Wietten und die Tilde (3)

Sie erzählte die Geschichte mit langen Pausen und stockte an Stellen, die Wietten gar nicht heikel erschienen. Er konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass es sie schmerzte, diesen Bericht abzugeben, dass sie lieber nicht darüber gesprochen hätte. Und nahm das als Vertrauensbeweis. Gleichzeitig erschien ihm diese Nacht im Hotel in F. das erste Mal, dass sie sich ebenbürtig waren. Vielleicht gespeist aus einer gewissen Unsicherheit, die er aufgrund des enormen Altersunterschied spürte. Immerhin war er sogar älter als ihr Großvater. Wobei sie miteinander nie über das Alter sprachen. Also weder darüber, dass sie erst siebenundzwanzig war, noch über seine mehr als siebzig Jahre. Die Situation war in jeder Hinsicht ungewohnt für ihn, weil er sein ganzes Leben lang meistens der Jüngste oder einer der Jüngsten in seinem jeweiligen Umfeld war. Zum Beispiel beim Gewinn der Goldmedaille bei den olympischen Spielen in Rom 1960 im Achter. Gerade einmal achtzehn war er an jenem 3. September auf dem Albaner See.

Es grenzte an ein Wunder, dass er überhaupt mit an Bord war, denn eigentlich war er nur dritter Ersatzmann. Zumal er überhaupt erst seit seinem fünfzehnten Lebensjahr ruderte. Lange hatte er sich geweigert, die Familientradition fortzusetzen, die William Henry Wheaton mit seiner Teilnahme am ersten Boat Race, der Regatta, bei der Achter aus Oxford und Cambridge gegeneinander antreten, begründet hatte. Auch nachdem die Wheatons nach Deutschland ausgewandert waren, blieben sie Ruderer. Schon sein Großvater, Martin Wietten, hatte an den olympischen Spielen im Jahr 1900 teilgenommen, ohne eine Medaille zu gewinnen. Dem Vater gelang 1936 in Berlin immerhin eine Silbermedaille im Vierer ohne. Jensen Wietten aber beendete gleich nach der Olympiade seine sportliche Karriere und saß nach dem Finale von Rom nie wieder in einem Rennruderboot.

Überhaupt galt er als Frühstarter und als eine Art Wunderkind. Seine geliebte Kindergärtnerin, Fräulein Krämer, riet den Eltern, ihren Sohn schon Ostern 1948 einzuschulen, obwohl er das erst fünfeinhalb Jahre alt war. So wurde er auch jüngster Knabe in der Sexta des G.-Gynasiums in D. Und weil er eine Klasse übersprang, legte er bereits im Frühjahr 1959 sein Abitur ab; mit hervorragenden Noten, übrigens. Und weil der Großvater und der Vater an den Fortschritt glaubten, hatten sie ihn an eine neusprachliche höhere Schule geschickt, wo er außer Englisch, seiner zweiten Muttersprache, und Französisch auch noch Spanisch lernte. Überhaupt fiel es ihm immer leicht, Fremdsprachen zu erlernen. Wann immer er mit verstärkt mit einem neuen Land in Berührung kam, versuchte er sich auch an der jeweiligen Landessprache. So kam er über die Jahre auf ausreichende Kenntnisse in Niederländisch, Polnisch, Schwedisch und Italienisch sowie die passive Beherrschung des Japanischen und von Mandarin. Nur an Russisch und Griechisch war er gescheitert, weil ihm das bildliche Gedächtnis fehlte, sich die fremden Zeichen sicher einzuprägen.

Als er am übernächsten Montag Tilde am Hotel abholen wollte, war sie nach Auskunft des Rezeptionisten bereits abgereist. Dabei hatten sie gemeinsam geplant, nach Paris zu fahren, seiner Lebensstadt, die sie bis dahin nur oberflächlich kannte. Sie hatte sich über seine Einladung sehr gefreut. Und nun war sie nicht da. Jeden anderen Reisepartner hätte er jetzt einfach mobil angerufen, aber Tilde besaß kein Smartphone, nicht einmal ein Handy. Wietten beschloss, ohne sie zu fahren und ließ sich ein Taxi rufen. Kurz bevor der TGV startete, erschien sie am reservierten Platz, leicht aufgelöst, offensichtlich nach einem längeren Spurt quer durch den Bahnhof. Ließ sich neben ihn aufs Polster fallen und murmelte „Entschuldigung.“ Natürlich fragte er sie, warum sie im Hotel nicht auf ihn gewartet, weshalb sie nicht wenigstens eine Nachricht hinterlassen hatte und wo sie gewesen sei. Sie schüttelte nu den Kopf und sagte: „Jetzt bin ich ja hier.“ Natürlich hakte er nicht nach. Er wollte um jeden Preis vermeiden, wie der Vater oder Großvater zu wirken, der seine ungezogene Tochter beziehungsweise Enkelin maßregelt. Im Stillen hoffte er, sie würde irgendwann unterwegs von sich aus berichten, was sie bewogen hatte, aus dem Hotel zu fliehen. Aber sie erwähnte den Vorfall nie.

Angeblich war er bereits als Säugling mit den Eltern erstmals in Paris. Selbstverständlich erinnerte sich nicht daran. Es gab auch keinerlei Beweisfotos. Immerhin war sein Vater Offizier und nach eigenen Aussagen bis zum Winter 44/45 immer an der Westfront. Ja, hatte er seinem Sohn gesagt, er sei auch ein paar Monate in Paris stationiert gewesen. Trotzdem war es sehr ungewöhnlich, dass ein deutscher Wehrmachtsoffizier Frau und Kind zu einem Kurzurlaub in besetzte Gebiete hätte holen können. Er, so Wilhelm Wietten, der nach Kriegsende sehr wenig über seine Erlebnisse in jenen Jahren sprach, könne sich jedenfalls nicht erinnern, dass Charlotte, seine Frau und Jensens Mutter, je in Paris gewesen sei. Immerhin war diese Charlotte Wietten, geborene Piqué, Nachfahrin von Hugenotten und zu einem Achtel Französin, was aber ihr hervorragendes Französisch nicht ganz erklärte. Das erzählte er Tilde bei der Fahrt durch Lothringen.

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