Stell dir einen Bären im blauen Monteursoverall vor. Nur ohne niedliche Knopfaugen, ohne Lacknäschen und ohne pelzige Puschelohren. Stattdessen setz einen gewaltigen Schädel drauf. Mit meerblauen Seeschlitzen, einem Wust rotblonder Haare und einem Mund, bei dem die Lippen nie ganz stillstehen. Wie auch seine Hände. Großflächig und wulstig und immer in Bewegung. Wenn er spricht, knetet er die Finger oder wedelt wie ein Dirigent. Laut seiner Musterungsakte exakt zwei Meter und acht Zentimeter groß. Damals wog er um die einhundertfünfzig Kilo, vorwiegend Muskelmasse, weil er seine Tage im Sportstudio verbrachte, während er nachts am Schlachthof arbeitete. Ich denke, Ewald hat seine Elise wirklich geliebt.
Seinen Psychofreggel nannte er sie, weil sie als Therapeutin in einer Klinik wirkte, oder einfach Hippe. Unter normalen Menschen fiel sie durch ihre Größe von mehr als einsneunzig auf, neben ihm wirkte sie eher klein. Schmal war sie, dünn, beinahe dürr, und alles an ihr schien ein wenig in die Länge gezogen. Vor allem der Kopf mit der langen Nase und dem spitzen Kinn, das sie nicht selten vorwärts reckte, wenn ihr etwas nicht gefiel. Und ihre nussbraunen Augen standen leicht schräg wie bei einem Reh oder einem anderen kuscheligen Tier. Mir hatte er erzählt, unter welchen Umständen er sie kennengelernt hatte, aber verboten, darüber zu schreiben.
Fest steht, dass ihre Hunde eine große Rolle dabei spielten, dass Ewald und Elise ein Paar wurden. Wobei sie bei der Wahl der Rassen keine Rücksicht auf die Meinung der Umwelt gelegt und offensichtlich keine Angst davor hatten, Klischees zu bedienen. Hänschen war ein Doggenmix, nicht sehr groß, aber mit einem gefährlichen Gesichtsausdruck, und seinem Herrchen völlig hörig. Natürlich lief er ohne Leine, ja, ohne Halsband durch die Stadt, dann immer dicht am linken Unterschenkel seines Gebieters. Stöberte er im Park oder im Wald herum, reichte ein geflüstertes „Hans zu mir“, um den Hund sofort zu sich zu holen. Das genaue Gegenteil bildeten die drei Whippets, die Elise Alpha, Beta und Gamma getauft hatte, drei Windhündinnen, die sich selbst gut genug waren und auf Befehle nur selten reagierten. Allerdings hatte sie sich Hänschen als Vorbild auserkoren, und wenn der gerufen wurde, standen sie in Sekundenschnelle auch vor Ewald und Elise.
Es war eine äußerst kalte Nacht im Januar, in der Ewald und ich durchs Kneipenviertel zogen und uns eher zufällig als systematisch betranken. Wir landeten mit einer Flasche Wodka, von der wir beide nicht mehr wussten, woher sie stammte, auf einer Parkbank. In jenen Monaten war mir aus verschiedenen Gründen jede Orientierung abhandengekommen. Fast alle Freunde hatte ich auf diese oder jene Weise verloren, mit der Familie hatte ich schon lange nichts mehr zu tun. Und nun dieser Dauerkonflikt mit meinem Chef. Wir waren unterwegs, weil ich Ewald um seinen Rat gebeten hatte. Dies in seiner Eigenschaft als Soldat. Es ging um etwas, das er Meuterei nannte, also den Versuch, diesen Vorgesetzten mit allen Mitteln loszuwerden. „Du könntest ihn erschießen und selbst die Macht im Laden übernehmen,“ schlug er mit schwerer Stimme vor bevor er mir die Flasche entriss und sie zur Hälfte leerte, „alles andere müsste deine standrechtliche Aburteilung zur Folge haben.“
Natürlich verstand ich, dass er ganz bewusst in militärischer Sprache ausdrückte, was in der Realität weder etwas mit Schusswaffen, noch sonst irgendeiner Form von Gewalt zu tun hätte. In Ewald hatte ich vollstes Vertrauen seit er mich von einer Frau gewarnt hatte, in die ich hoffnungslos verliebt war. Eine Internet-Bekanntschaft, die eines Tages vor meiner Tür stand mit Koffer und Rucksack und einziehen wollte. Nach der ersten Liebesnacht war ich restlos verfallen, gab ihr meine Kreditkarte, weil sie einkaufen gehen wollte, richtete meinen Tagesablauf nach ihr und war für alle anderen Effekte des Lebens unerreichbar. Wir trafen Ewald nur einmal, und wenige Stunden später rief er mich an und sagte nur: „Schmeiß sie raus. Die ist nicht gut.“ Dies selbst herauszufinden, kostete mich zwei Monate und einen mittleren fünfstelligen Betrag.
Seit diesem Ereignis wartete ich darauf mich revanchieren, also ihm einen guten Rat geben, einen Gefallen tun zu können. Und als er mich Anfang September zum Feierabend abfing und ohne weitere Erklärung sagte: „Wo steht dein Wagen? Ich will dir etwas zeigen.“ folgte ich ihm ohne zu fragen. Hänschen saß auf der Rückbank, und Ewald wies mir den Weg. Es ging aus der Stadt, über die Vororte hinaus bis in die hügelige Gegend der Reitställe und Golfplätze. Am Anfang eines Waldwegs ließ er mich anhalten. Wir parkten das Auto, und er ging vor, zunächst auf einem Wanderpfad, immer hügelaufwärts, dann durchs lichte Gebüsch und bis an eine Lichtung vor der ein steiler Hang ins Tal führte. In einem oder anderthalb Kilometern Entfernung erkannte ich eine weitere Erhebung, bebaut mit einer Reihe kleinerer Häuser und einer Villa auf halber Höhe.
Am Waldesrand standen zwei Stative. Auf dem einen war ein starkes Fernglas befestigt, das andere trug ein Gewehr mit Zielfernrohr, beides ausgerichtet auf den benachbarten Hügel. „Da drüben wohnt sie,“ sagte Ewald. „Guck hier durch,“ befahl er und schob mich zum Feldstecher. „Aber nicht verschieben!“ Ich sah eines der Häuschen, eines mit weißen Wänden und griechisch-blauen Fensterläden. Davor ein bunter Garten. Genau im Blickfeld die Terrasse mit bodenhohen Fenstern, durch die man ins Innere sehen konnte. Zuerst erkannte ich die Windhunde, die auf dem Teppich lagerten, dann Elise an einem Holztisch, das Notebook vor sich. Ich wandte mich zu Ewald um, über dessen Gesicht wilde Gewitterstürme zogen, während die Pranken in verschiedenen Richtungen um ihn herumflogen. „Sie hat mich verlassen!“ brüllte er, „ist abgehauen! Will mich nicht mehr! Wie kann sie das tun!“
Er trat an das Gewehr, machte ein paar Atemübungen und setzte sich auf einen Schemel dahinter. Vorsichtig näherte er sich mit dem linken Auge dem Okular. Dann drehte er mit der linken Hand an einer Stellschraube, während sein rechter Zeigefinger den Abzug berührte. Irgendwo klopfte ein Kuckuck, es raschelte im Unterholz, und Hänschen schnaufte im Schlaf. „Ewald,“ sagte ich, „das kannst du nicht tun. Du kannst sie doch nicht einfach abknallen.“ Er ließ die Waffe los und lehnte sich zurück. „Doch,“ sagte er ruhig, „das könnte ich. Dafür bin ich ausgebildet und dazu habe ich das Recht. Ich könnte sie abschießen, und niemand würde je herausfinden, dass ich der Schütze war. Und weißt du warum? Weil ich keine Spuren hinterlasse und keine Zeugen.“ Ein ungute Stille stellte sich ein.
Er stand auf, und ich sah, dass er geweint hatte. Ewald kam auf mich zu, nahm mich in die Arme und hob mich hoch. „Keine Angst, Kleiner, es passiert nichts. Ich könnte sie töten. Und ich hatte in den letzten Wochen schon ein Dutzend Mal die Gelegenheit dazu. Dann komme ich frühmorgens hierher, baue meinen Kram auf und warte. Wenn sie aus der Klinik nachhause kommt, dann fange ich an. Irgendwann ist dann ihr Herz genau im Fadenkreuz. Dann könnte ich abdrücken. Ich würde treffen, ich würde sicher treffen. Und dann wäre sie tot. Aber ich tue es nicht.“ Schweigend packten wir zusammen und trugen die Sachen zu meinem Wagen. Dann brachte ich Ewald und Hänschen zu dem leerstehenden Laden, in dem er damals hauste. Ich stellte den Motor ab, wandte mich zu ihm um und fragte: „Wie lange soll das denn gehen?“ Er fuhr sich mit den Händen durch die Mähne, betrachtete dann seine Fingerspitzen und sagte sehr leise: „Bis ich sie nicht mehr hasse.“