Sie will ihn malen, will ihn zeichnen, will ihn in Ton formen. Oder: bemalen, schminken, tätowieren. Denn fotografiert hat sie ihn schon. Als er beim Shooting der neuen Kollektion von Daniell alle Stücke vorführte, die Männerkleidung und die Sachen für Frauen. Was Alma nicht gefällt: sein Name. Pim… Ist das eine Abkürzung? Oder ein Spitzname? Tatsächlich heißt er Willem Erasmus Steernema-Stückinger, das hat sie mit ein wenig Recherche herausgefunden. Sohn einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters mit molukkischen Wurzeln. Jetzt sitzt er ihr schräg gegenüber in der Lounge. Man sagt über Pim, er sei nicht besonders helle, und tatsächlich scheint sein Blick hohl, abwesend. Sein Mund ist ein wenig geöffnet. Könnte sein, dass ein wenig Spucke in den Lippenwinkeln hängt. Sie beobachtet ihn genau und ahnt, dass er das mitbekommt. Nun zieht der die ausgebeulte, knielange Jacke aus grobem Strick eng um sich herum zusammen und hebt auch das zweite Bein auf die Sitzfläche. Er trägt hellblaue Ballerinas an den Füßen, in der rechten Sohle klafft ein Loch.
Die Menschen in der Modeszene mögen ihn nicht besonders, weil er nicht mit ihnen feiert, nicht einmal mit ihnen spricht. Daniell ist der einzige Mensch, den der mit einer gewissen Herzlichkeit begrüßt, mit dem er Wangenküsse tauscht. Niemand weiß, ob Daniell ein Junge ist oder ein Mädchen oder irgendetwas dazwischen. Vielleicht ist es das, was die beiden einsamen Wesen verbindet. Ohne Pim wäre Daniell nicht so schnell an die Spitze gelangt. Nach dem wahnsinnigen Hype um dessen Haute-Couture-Stücke und dem enormen kommerziellen Erfolg der letztjährigen Pret-a-Porter-Kollektion hat Daniell einen Millionen-Deal mit einem superreichen Clan aus den Emiraten abgeschlossen, der mit einem neuen Modelabel auf den Weltmarkt drängt. Alle Farben sind blass, wirken ausgewaschener, heller als Pastelltöne, wenig Karos und Streifen, keine Punkte. Die Schnitte sehr salopp, sodass Menschen jeder Körperform gut in seinen Sachen aussehen. Und als Gag haben alle Stücke auffällige, dicke Ziernähte in Kontrastfarben. Alles sehr tragbar, alles sehr lässig und dich sehr chic.
Pim hat sich in der Sofaecke nach links gedreht, sodass Alma sein Profil sehen kann. Eine Linie, bei der sie anfangen könnte zu weinen vor Bewunderung. Perfekt wie die Statue eines Michelangelo, wie ein Porträt von Caravaggio. Alle Züge sind ein wenig in die Länge gezogen, die Mundwinkel weisen ganz, ganz leicht nach unten, die wundervoll geformten Augenbrauen außen minimal nach oben. Seit diesem Jahr trägt er eine gewaltige, hellblonde Krause wie eine Krone auf dem Haupt. Nur einmal hat sie sich getraut, eines seiner Augen sehr nah heranzuzoomen, weil sie die exakte Farbe seiner Iris erkennen wollte. Aber jedes Mal, wenn sie wieder durch den Sucher blickte, hatte sich der Ton gewandelt: von fast schwarz über braun zu dunkelblau, dann auch grün mit grauen Einsprengseln und am Ende schien es ihr, als seien es strahlend blaue Augen wie sehr blonde Menschen sie haben.
Das Geheimnis seines Erfolgs ist nicht nur die, wie auch immer geartete, Freundschaft oder Partnerschaft mit Daniell, sondern seine Art zu modeln. Für Fotos steht er am liebsten sehr aufrecht, die Arme an den Körperseiten herabhängend mit nach außen gedrehten Handfläche. Gerade mit der neuen Frisur erinnert Pim sie in dieser Pose an den Struwwelpeter, an das Titelbild dieses Kinderbuchs. Manchmal geht er in die Hocke und balanciert auf den Fußballen, wobei er mit seinen langgliedrigen Fingern eigenartige Gesten vollführt. Seine Miene bleibt dabei unbewegt. Einmal, bei einer Session zwei, drei Jahre bevor Daniell auftauchte, hatte sie es geschafft, ihn dazu zu bewegen, sich für sie auf den Boden zu legen. Sie hatte die leichte Panik in seinem Blick gespürt, die Verkrampfung. Da trug er einen extrem schmal geschnittenen Anzug aus ochsenblutroter Wildseide mit Applikationen aus uraltem Brokat. Er lag flach mit dem Rücken auf einem schwarzen Teppich, die Beine ganz leicht gespreizt, die Arme vor der Brust gekreuzt.
Ob es daran liegt, dass er nicht besonders klug ist, weiß Alma nicht. Fest steht, dass Pim kaum je spricht, und wenn, dann in Sätzen mit drei, vier, höchstens fünf Worten. Dabei nutzt er die englische Sprache mit einem eigenartigen Akzent, irgendwo zwischen Arabisch, Griechisch und Farsi. Selbst mit seinem Assistenten kommuniziert er nur elektronisch, und noch nie hat ihn jemand telefonieren sehen. Außerdem reist er grundsätzlich allein und lässt den Assistenten alles so organisieren, dass er selbst schlimmstenfalls bei der Passkontrolle mit jemandem reden muss. Keiner weiß, wie dieser Helfer heißt, der ohnehin eher aussieht wie ein Bodyguard. Sicher zwei Meter groß und bestimmt um die einhundertfünfzig Kilo schwer, vermutlich ein Samoaner, ein ehemaliger Rugbyspieler oder Wrestler, den man immer in einem altmodischen, schwarzen Adidas-Trainingsanzug mit goldenen Streifen sieht. Der bringt Pim zum Flughafen oder Bahnhof – und holt ihn am Ziel auch wieder ab. Immer kommt er vor seinem Herrn an, als beherrsche er die Teleportation. Manche munkeln, es handele sich um zwei Assistenten, eineiige Zwillinge.
Jetzt schaut er Alma quer durch den Raum mitten ins Gesicht. Ihr schießt das Blut zu Kopf, sie wird nervös, verlegen, hat Angst, und weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Dann merkt sie, dass er einfach durch sie hindurch sieht. Als wäre sie Luft oder eine Fensterscheibe. Dabei würde sie so gern einmal irgendwo mit ihm sein, wo sie einander gegenüber säßen, keinen Meter Abstand voneinander, und sie ihn genau mustern könnte, während er sie freundlich ansähe, vielleicht würde ein Lächeln um seine schmalen Lippen spielen, oder er würde ihr zuzwinkern. Oder die Hand nach ihr ausstrecken und sagen: Komm!