Beinahe jeden Tag wanderte Alfred nun mit Hexe zum Hang, den Rucksack gefüllt mir Vorräten. Außerdem lagerte er im Bunker Werkzeug, Kochgeschirr, Akkus und Verbandszeug. Esgelang ihm, einen Draht aus dem ersten Raum durch die Luke bis ins Freie zu führen, der als Antenne für den Rundfunkapparat dienen sollte. Am schwierigsten war es, Matratzen für die vorhandenen Notbetten unauffällig in den Wald zu transportieren. Dafür lieh er sich beim Schrotthändler Metin einen Handkarren und erledigte diese Aufgabe in zwei mondlosen, regnerischen Nächten. Auch die nötigen Elektrogeräte brachte er mit dem Karren zum Bunker. Nach einunddreißig Tagen war alles bereit für den Umzug. Vorher wollte er aber noch die Tiefen der Anlage erforschen. Die Schnur war immer noch an der Eingangstür befestigt, und Alfred ging mit dem Knäuel in der Hand auf die Stahltür am Ende des Ganges zu. Sie war ganz leicht zu öffnen. Hexe lief voraus als er sie durchschritt.
Nur auf den ersten zehn, zwölf Metern gab es noch Deckenleuchten. Alfreds neue Stablampe mit LEDs erhellte weitere zwanzig, fünfundzwanzig Meter. Der Gang ging leicht bergab und schien im 45-Grad-Winkel abzuknicken. Er hörte Hexe hecheln, als sie um die Ecke bog, die Nase immer eng am Boden. Immer steiler führte der Gang abwärts und hatte zwei weitere Biegungen. Er blieb stehen, weil er ein Geräusch gehört hatte. Jetzt war es völlig still. Er rief nach der Hündin, aber es kam keine Reaktion. Langsam schritt er voran bis er vor einer gigantischen Höhle stand, die teilweise von einer komplizierten Betonkonstruktion ausgefüllt war. Wieder rief er nach Hexe. Wieder hörte er nichts von seinem Hund. Vorsichtig stieg er in das Betongerüst und leuchtete nach unten. Mehr als zwölf Stockwerke schien die unfertige Anlage zu haben. Jetzt war er sicher, dass er ein großes Geheimnis der Nazi-Zeit gelüftet hatte.
In der Bücherei hatte er einen schweren Band entdeckt, der sich mit dem Bunkerbau im dritten Reich befasste. Darin wurde gemutmaßt, in der Umgebung aller größerer Städte seien damals Bunker für die Führungskräfte der NSDAP gebaut worden; meistens als kleine, dezentrale Schutzräume für einzelne Familien, manchmal als größere Gemeinschaftsanlagen. Ganz offensichtlich hatte er einen solchen Familienbunker entdeckt, der mit einem weitaus größeren unterirdischen Gebäude verbunden war. Tatsächlich gab es Vermutungen, in D. habe in den letzten Kriegsjahren eine geheime Munitionsfabrik bestanden. Könnte sein, dachte Alfred, dass ich die Wohnung eines leitenden Mitarbeiters entdeckt habe.
Dann hörte er Hexe laut aufjaulen, konnte aber nicht orten, woher das Geräusch kam. Dann ein kurzes, scharfes Bellen. Und dann trat erneut völlige Stille ein. Irgendetwas an der Situation löste in ihm Panik aus, ein ungewohntes Gefühl, war er doch zeitlebens ein besonnener, beinahe stoischer Mensch gewesen. Er sprang zurück in den Gang und rannte los. Zweimal meinte er, seinen Hund in der Nähe gehört zu haben. Aufwärts zu laufen machte ihm Mühe. Er war außer Atem als er den Ausgangspunkt erreichte. Die Deckenleuchten waren erloschen. Die Stahltür war ins Schloss gefallen. An der Innenseite gab es keine Klinke. Die Akkus in der Stablampe hielten noch viereinhalb Tage. So lange versuchte er noch, die Tür zu öffnen, um wieder in den Familienbunker zu gelangen, zum Eingang und nachhause. Er überlebte weitere zwölf Tage, weil er den Gang bis zum Betongerüst entlangkroch und dort eine Stelle fand, an der Wasser von einem vorstehenden Zapfen tropfte.
Als der Schlüsseldienst die Wohnung der Köhlers öffnete, fanden sie Marie unmittelbar hinter der Tür in ihrem Rollstuhl. Sie war offensichtlich verdurstet. Die Küche stand voller geleerter Flaschen und Milchtüten. Das Wasser hatte man schon vor zwei Wochen abgestellt. Weil Alfred Köhler nicht aufzufinden war, erstattete die Polizeidienststelle eine Vermisstenanzeige von Amts wegen. Die Nachbar konnten nichts zur Klärung des Falles beitragen.