als ich ihn ein paar Jahre später darauf ansprach, gibt es immer welche, die ausbrechen wollen und das auch tun. Meine Tante Erika, zum Beispiel, der war das alles zu eng, die wollte in die weite Welt. Aber, die passte auch nicht auf den Hof. Also ließ man sie ziehen. Nach Paris ging sie als Au-pair-Mädchen. Dann Amerika, Spanien und Italien. Lernte die Sprache und besuchte dann in Dortmund die Handelsschule. Machte Karriere. Und doch: Je älter sie wurde, desto öfter kam sie auf Besuch. Und jetzt hieß es: Die Erika, die hat genug von der Stadt, die kommt zurück.
Da dachte ich: Vielleicht bin ich die umgekehrte Erika. Mir gefiel es jenseits des Waldes besser als in unserer Siedlung. Und als ich gerade fünfzehn geworden war, fragte ich Torsten, wie denn jemand wie ich auf den Bauernhof käme. Wir hockten auf der Lichtung oben am Kamm des Hügels in der Herbstsonne, und er sah mich mit mildem Spott an. Du kannst ja Magd werden, da musst du nicht einmal was Besonderes lernen. Oder machst eine landwirtschaftliche Lehre oder studierst Agrarökonomie. Am einfachsten wär es, wenn du einen Bauern heiratest. Er steckte einen imaginären Ehering auf seinen linken Ringfinger. Vermutlich war ich da schon ein wenig verliebt in ihn. Wobei mich sexuelle Dinge noch nicht so recht interessierten. Oder ich nicht genau wusste, was die Hormone da in mir trieben. Wir wären aber in jenen Jahren wahrscheinlich auch dann unzertrennlich gewesen, wäre er nicht ein Junge und ich kein Mädchen. Das änderte sich genau ein Jahr später.
Mein Bruder hatte sein Studium in München begonnen, meine Mutter hatte eine Halbtagsstelle bei einem befreundeten Architektenbüro angefangen, und ich hatte das Haus nachmittags fast immer für mich allein. Einen kleinen Zoo hatte ich inzwischen zusammengestellt: Die alte Landschildkröte lebte immer noch, die Finken in der Voliere auch, die Pflege des Aquariums hatte ich übernommen, einen Kaninchenstall eingerichtet und zwei Katzen vom Bauernhof mitgebracht. Mir fehlte eigentlich nur ein Hund zu meinem Glück, und ich war fest entschlossen, Veterinärmedizin zu studieren und ein richtiger Viehdoktor zu werden. Es gab immer etwas zu tun, wenn ich mit den Hausaufgaben fertig war, und weil sich die alte Bande der Bauernjungs inzwischen aufgelöst hatte, sah ich Torsten nicht sehr oft. An einem viel zu warmen Oktobertag liefen wir uns in der Siedlung über den Weg. Man sieht dich gar nicht mehr, sagte er. Ich erzählte von meinen Tieren und dass es immer viel zu tun gäbe. Kenn ich, antwortete er, immer Last mit den Viechern. Es war nicht meine Stimme, die dann sagte: Komm mich doch mal besuchen.
Es dauerte bis in den November, einen der kältesten, den ich bis dahin erlebt hatte. Ab Sankt Martin hatte es begonnen zu schneien, der Garten sah aus als hätte jemand weiße Weihnacht bestellt. Es war herrlich, im Wintergarten in den Pool zu steigen und dann hinaus ins Freie zu schwimmen, die Arme auf den eiskalten Beckenrand zu legen und in die schneebedeckte Ebene zu schauen. Niemand konnte mich sehen, keiner ahnte, dass jemand bei diesen Temperaturen im Schwimmbecken lag. Aber das Wasser war warm, und der Gegensatz zur eiskalten Luft aufregend. Dann schellte Torsten. Was machst du so alle Tage? Ich kochte uns heißen Kakao und fand noch ein paar von Muttis selbstgebackenen Keksen. Und erzählte vom Schwimmen. Ja, sagte Torsten, darauf hätte ich auch mal Lust.
Anfang Dezember begleitete meine Mutter ihren Chef auf einer Dienstreise. Du kommst sicher allein klar, meinte sie zum Abschied. Bin doch nicht allein, sagte ich, Vati ist doch da. Na ja, gab sie zurück. Torsten kam jeden Nachmittag nach der Schule. Wir verbrachten einfach die Stunden bis mein Vater von der Arbeit kam miteinander. Manchmal kochte ich was, oft saßen wir beide da und lasen oder hörten Musik. Nicht jeden Tag gingen wir schwimmen, und nicht jeden Tag schliefen wir miteinander. Und dann hatte es wieder stark geschneit. Über dem Wasser im Außenpool stand der Dampf. Wir ließen uns treiben. Die Sonne stand flach am blauen Himmel. Ich sah den ersten Stein fliegen. Ich sah ihn aufsteigen, geschleudert von irgendwo auf dem Feldweg außerhalb unseres Grundstücks. Ich sah ihn herabfallen, sah wie er das Glasdach des Wintergartens berührte, wie sich Risse bildeten, die Scheibe sprang und die Scherben ins Wasser fielen. Dann kamen sie im Dutzend, faustgroße Brocken, die jemand mitgebracht haben musste, denn solche Steine gab es da draußen nicht. Jetzt fielen sie auf uns herab, einer traf mich an der Schulter, ein kleinerer streifte Torsten am Hinterkopf, und das Blut malte Muster ins Wasser.
An diesem Abend kam Vati nicht nachhause. Torstens Verletzung war nicht sehr schlimm. Ich schnitt ihm die blutigen Haare, rasierte den Kopf rund um die Wunde, reinigte sie und klebte ein Pflaster darauf. Tut’s weh? Geht schon, sagte er. Und: Ich muss dann. Erst jetzt begann ich zu zittern, erst jetzt wurde mir klar, was geschehen war. Ich wünschte mir, Vati wäre da, ich könnte ihm erzählen, was geschehen war, ihm das zerstörte Glasdach zeigen. Er würde nicht schimpfen, er würde mich verstehen. Aber er kam nicht nachhause. Natürlich versuchte ich ihn anzurufen, aber er war nicht erreichbar. Ich war ganz allein. Gegen Mitternacht machte ich mich auf den Weg. Der Pfad zum Wald lag im tiefen Schnee, und es war dunkel. Keine Ahnung, wie ich den Hof erreichte. Torstens Mutter öffnete, ließ mich aber nicht herein, sondern rief nur in die Küche: Torsten, da ist jemand für dich. Es dauerte eine Weile. Ich fror, meine Füße waren nass und kalt. Dann stand er in der Tür: Was willst du? Mein Vater ist verschwunden. Na und? Was hab ich damit zu tun? sagte er und schloss die Tür.
Ich verbrachte die Nacht in der Scheune oben auf dem Heuboden, wo wir im Herbst so oft zusammen gelegen hatten, geredet, uns geküsst und gestreichelt. Mit dem ersten Licht brach ich auf. Es wurde ein strahlender Morgen, und das Licht auf dem Schnee blendete mich. Vati war immer noch nicht zu erreichen. Also rief ich meine Mutter an, um zu berichten, dass Vater nicht heimgekommen war. Hast du die Polizei verständigt? fragte sie als erstes. Ich begann zu weinen: Bitte komm du wenigstens nachhause, schnell. Mutter schwieg eine Weile. Dann: Das geht nicht. Soll ich die Polizei anrufen? Ich will keine Polizei, schrie ich ins Handy, ich will nicht allein sein. Ich hörte sie atmen. Frühestens morgen kann ich zurück sein. Reiß dich zusammen, hörst du? Oder ruf Erika an, vielleicht ist die schneller bei dir.
Mein Vater kam nie mehr zurück. Noch in diesem Winter erreichte uns über den Familienanwalt ein Brief. Er habe genug von allem, er könne so nicht leben. Er habe seinen Abschied über Jahre vorbereitet, und nun sei er endlich wieder in einer richtigen, großen Stadt, habe bereits eine Wohnung und einen Job. Er habe niemanden eingeweiht. Nach ihm zu forschen, sei sinnlos, er habe sein Aussehen verändert und einen anderen Namen angenommen. Wir seien ja bestens versorgt, da mache er sich keine Sorgen. Mutter hatte das Schreiben vorgelesen, ohne jede Regung. Das habe ich geahnt, sagte sie und nahm ihre Lesebrille ab. Und, fragte ich, was machen wir jetzt? Weiterleben, sagte sie, einfach weiterleben. Und das taten wir dann auch. Nur mein Leben das änderte sich dann doch. Mit achtzehn zog ich zu Erika in die Stadt. Torsten sah ich nie wieder. Aber ich nehme an, dass er längst Großbauer auf dem Hof seiner Vorfahren geworden ist und eine ordentliche Landfrau geheiratet hat.