Weite Ebene

Möth befindet sich in der Mitte einer weiten, kargen Ebene und schaut sich um. Er war schon einmal in einer ähnlichen Situation, auf einer leeren, staubigen Fläche. Das war der Betondeckel einer Giftmülldeponie in Brandenburg. Jetzt aber sieht es aus wie auf einem trockenen Salzsee in Utah, wo Weltrekordfahrten stattfinden. Er weiß nicht, wie er an diesen Ort geraten ist, er weiß nur, aus welchem Grund: Er ist mit Anna verabredet. Und dann spricht eine Stimme aus großer Höhe: Hartmut, wartest du? Sie kommt gleichzeitig aus der Luft und aus seinem Kopf. Er nickt.

In einem anderen Traum sitzen sie Rücken an Rücken in einem halbdunklen Raum in Rottönen. Es ist so eng, dass sie sich nicht zueinander drehen können. Wo er sie doch so gern umarmen möchte. Seit Anna fort ist, hat Möth sein Leben in zwei scharf voneinander getrennte Bereiche aufgeteilt. In der alltäglichen Realität funktioniert er, aber unbeteiligt, emotionslos. In den Träumen geht die Liebe weiter mit all ihren Annäherungen und Entfernungen. Denn es war nie einfach, dieses Paar zu sein.

Wie in dieser Nacht in einem Hotel in Norwegen, weit nördlich. Er hatte sich diese Reise gewünscht, und Anna hatte nur zugestimmt, um ihm einen Gefallen zu tun. Sie hatten sich in Olso ein Auto gemietet und waren losgefahren in Richtung der Fjorde und Gletscher. Sie fror leicht, und ab dem Sognefjord begann die dauernde Kälte sich in sie hineinzufressen, und das machte sie verstummen. Hartmut dagegen sang Lieder in fremden Sprachen. Das Glück in diesen Landschaften zu sein, leuchtete aus seinen Augen. In der Nacht wollte er Liebe mit ihr machen, aber sie war gelähmt für Stunden.

Jetzt trägt er einen Neopren-Anzug und schwimmt ohne Taucherausrüstung in einem Aquarium von der Größe eines Kraftwerkblocks. Das Wasser ist zu blau und schmeckt nach Eukalyptus. Millionen winziger Fische mit Leuchtstreifen an den Seiten bewegen sich in Schärmen um ihn herum. Er treibt auf eine Glaswand zu und kann sich darin spiegeln. Möth ist zum Wal geworden, er muss also zum Atmen auftauchen, aber das Becken ist auch oben mit Panzerglas abgedeckt. Hinter der Scheibe sieht er Annas Gesicht, groß wie auf einer Plakatwand.

Dass sie starb, ist auch seine Schuld, weil er sie zu oft Bedingungen ausgesetzt hatte, die ihr nicht guttaten: Kälte, Lärm, Hitze, Einsamkeit. Hartmut Möth hatte in den wenigen Jahren, die für sie reserviert waren, nie gelernt, ihr die Komfortzone zu schaffen, die sie zum Überleben benötigte. Dabei hatte Anna ihn von der ersten Stunde an nicht darüber im Unklaren gelassen, wie es um sie bestellt war. Er begann sie als Zimmerpflanze zu betrachten, als Goldfisch im Glas, bei dem man nur für frisches Wasser, ausreichend Futter und angemessene Beleuchtung sorgen muss, damit er überlebt. Und weil er sich nicht als Wasserwesen sah, konnte er tun und lassen, was er wollte, so lange sie blühte.

Er sah flirrendes Licht tief unten in der Erde. Ein senkrechter, kreisrunder Schacht, abwärts mit erträglicher Geschwindigkeit. Geräusche klingen ihm entgegen, Kirmesorgel, Marschmusik, Lachen, Geschrei, Schüsse. Um einen gepflasterten Platz ist ein Jahrmarkt angeordnet mit Karussels und Schießbuden, Zuckerwatte, Spiegelkabinett, Auto-Scooter. Anna trägt einen schwarzen Overall und regelt den Verkehr auf ihrem eckigen Podest mitten auf dem Platz.

Ihre Krankheit bemerkte Hartmut Möth zunächst gar nicht. Später tat er sie ab; das gehe vorüber. Und in den ruhigen Momenten, in denen er sich in der Lage sieht, darüber nachzudenken, kommt es ihm vor, als sei Anna nicht gestorben, sondern eingegangen.

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