Getrennte Wege (Schluss)

Wir haben es in diesen zwei Tagen und drei Nächten elfmal miteinander getrieben. Ich würde mich an diese Zahl weder erinnern, noch sie erwähnen, hätte sie nicht mitgezählt und für jedes Mal eine Kerbe in den alten Esstisch geschnitzt. Außerdem löste die Zahl Elf bei ihr eine Fülle fröhlicher Anspielungen an den rheinischen Karneval aus, die ich nicht so ganz teilen konnte, weil mich das sogenannte Winterbrauchtum nie besonders interessiert hatte. Es muss das neunte oder zehnte Mal gewesen sein, nach dem sie unten auf unserem Matratzenlager im Wohnbereich lag und ich sie von der Empore aus betrachtete. Sie schlief, und ihr Gesicht hatte sich völlig verändert. Es schien, als habe sie im Schlaf die Kontrolle über sich verloren. Wie ein ganz kleines Mädchen sah sie aus. Hätte nur noch gefehlt, dass sie am Daumen lutschte.

Am ersten Tag nach der ersten Nacht haben wir das Haus nicht verlassen. Wir vögelten, wir aßen und tranken und zwischendurch alberten wir herum, erzählten uns dummes Zeug und schliefen in den Pausen. Spätabends standen wir nackt am Herd und kochten gemeinsam ein Mahl aus Lebensmitteln, die nicht zusammenpassten. Wir probierten alle Betten im Haus, alle Tische und bauten uns zusätzlich ein Lager zwischen dem Sofa und dem Kamin. Die Heizung lief auf Hochtouren, sodass wir ständig erhitzt waren und ab und an einer von uns unter die Dusche ging. Es war perfekt. Und es verpflichtete zu nichts.

Der zweite Tag begrüßte uns in aller Frühe mit einem wolkenlosen Himmel. Wir aßen schüsselweise Rührei zum Frühstück; ich trank einen starken Kaffee und sie blieb bei ihrem englischen Tee mit Milch. Dann machten wir uns auf eine Wanderung rund um den Wald. Wir durchquerten den Bauernhof zu Fuß, und Ann machte unanständige Gesten in Richtung der Fenster, in denen sich die Gardinen bewegten. “Sie mögen mich nicht. Sie reden nicht mit mir. Sie haben Angst vor mir. Und seitdem ich vor etlichen Jahren den grenzdebilen Hoferben habe abblitzen lassen, wünschen sie mir die Pest an den Hals. Aber was sollen sie tun? Gut ein Drittel von dem Land, das sie bewirtschaften, gehört meiner Familie. Kündigen wir die Pacht, können sie dichtmachen. Also ertragen sie es, dass ich gelegentlich hierher kommen.” “Kommst du denn oft her? Allein?” Sie blieb ruckartig stehen und sah mir direkt in die Augen mit einem stahlblauen Blick: “Geht dich das was an?”

Mehr als drei Stunden waren wir unterwegs, und ich stellte schon nach der Hälfte des Weges fest, dass meine Schuhe für derlei Aktivitäten nicht geeignet waren. Ann hatte dagegen optimale Wanderschuhe an und schritt gleichmäßig und kräftig aus. Dann begann sie zu erzählen. Vor allem von ihrem Bruder, den sie den schönsten Mann der Welt nannte. Mit dem sie etwas Besonderes verbinde. Zum Beispiel die Gedankenübertragung rund um den halben Globus. Sie sei in Arizona gewesen als H. bei der Arbeit vom Gerüst gestürzt sei und sich schwer verletzt habe. Wie sich später herausstellte, habe sie exakt in dem Moment des Unfalls einen stechenden Schmerz im rechten Unterschenkel verspürt. Das habe sie so auch in ihr Tagebuch geschrieben. Tatsächlich habe sich ihr Besterbruder – so sprach sie von ihm – das rechte Bein gebrochen.

Ich schwieg, und sie konnte gar nicht mehr aufhören mit Anekdoten über den Bruder und sie. Irgendwann kam mir der Verdacht, es müsse sich um mehr als nur Geschwisterliebe handeln. Tatsächlich häuften sich Geschichten, die man auch sexuell hätte interpretieren können. Dann sagte sie: “Und irgendwann werden wir heiraten und Kinder kriegen.” Hielt an, drehte sich zu mir um und schien sehr erschrocken zu sein. “Vergiss das. Vergiss das, bitte,” sagte sie. Als wir später bei heißem Kakao mit Sahne auf der Couch saßen, fiel mir zum ersten Mal das große Familienfoto an der Wand neben dem Kamin auf. Ich erhob mich, um es aus der Nähe zu betrachten. Ann dürfte auf dem Bild etwa elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein. Sie hatte erwähnt, dass der Vater deutlich älter sei als die Mutter, die auf dem Foto wirkte wie eine Frau Mitte zwanzig. Beide Eltern sahen gut aus auf ihre Art. Der Vater ein blonder Hüne, der gewaltige Hände gefaltet im Schoss hielt, die Mutter eine typische Hippie-Schönheit der Siebziger mit langen, rotblonden Haaren, in der Mitte gescheitelt. H. schien genauso alt zu sein wie Ann, vielleicht waren sie Zwillinge. Allerdings schlug er mehr nach dem Vater, ein kräftiger Junge mit ausdrucksstarkem Gesicht, der breit lächelte.

“Tolles Foto. Ihr seid alle so schön. Und dein Bruder…” Weiter kam ich nicht. “Ich hab gesagt: Vergiss es. Okay?” zischte sie. Zu Füßen der Familie lag ein gewaltiger wolliger Hund, und ich bog ab und fragte: “Das ist aber ein toller Hund. Was ist das für eine Rasse?” Das Leuchten kehrte zurück in ihr Gesicht, und sie begann mit einem langen Vortrag über den Berg-Kangal und seinen starken, autonomen Charakter. Boss, so hieß der Hund auf dem Foto, sei ein vollwertiges Familienmitglied gewesen, seine Bedürfnisse hätten bei allen Entscheidungen eine Rolle gespielt. Im Hasenhaus sei er sogar tatsächlich Chef gewesen, die Tür habe immer offengestanden, und Boss habe kommen und gehen können wie er wollte. Sechzehn Jahre sei er alt geworden. H. und sie hätten zwei Tage am Stück geheult als er starb.

Das Gespräch über den Kangal entspannte die Lage. Ann heizte Sauna und Zuber an, und wir verbrachten den Nachmittag im Dampf und im Wasser. Ganz plötzlich schlug die Stimmung wieder um, ihr Gesicht wie ein Himmel, der sich plötzlich bewölkt. Sie sprach nicht mehr mit mir. Die nächste Runde unserer Vögelei war ein Machtkampf, der letztlich unentschieden ausging. Die Nacht verbrachten wir in getrennten Zimmern. Als ich am nächsten Morgen aufwachte und runter in den Wohnraum ging, war Ann nicht da. Ich stieg hoch zum Parkplatz. Auch der Volvo war weg. Schnell wieder runter in die Wohnküche. Auf dem Tisch, gleich da, wo sie die Kerben geschnitzt hatte, lag ein kleiner Zettel: “Hier trennen sich unsere Wege, Bello. War der richtige Zeitpunkt, aber du kannst es ja nicht lassen, die falschen Fragen zu stellen. Dein Problem. Um eins kommt dich Herr Meuser mit dem Taxi abholen. Er bringt dich nach Euskirchen. Von da aus wirst du schon nachhause kommen. Ich hätte dich lieben können. Ann.” Der Taxifahrer holte mich nicht nur ab, sondern verschloss das Haus. “Na,” fragte er beim Abfahren, “war’s denn wenigstens schön?” Er grinste mich im Rückspiegel an, erwartete aber wohl keine Antwort.

Beinahe auf den Tag genau zwölf Jahre später sah ich Ann völlig überraschend und zufällig wieder. Zwischendurch hatte ich jede Spur, die sie öffentlich hinterließ verfolgt. Tatsächlich hatte sie zwei Unterhaltungsromane veröffentlicht, auf Heilpraktikerin umgeschult und in diesen Eigenschaften ein paar TV-Auftritte absolviert. Ich hatte sogar eine Affäre mit U. ihrer besten Freundin, die ich vorsichtig aushorchte. Die wussten über das abrupte Ende meiner Beziehung zu Ann Bescheid und antwortete taktisch. Immerhin erfuhr ich, dass man bei ihr eine seltene Knochenkrankheit diagnostiziert hatte, die besonders ihre Knie betroffen hätte, dass sie deshalb zeitweise im Rollstuhl säße und schließlich zu ihrem Bruder nach Hannover gezogen sei, der sich rührend um sie kümmere. Als ich U. ein paar Jahre später zufällig beim Frechen Finnen traf, sagte sie: “Du willst sicher wissen, was mit Ann ist. Dass ich dich nicht interessieren, war mir immer klar. Sie ist vor einem Jahr nach Indien gegangen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört.”

Sie stand vor mir und hatte eine kleine Bulldogge an der Leine, ein Rüde, der sich zu meiner Galgo-Hündin hingezogen fühlte. Sie war sichtbar gealtert und von den Anstrengungen der Krankheit gezeichnet, konnte aber offensichtlich wieder gehen. “Hi, Bello,” sagte sie ernst und trat einen Schritt zurück, um mir auszuweichen. Denn ich war mit ausgebreiteten Armen auf sie zugekommen. Ich war so froh und glücklich und überfiel sie mit Fragen. So schnell, dass sie gar nicht hätte antworten können. Als ich Luft holen musste, sagte sie nur: “Bin bloß für ein paar Tage hier bei Freunden. Und dann wieder weg. Also, ciao, Bello, bis irgendwann.” Drehte sich um, der Hund folgte, und bog um die Ecke. Ich habe sie nie wiedergesehen und nie wieder auf irgendeinem Weg etwas von ihr gehört. Unsere Wege hatten sich endgültig getrennt.

Schreibe einen Kommentar