Köhler (1)

Noch siebenundvierzig Tage blieben den Köhlers. Dann fände die Zwangsräumung statt, und sie wären Wohnungslos. Es gab keine realistische Möglichkeit, bis dahin die rund zweieinhalbtausend Euro Mietrückstände auszugleichen. Alfred hatte also einen Plan B ausgearbeitet. Bei einem Spaziergang mit der Mischlingshündin Hexe hatte er auf halber Höhe am Vorberg der Stadt einen Bunkereingang entdeckt. Hexe hatte im Unterholz gestöbert. Dann jaulte sie, und Alfred wusste, dass sie sich in einem Dornenbusch verfangen hatte. Das Brombeergestrüpp überwucherte er einen Betonstumpf von vielleicht anderthalb Metern Höhe. Mit dem Taschenmesser schnitt er einen Zugang und entdeckte eine Stahltür, die sich ohne Weiteres öffnen ließ. Beim Licht seiner Stablampe erkannte er acht, neun Stufen, die abwärts in einen quadratischen Raum führten. Er beschloss, sich die Sache bei Gelegenheit und besser ausgerüstet anzusehen.

Er selbst fühlte sich mit seinen achtundsechzig Jahren in jeder Hinsicht fit. Dafür tat er aber auch etwas. Zum Beispiel täglich einhundert Klimmzüge an der Stange, die er in den Rahmen der Wohnzimmertür eingelassen hatte. Dazu fünfundsiebzig Liegestütze und fünfzig Klappmesser. Im Durchschnitt wanderte er mit der Hündin um die fünfzehn Kilometer täglich. Jeden zweiten Tag ging er in die Badeanstalt und schwamm zweimal tausend Meter. Aber er trainierte auch sein Hirn. Mit Kreuzworträtseln und dem Lösen von Gleichungen. Marie war dagegen nicht mehr so gut dabei. Die Arthrose hatte ihre Hüft- und Kniegelenke angefressen, und sie war dement.

In der Wohnung fand sie sich allerdings ohne Weiteres zurecht. An guten Tagen vergaß sie auch nichts und erledigte den Haushalt fehlerfrei. Draußen war sie jedoch völlig orientierungslos. Also hatte Alfred von außen ein Schloss an der Wohnungstür angebracht, dass er verriegelte, wenn er das Haus verließ. Während Marie sich zuhause auf eigenen Beinen mit der Hilfe eines Gehstocks bewegte, war sie außerhalb auf den Rollstuhl angewiesen. Nachdem sie vor ein paar Monaten plötzlich versucht hatte aufzustehen und dabei schwer gefallen war, schnallte ihr Mann sie am Rollstuhl fest. Wegen ihrer Krankheit hatten sie überhaupt nur die Wohnung in der Innenstadt, in der sie beinahe vierzig Jahre gelebt hatten, verlassen und waren in ein hässliches, aber barrierefreies Erdgeschosappartement am Stadtrand gezogen.

Ein Leben lang war beide selbstständige Kaufleute gewesen. Zuerst hatten sie eine Drogerie, die sie aufgeben mussten, nachdem die Ketten überall Filialen eröffneten und alles viel billiger anboten. Dann hatten sie ein Feinkostgeschäft übernommen, das sie nach zwölf Jahren wegen eines neuen Mietvertrags mit erheblich verschlechterten Konditionen schlossen. Sie hatten es mit einem Obst-Gemüsestand auf Wochenmärkten versucht, mit einem mobilen Imbiss und zuletzt mit einem Kiosk, der aber kaum genug zum Leben abwarf. Weil sie nur minimale Rentenansprüche hatten, verbrauchten sie nach dem Beginn von Maries Krankheit ihr Erspartes.

Alfred hatte lange gezögert, aber dann hatte er doch versucht, staatliche Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, die man im nicht gewährte. Das Amt argumentierte, er sei ja schließlich im Besitz eines großen Grundstücks in Spanien, dessen Wert ein bestellter Sachverständiger auf mehrere Hunderttausend Euro geschätzt hatte. Tatsächlich hatte er die Liegenschaft an der portugiesischen Grenze bei Badajoz in der Extremadura von seinem besten Freund Paul geerbt. Ein karges Stück Land, das Paul nie bewohnt oder genutzt hatte und das niemand haben wollte. Es Alfred zu vererben, war mehr ein symbolischer Akt gewesen als tatsächlich das Übereignen von Werten. Schon vor zehn Jahren hatten die Köhlers versucht, das Grundstück zu verkaufen. Sie hatten einen Makler aus Sevilla beauftragt und ihm angeboten, er könne die Hälfte eines möglichen Erlöses als Courtage kassieren. Aber der Agent hatte nach drei Jahren aufgegeben und wusste zu berichten, dass es nicht einen einzigen Interessenten gegeben habe.

Und jetzt waren sie am Ende ihres Besitzes angelangt. Nach und nach hatte er Teile des Hausrats und Mobiliar über Ebay verkauft, das Familiensilber, ein paar Teppiche und Gemälde. Zuletzt blieben ihnen nur noch Tisch und Stühle, Herd und Kühlschrank, Sessel und Fernseher und das Bett. Alfred verfügte noch über genau achthunderteinundzwanzig Euro und ein paar Cent in bar als er mit Hexe die Expedition in den Bunker unternahm. Er hatte ein Knäuel Paketschnur mitgenommen, Taschenmesser und Stablampe wie immer, aber auch einige Kerzen und Streichhölzer sowie mehrer Flaschen Wasser und einen Beutel Zwieback, der ihn und den Hund im Notfall ein paar Tage am Leben halten würde.

Bei der Entdeckung hatte er den von ihm angelegten Zugang sorgfältig mit den abgeschnittenen Dornenzweigen unsichtbar gemacht. Jetzt verwischte er hinter sich alle Spuren. Nach dem sie eingestiegen waren, schloss er die Tür hinter sich und verknotete die Schnur am inneren Griff. Im Vorraum fand er zwei Türen, von denen eine sich nicht öffnen ließ. Er wählte die andere und sah einen langen Gang vor sich, dessen Verlauf sich im Schein der Taschenlampe nur erahnen ließ. Groß war seine Überraschung, als er den Drehschalter rechts an der Wand betätigte und damit eine Reihe Deckenlampen einschaltete. Tatsächlich war der Bunker nicht nur an das Stromnetz der Stadt angeschlossen, sondern verfügte auch in mehrern Waschräumen über fließendes kaltes Wasser. Insgesamt hatte der Gang eine Länge von zweiundzwanzig Schritte. Am Ende gab es eine verschlossene Stahltür, auf halber Höhe fanden sich insgesamt sieben Holztüren. Dahinter Räume, die zusammengenommen eine Wohnung bildeten. Offensichtlich gab es auch eine funktionierende Belüftung, und Alfred beschloss, mit Marie hierher zu ziehen.

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