Bier und Ei

(Getting-Old-Senior-Club-Mix 1999)

Samira wischt die Theke, umkreist Kopf und Arme vom alten Körnewig, der nicht wirklich schläft, sondern sie nur provozieren will. Wartet darauf, dass sie sagt: Hey, sie können hier nicht pennen. Dann würde er langsam den Kopf heben, sie ansehen, sich an ihren krähenschwarzen Glanzaugen freuen und sagen: Tu ich doch nicht, ruh mich bloß aus und denk ein bisschen nach. Deshalb sagt sie nichts.

Drei coole Schülerinnen mit verschiedenfarbigen, strammen Mittelscheiteln stapfen in ihren DC-Schuhen durchs Lokal und lümmeln sich auf die grünlederne Eckbank am großen Fenster mit den getönten Scheiben. Frau Meier stellt die Einkauftüten am Stehtisch ab, winkt Samira zu und stöhnt ein kleines bisschen. Sie sollten sich lieber setzen, sagt Samira ihr normalerweise, bei ihren schlimmen Füssen. Aber heute mag sie nicht. Abwechslung muss sein. Na ja, den Kirschlikör wird sie ihr unaufgefordert bringen, wie immer.

Tolou fummelt am CD-Spieler rum. Sein blankes Afrikagesicht grinst vor sich hin, man könnte meinen, er wäre schwachsinnig. Kommt nur davon, dass ich heute Nacht gevögelt habe, sagte er vorhin zu Samira. Die ganze Nacht, verstehst du? Von abends bis morgens. Ununterbrochen. Und ich hätte noch weitermachen können, aber diese blonde Schlampe musste ja zur Arbeit, wenn sie überhaupt noch gehen konnte. Das hat sie davon. Wovon, hatte Samira gefragt. Wenn so ne Weißfotze zu mir sagt, gib’s mir, du Tier, dann muss sie damit rechnen, dass ich sie ficke wie ein Tier, verstehst du? Hätte ja gleich sagen können, ihr Schwarzen seid wie die Tiere. Ach, seid ihr nicht? Seitdem grinste Tolou vor sich hin. Mit dem Kopfhörer sieht er aus wie ein Medizinmann.

Die Mädels kriegen Cola und kichern vor sich hin. Die Pummelige mit den bläulichen Haaren zeigt auf Tolou, flüstert der dünnen Rothaarigen was zu. Die schlägt sich die Hand vor den Mund und wird auch im blassen Gesicht rot. Der dunkle DJ dreht die Lautstärke hoch. Bässe knallen an die Wände, dass die Poster zittern. Frau Meier zieht ein Gesicht. Muss das denn sein, dass hier schon am Nachmittag solch laute Negermusik läuft? Aber, Frau Meier, Samira schaut sie vorwurfsvoll an, das sagt man aber nicht; das heißt Schwarze Musik. Mir gefällt’s jedenfalls nicht. Hebt das Glas und kippt das klebrige, dunkelrote Zeug in den faltigen Hals.

Jetzt müsste Körnewig eigentlich langsam aufstehen und seinen Platz am Spielautomaten einnehmen, denkt Samira, räumt das schale Restbier vom Alten weg und stellt ein frisches Alt hin. Holt ein Solei aus dem großen Glas am anderen Ende der Theke, legt es auf einen gelben Teller und schiebt es Körnewig zu.

Neulich war der alte Mann bis zuletzt geblieben. Als die andern alle weg waren und Samira die Kneipe zugesperrt hatte, hatte er sie zu sich gewinkt und gesagt: Nun setzen sie sich mal zu mir, Kleine. Samira taten die Füße weh, sie war müde und sauer, weil Tolou sie wieder mal versetzt hatte, so dass sie einen Gast bitten musste, CDs aufzulegen. Zog sich einen Hocker ran und setzte sich neben Körnewig. Der ihr etwas zu sagen hatte:

Ich bin ja jetzt alt. Aber das macht mir nichts aus. Weil mir nichts fehlt. Mir fehlt es nicht, jeden Morgen ins Büro zu gehen. Mir fehlt meine Frau nicht, die ist ja vor acht Jahren schon gestorben. Einfach so. Sitzt am Küchentisch, während ich in der Zeitung lese, guckt mich freundlich an und sagt: Ich glaub mir wird schlecht. Dann ist sie vom Stuhl gekippt und war sofort tot. Ich hätte beinahe lachen müssen, weil mich das daran erinnerte, wie damals der Kanarienvogel meiner Tochter einging; der saß stillvergnügt auf seiner Schaukel, schilpte und fiel plötzlich rücklings runter und war tot. So war’s bei meiner Frau auch.

Nein, sie fehlt mir nicht. Frauen fehlen mir überhaupt nicht. Nicht mal für den Sex. Nicht mal dafür. Meine Kinder fehlen mir überhaupt nicht; weiß nicht mal, wo die stecken. Hatte ja immer gedacht, meine Tochter würde mich im Alter zu sich nehmen. Ich würde mit ihrem Mann und ihren Kindern in einem kleinen Häuschen leben, hätte mein eigenes Zimmer und würde mich nützlich machen, auf die Enkel aufpassen, Sachen reparieren und so etwas. Aber meine Tochter findet ja keinen Mann, mit dem sie Kinder haben wollte. Dreimal geschieden. Zuletzt war sie mit einem Griechen verheiratet und ist mit ihm irgendwo da unten hin gezogen. Das Wetter ist dort so schön, hatte sie gesagt, und ihren Mann mit keinem Wort erwähnt.

Auch die Liebe fehlt mir nicht, denn die gibt’s nicht. Man kann sich einbilden, jemanden zu lieben, man kann sich das sogar sehr lange einbilden. Aber irgendwann wacht man auf, guckt sich den Menschen an, von dem man geglaubt hat, man liebe ihn, und sagt sich: Liebe? Was ist das denn?

Meine Freunde fehlen mir auch nicht sehr. Die sind ja alle entweder tot oder verblödet. War schlimm zuletzt, wenn wir vier Mann hoch einen Skatabend versucht haben. Der eine durfte kein Bier und keinen Schnaps mehr trinken und rannte doch alle paar Minuten aufs Klo. Der andere konnte mit seinen Parkinson-Händen die Karten nicht mehr halten und hatte sich so ein blödes Gestell aus Amerika bestellt, in das er die Karten stecken konnte. Und der dritte im Bunde wusste manchmal nicht mehr, warum er eigentlich dasaß, was Spielkarten sind und was wir alle zusammen da taten.

Worüber hätten wir reden sollen? Über die Prostata? Darüber, was wir mit den jungen Dingern anstellen würden, wenn wir sie zu fassen kriegten? Über früher? Über den Krieg womöglich? Nein, der Krieg fehlt mir auch nicht. Obwohl das die schönsten Jahre meines Lebens waren. Aufregend und lehrreich. Ich habe alles, was ich über Sex weiß, in den Bordellen zwischen Brindisi und Minsk gelernt. Von ganz lieben Nutten, denen wir Jungs leidtaten und die mit uns schliefen, auch wenn wir zu wenig Geld hatten. Eine schöne Zeit. Wir hatten Pläne. Was wir nach dem Krieg tun würden. Malten uns aus, wie fantastisch alles im Frieden sein würde. War aber nicht so fantastisch nach dem Krieg.

Ich kam zurück und landete auf dem Land, da, wo meine Mutter nach der Flucht Unterkunft gefunden hatte. Auf dem Bauernhof wohnte ein gutes Dutzend Flüchtlinge aus dem Osten. Ich war ausgehungert und gierig, denn in der Gefangenschaft kamen wir nicht an Frauen ran, drei lange Jahre. Da gab’s ein wunderschönes, schwarzhaariges Mädchen aus Ostpreußen. Wir gingen zusammen zum Tanz, und ich schwängerte sie noch in derselben Nacht.

Heiraten. Wohnung finden. Arbeit finden. Kind großziehen. Noch ein Kind großziehen. Danach lernte ich meine Frau erst kennen. Einmal fuhren wir ohne die Kinder mit einem Arbeitskollegen und seiner Frau nach Österreich in Urlaub. Schon auf der Fahrt dahin merkte ich, dass es nichts gab, worüber ich mit meiner Frau hätte reden können. Dort in den Bergen suchte ich jede Gelegenheit, allein oder mit dem Kollegen, dem es nicht besser ging, wegzugehen, zu wandern, mit dem Ruderboot über den See zu fahren oder in die Dorfschänke zu gehen. Sie war dumm, meine Frau, ungebildet dazu, vier Jahre Volksschule, mehr nicht. Und im Bett, meine Güte, woher sollte sie es wissen?

Mein Auto fehlt mir auch nicht. Wozu sollte ich es brauchen können? Von meiner Wohnung hierher sind es rund 120 Schritte, zum Supermarkt 150 und zum Kiosk 30. Ich reise nicht, bin ja im Krieg mehr gereist als mir manchmal lieb war. Kino? Theater? Kunstausstellungen? Hab doch Fernsehen. Und wenn ich Gesellschaft brauche, gehe ich hier her, zu ihnen, meine liebe Samira. Wissen sie, was mir wirklich fehlt? Früher gab es in den Kneipen immer so große Gläser mit Soleiern. Da konnt man sich zum Bier schnell mal ein Ei für den Appetit bestellen. Das fehlt mir: Soleier.

Sie hatte ihn in den Arm genommen, sanft auf die Stirn geküsst und gesagt, sollen sie haben, die Eier.

Samira stößt Körnewig sanft an. Hey, wollen sie gar nichts trinken? Hab ihnen ein Ei spendiert. Aber der alte Mann rührt sich nicht. Die Wirtin beugt sich zu ihm herunter. Hört ihn nicht atmen. Geht um den Tresen herum. Legt ihm die Hand auf den Rücken. Er bewegt sich nicht. Sie hebt seinen Kopf an und sieht in sein Gesicht. Körnewig ist tot.