Vorspann
Am Anfang war der Faden. Und der Faden war rot und er zog sich ganz hindurch durchs Leben. Wir sollten beim Erzählen den Faden nicht verlieren, sagt Susanne, sondern die Geschichten behandeln wie Perlen und auffädeln.
Kämm dir doch die Fransen aussem Gesicht, ja, das sieht definitiv scheiße aus. Keine Diskussion. Woher ich das Recht nehme? Aus meinem ästhe-tisch-moralischen Grundwertevorrat, du Flachwichser. Nein, ich bin nicht besoffen, ich hab, genau wie du, fünf Jackie-Cola intus. Das macht mir gar nix, wie du wissen solltest. Und was soll eigentlich diese präpotente Jacke, hä? Mit diesem lächerlichen Heavy-Metal-Zeichen auffem Rücken und den versilberten Knöpfen… Wie alt bist du denn? Willst du nicht irgend wann mal die Kurve kriegen? Okay, okay, du bist aus vollem Herzen Taxifahrer. Ja klar, und meine Tante ist auch n schöner Mann. Warst ja auch aus Über-zeugung Kurierfahrer. Und Kellner. Und und und. Du glaubst das und sonst keiner. Ich sag dir was: du lügst dir schon seit zig Jahren in sämtliche Taschen, du Loser. Und jetzt hör auf mit dem Debattieren, es gibt Geschichten zu erzählen, Gedanken zu denken, Stimmen zu hören.
Die Droge
Die Droge, die Droge, alles ist Droge. Der Hund hat dich nicht gebissen, obwohl du ganz sicher warst er würde es tun. Hat er aber nicht. Keine rechten Winkel kannst du mehr erkennen. Schieflage in deinem Leben, das sich ja nur in dieser Welt aufhält, Katze. Red mit ihm! Der freut sich. Auch so ist das ganze Leben ein Entzug. Sie haben dir nicht gegeben, was du brauchtest – mir auch nicht. Bist auch nur ein Liebessucher – und dem Liebessucher ist Sex das Methadon der Liebe.
Ich muss mich doch hier nicht rechtfertigen, Mann! Ich war einfach nie richtig da, nie richtig fertig. Da musste es weiter gehen, ist doch klar. Mein Leben ist eine Reise. Von jeder Station habe ich ein Souvenir mitgebracht: meine langen Haare, meine Fransenlederjacke. Jetzt fahre ich weiter, immer rund durch die Stadt, die ich nach vierzig Jahren immer noch nicht kennen und wahrscheinlich deshalb liebe. Man kann nicht lieben, was man kennt, Junge, das geht gar nicht.
Dreht sich einhändig ne Zigarette, immer noch Drum, immer noch dünn, un-term Laternenlicht an der Heine-Allee, während Kollege Ali mit Apfelsinen jongliert und islamistisch singt. Die speckige Kappe mit Wappen vom Lieblingsclub in den Nacken geschoben, ein Bein mit Cowboy-Stiefel vorgestreckt und angelehnt an das öffentliche Licht. Da kann Ute noch so lange auf ihn einreden. Ein Mann geht seinen Weg.
Die Trauer
Manchmal ist die Trauer nicht die Trauer über einen Verlust. Manchmal trauerst du über vergeudete Zeit. Eine Zeit zum Beispiel, in der du geliebt hast. Blind und angstvoll. Immerhin voll dabei. Ja, ich hab mich so bemüht dich zu verstehen. Hätt ich nur gewusst, was ich verstehen sollte. Dein Le-ben? Ich versteh nicht mal meins. Du trauerst über dein Versagen. Glücklich gemacht hättest du sie gerne, da wärst du auch glücklich gewesen. Hast du denn jetzt gelernt, dass man um Glück nicht kämpfen kann. Stehn dir die Tränen noch in den Augen. Wie nah liegen Wut und Trauer wirklich beieinander?
Wie konntest du das tun? Wie konntest du schweigen als ich deinen Rat brauchte? Wimperntusche schmilzt aus ihren Augenwinkeln aufs vergilbte Laken und er hat nur noch seine Schnürjeans aus Leder an. Konntest du das nicht verstehen, dass ich deine Sicherheit gebraucht hätte, um das Kind be-kommen zu können? Ja, sicher, du hast ja Recht, du bist nicht meine Lebensversicherung. Und, tu mir den Gefallen, pack deinen Schwanz ein, auch das ist vorbei, endgültig. Immer noch das tränenfeuchte Kinn in die Hand geschmiegt, auf dem Ellenbogen abgestürzt und den Blick auf ihn, der nun auf die Uhr sehen muss.
Zwei Kerzen beleuchten ihre tiefe Trauer. Um halb vier beginnt seine Nacht-schicht. Sie dreht sich auf den Rücken, greift sich eine Zigarette und schaut ihm nicht beim Anziehen zu.
Die Liebe
Malst dir eine Tabelle mit den Jahren als Spalten und den Menschen in den Zeilen. Machst Kreuze hinein: da hab ich den und den gekannt. Merkst, das reicht nicht. Schreibst Kommentare und kannst es nicht fassen. Würdest gern genau festhalten, was mit wem war. Deine Männer. Woran du sie ge-messen hast – an dem einen? Wenn du gewusst hättest und wüsstest, was du bist, wär dann der Richtige gekommen? Hättest du ihn erkannt? Wir wissen es doch alle, dass wir nur lieben können, wenn wir uns selbst erkennen. Dass wir uns nur selbst lieben können, wenn wir uns ganz erkannt haben. Wie willst du einen Menschen lieben, wenn du ihn nicht kennst? Mal ganz ehrlich: hast du’s versucht?
Der dunkelblaue Kombi hat sich an der Tunnelwand verkantet, zwei Kleinwagen im Heck, der eine mit ins Mosaik zerstörter Frontscheibe, darin ein junges, blutendes Gesicht. Auch sein Taxi macht warnblinkend Dramatik. Er bleibt drinsitzen, kein Funkkontakt unter der Erde, eine Hand im offenen Oberhemd greift nach dem Silberkreuz und er weiß nicht, wem er danken soll, dass sein Schädel nicht vorne durch und dann die geöffnete Halsschlag-ader, ausblutend auf die Haube.
Warst du eigentlich meine Frau? War ich dein Mann? Vor anderen hast du mich immer als deinen Freund bezeichnet, ist das weniger? Stimmt es, dass dein Erster bei einem Autounfall drauf gegangen ist? Und dass danach der schöne Grieche kam? Deine ganz große Liebe. Mehr als ich. Wo stand ich in deiner Hitparade? Aufsteiger des Jahres? Würdest du weinen, wenn ich bei einem Crash sterben würde? Würdest du dich an mich erinnern? Kennst du mich? Willst du mich jetzt noch kennen lernen?
Die Familie
Alles, was du bist, bist du seit gestern. Ich habe mir meine Ruinen selbst gebaut und mich drin eingerichtet. Wer das Haus zerstört hat? Das ist der Stoff, aus dem Legenden sind. Ich trage keine Schuld, ich war’s nicht, ich kann nichts dafür. Was hätte ich denn tun sollen? Jörg sagt, ich hätte keine Kinder in die Welt setzen sollen. Was weiß Jörg von der Versuchung Kinder zu haben? Kinder machen Familie. Familie macht Glück. Der lange rohe Holztisch unterm Baum im Garten auf der Wiese. Er sitzt am Kopfende. Meine Kinder, seine Kinder, die alten Eltern, Tanten und Onkels, Cousinen und Cousins, gute Freunde auch. Und die Enkel toben durchs Gebüsch. Das Baby weint ein bisschen und Ute gibt ihm die Brust. Fast alle Männer tragen weiße Hemden, die Ärmel aufgeschlagen. Die Frauen in bunten Sommerkleidern und lächelnd. Was das kostet…
Pass auf, ich erzähl dir jetzt was, Alter. Als meine Mutter ihren Schlaganfall hatte, da war ich der Taxifahrer, der gerufen wurde, um sie in die Klinik zu fahren. Da hab ich eine alte Frau gefahren, die mich nicht kannte. Die hat immer gesagt, ach, Kleener, aus dir wird nichts. Auch noch als ich sie um dreißig Zentimeter überragte. Dass sie Kleener sagte, hat mich gestört, nicht, dass sie nicht an mich glaubte. Ich war nie klein im Vergleich mit Gleichaltrigen, ich war sogar größer als die meisten, aber sie nannte mich Kleener. Vielleicht hab ich darum mit siebzehn den Scheißladen aufgemacht.
Sechs Männer in dunklen Anzügen tragen Onkel Pauls Sarg durchs Dorf, vier davon sind seine Söhne. Dazu noch sein italienischer Schwiegersohn Toni, der Mann von Renate, der weint die ganze Zeit, und als sechster Sargträger geht Kuddel, das andere Mitglied der DKP in diesem Ortsverein in Schleswig-Holstein. Eine baltische Sonne bestrahlt den Trauerzug, der ganz ohne Musik über den löchrigen Asphalt durch den Schweinedunst schreitet.
Die Landschaft
Du bist entwurzelt, Alter, total entwurzelt. Heimat, das haben wir fürn Scheißwort gehalten, das schmeckte nach Wohnzimmerschrank und Stammessen in der Kantine. Das wollten wir nun ja gleich gar nicht, stimmt’s? Also suchen. Suchen nach was? Haben uns ja nicht mal getraut zu sagen, dass wir eine neue Heimat suchen. Zuhause hörte sich ne Spur besser an. Und so nahmen wir beliebige Wohnungen und Häuser als Zuhause an, egal wo. Wochen in Griechenland, jedes verwanzte Zimmer ist noch genau in Erinnerung, jeder Dorfplatz. Das wollten wir: authentisch leben in einer selbst gewählten Heimat. Wer nicht mitkam, war gegen uns; besonders die Frauen, die wollten reisen, aber dann auch wieder heimkehren. Und an die Frauen da unten, kamen wir nicht ran.
Dass der Fahrgast sein Portemonnaie liegen gelassen hatte, hast du erst gemerkt als du das Taxi auf dem Polenparkplatz abstelltest morgens um halb vier. Welcher es war, der da einfach eine dicke Geldbörse aus rissigem Leder in den Fußraum hinterm Fahrersitz hatte fallen lassen, war unklar. Nach elf konntest du die Gesichter und Stimmen nicht mehr auseinanderhalten. Vielleicht der stämmige Mann im hellen Anzug mit Glatze, der mit mild russischem Akzent sprach, ein Messebesucher wie die anderen. Jedenfalls: kein Ausweis, keine persönlichen Papiere, keine Kreditkarten, ein Zettel mit einer Telefonnummer und etwas mehr als dreitausend Euro in großen Scheinen. Da bist du endlich einmal los gefahren nach Osten, hast Berlin hinter dir gelassen und kommst über Bydgoszcz nach Allenstein. In die Masuren. Ein Taxi am Ufer des Spriding-See, kurz vor Domen. Ein Mann in Lederhose mit Fransenjacke und Baseball-Kappe raucht eine dünne Zigarette und beobachtet die Schwäne.
Susanne auf freiem Feld in dunkelbraunem Flatterkleid. Flaches Land, hoher Himmel, geduckte Bäume im Wind und sie ahnt zwischen den Birken den See. Dahinten, zwei Daumen breit entfernt vom verfallenen Backsteinhaus.
Die Wünsche
Dann gingen wir an einem Sonntag im April, zwischen Hagelschauern und Wolkenlöchern im Klosterwald spazieren, verirrten uns hinterm alten Kanal in ein Gehölz, wo im Oktober Pilze stehen würden, und trafen doch noch die gute Fee mit den drei Wünschen. Ein Wesen, dass mir wie Tatjana Papitz erschiene und dir wie Sharon Stone, dass gekleidet wäre wie deine Tochter und du selbst – du willst niemals alt sein. Die Fee würde uns über die Regeln aufklären und sagen, dass nur gemeinsame Wünsche zählten. Und uns fiele nichts ein, weil ich meine Wünsche habe und du deine. Auf dem wunschlosen Rückweg würdest du schweigen, ich würde irgend etwas Dummes sagen, wir würden uns streiten und wenige Wochen später trennen. Du würdest mich verlassen oder ich dich – was spielt das für eine Rolle?
Eingekeilt zwischen hupenden Mercedessen und Opeln. Blauweiße Fahnen aus den herunter gedrehten Fenstern. Halb hängen junge Burschen raus und schreien. Du musst los, die Zentrale ruft nach dir, Fahrgäste warten. Kein Weiterkommen. Die haben gewonnen, brüllt dich einer an und gellt eine Trillerpfeife, Otto ist der Größte. Alles dicht hier an der Heine-Allee. Man reicht dir eine Ouzo-Flasche und du nimmst einen langen Zug. Das ist eine Sensation, das ist mehr wert als alles andere, sagt Iannis am Handy. Aufgeregt und betrunken, stolz auf sich, sein Land, seine Leute. Das haben wir uns gewünscht.
Weißt du, als ich noch mit Ute lebte und dem Kind, da habe ich mir gewünscht, endlich alleine zu sein. Hinten im Garten, noch hinter der dicken Eibe, da hab ich mir einen Verschlag gebaut aus Holz und Wellblech mit zwei kleinen Fenstern. Sogar Strom hatte ich da. Ein Feldbett, einen Tisch, einen Stuhl. Aus dem einen Fenster konnte ich auf den Friedhof sehen, in das andere schien im Sommer zwischen drei und vier die Sonne. Eines Tages sah ich den dicken roten Kater über den Friedhofszaun in unseren Garten springen. Er hatte etwas in der Schnauze, kam an die Tür der Hütte und legte einen frischen, kalkweißen Daumen ab als wäre der eine Maus.
Die Paare
War dir je klar, was das heißt: Paar-Sein? Dass es eine Kraft ist, die nicht bloß die Kräfte der beteiligten Partner addiert, sondern multipliziert, wenn nicht gar potenziert. Dass es der eigentlich gottgewollte Zustand es Menschen ist, Teil eines Paares zu sein. Und dass das Leben in Bezug auf die Paarung eben kein Wunschkonzert ist. Jedenfalls nicht auf Erden, vielleicht auf fernen Planeten oder möglicherweise seinerzeit in Atlantis (direkt nebenan von Santorini).
Eines Sommers wart ihr unterwegs mit dem Motorrad, auf dem Weg ans Meer, irgendwo südlich von Arcachon wolltet ihr einen Strand für euch allein erobern, denn das da unten viel einsamer Strand sein musste, das sagten die Landkarten. So endete die erste Etappe auf einem Campingplatz in der Nähe von Limoges, bei einem Ort namens Saint-Yrieix, am Ufer der Aixe. Der Fluss begleitete die warme Nacht, die ihr vor dem Zelt verbrachtet, wo ihr viel rauchtet und viel Rotwein aus Plastikflaschen trankt. Da fragte Oliver: Was bin ich eigentlich für dich?
Wenn eine Frau ihren Vater verliert, wird sie entweder ihr Leben lang nach einem Ersatzvater suchen oder sich einen Bruder oder Sohn erfinden. Variante zwei: Ihr Vater hat sie nicht angenommen, sie nicht respektiert, ihr nie gezeigt, dass er sie liebt. Dann wird sie sich immer wieder Männer suchen, die ihrem Vater ähneln und diese nach kurzer Zeit verlassen und sich einen Bruder oder Sohn suchen.
Der Krieg
Seine Worte, mein Krieg. Mich stehen lassen, so wie ich mich sah. Was soll mir die Welt, die ist mir feindlich. Von dem Tag an als mein Vater reinkam und die Musik abdrehte. Das, was mich damals hielt, ausknipste. Einfach so. Da schloss ich die Tür ab und suchte mir einen neuen Papa. Der musste vor allem Gefühl haben und zeigen. Mich einfach sein lassen. Was will ich mit einem Mann, der mich nicht sein lässt? Nimm mich an! Red mit mir, aber lass mich sein. Sing mir was, stimm mir zu. Und danach, danach kannst du mir sagen, was ich deiner Meinung tun soll. Sex spielt keine Rolle.
Mit nackten Füßen im feuchten Gras tanzen. Ich rief „Hoppa!“ und du lächeltest. Iannis goss mehr Wein ein und gab mir das Glas, ich trank es auf einen Zug und warf es gegen die Garagenwand. Das wolltest du sehen. Wolltest du das sehen? Oder gehörte ich in deinen Augen ans Kopfende der langen Tafel unterm Kastanienbaum. Eine braune Strickjacke überm weißen Hemd. Die Hände ruhig auf dem Tisch.
Warum hätte ich dich ändern sollen? Was ich von dir kannte, gefiel mir. Du hast dich selbst nicht geliebt. Weißt du noch, die Nacht in meinem Taxi, unsere erste Nacht, ich hatte dich um halb drei raus geschellt, du kamst in einer hellen Jogginghose aus dem Haus, ungeschminkt, halbwach, schriest mich an, was das solle. Da nahm ich dich einfach und schob dich auf den Beifahrersitz und wir fuhren los. Die ganze Nacht durch die Stadt und um die Stadt herum, Neil Young sang uns was vor und du rauchtest meine Selbstgedrehten, eine nach der anderen bis der Morgen graute und wir am Flussufer ankamen mit Blick auf das Stadtpanorama, hinter dem die Sommersonne sich erhob. Die Champagnerflasche vom Rücksitz. Ich nahm ein Schluck und gab dir im Kuss die Hälfte ab. Du lachtest, du hast dich verschluckt, mir die Flasche weggenommen, geschüttelt und mich und dich mit Champagner getränkt. Ganz nass dein T-Shirt, die Nippel standen vor und ich konnte ihre Farbe durch den weißen feuchten Stoff erkennen. So wollte ich dich haben, nur so. Aber, du hast Recht, man kann nicht jeden Sonnenaufgang feiern.
Die Illusion
Ohne Betäubung lass ich mir meine Illusionen nicht ziehen, Herr Doktor. Dann lieber nicht. Dann bleib ich lieber drin und fahr mein Taxi. Oder sitz am Schreibtisch und warte auf das Telefon. Würde vorziehen, Dinge anderer Leute zu regeln und dafür bezahlt zu werden. Ich weiß, dass das ärmlich ist. Eine erbärmliche Existenz und nicht mal einfach. Da bau ich mir eine Kirmes drum herum, mit Haus auf Pump und Cabrio und einem ausgefallenen Hobby. Ich sag mir, lieber schlechte Musik machen als zugeben, dass ich das Ziel verfehlt hab – weit verfehlt. Und schließlich bin ich gesund, Herr Doktor.
Kannst du bitte mal die Gitarre weglegen? Davon, dass du jeden Tag rumklimperst, wird es auch nicht besser. Ich muss mit dir reden. Ich bin schwanger. Ja, trotz Spirale. Das kommt vor. Wie, ich hätte besser aufpassen sollen? Ja spinnst du jetzt? Wie denn? Täglich in die Möse greifen und fühlen, ob das Ding noch drin ist? Was denn noch? Dass du dich nicht freust, ist mehr als deutlich zu spüren, schon klar, schon klar. Ja, ich weiß, hast du ja oft genug gesagt, dass du mit Kindern nichts anfangen kannst. Aber, was bedeutet das jetzt? Was heißt das ganz konkret für mich und das Baby?
Matti schraubt am Mischpult, die Roadies rollen Boxen und Verstärker durch die Halle, zwei verlorene ältliche Groupies in engen Jeans lehnen an der Absperrung zum Sound-Bereich und trinken Cola aus Dosen. Highlights schwenken an der Brücke, drei Meter über der Bühne, und brennen blaues Licht in die konzentrierten Gesichter. Hinterm Schlagzeug schon Ole in abgeschnittenen Jeans mit AC/DC-T-Shirt, wischt sich den ersten Schweiß hinter den Ohren weg. Jörn sagt eins, zwei, eins, zwei ins Mikro und Matti schiebt die Regler. Die eine trägt ne helle Jeansjacke und raucht eine lange Zigarette, kein Lächeln im Gesicht. Du kommst auf die Bühne und Jörn trägt dir die Flying-V nach, während du die Stratocaster einstöpselst. Steve lässt schon mal den Bass rumpeln. Nur Paul fehlt noch, der spielt in der Garderobe die Harps warm. Ein improvisiertes Blues-Solo und du hast die Aufmerksamkeit der größeren von den beiden, der mit den langen gesträhnten Haaren und dem UFO-T-Shirt unter der Jacke. Nach der Show wird sie dir in der Garderobe einen blasen, im Hotelzimmer wirst du sie mehrfach vögeln in der Nacht.
Die Melancholie
Trauer betäubt nicht, sie lässt den alten Schmerz wieder deutlich werden. Das tut so gut, denn dann weißt du, dass noch nicht alles abgetötet ist durch die schwere Welt. Tauchst in die Trauer und denkst an den Griechenlandurlaub als sie vor das Auto sprang, du hilflos, am Tag nach dem Abend als sie im roten Paillettenkleid auf der Terrasse posierte. Als dir bewusstwurde, dass es keine feste Verbindung geben könnte zwischen euch zwei. Du nennst es Melancholie, die schmeckt nach Ouzo und lässt dich langsam griechisch tanzen. Jeden schönen Moment hast du mit einer Enttäuschung erkauft. Das ist ein fairer Deal, scheint dir.
Wir saßen im Gras, du hattest ein weißes Kleid an und das Kind auf dem Schoß, lehntest deine Schulter an meine und sagtest leise, dass es so nicht weitergehe. Reichtest mir die linke Hand und sagtest: nimm mir den Ring ab, du kannst ihn zurückhaben. Ich schlug mir selbst die Faust ins Gesicht und ließ das rote Blut auf mich und dich tropfen.
Iannis ist nicht richtig betrunken, ich schon und Klaus ist deutlich drüber. Wir haben den Schnaps in der Taverna geklaut, zwei Flaschen Metaxa, und sind rüber in den Park, haben leise vor uns hin gesungen, Iannis hat Klaus untergehakt und legt ihn auf ner Bank ab. Du, kleiner Grieche, du hast doch gar keinen Grund, ein super Frau, zwei süße Kinder und n tollen Job, was willst du mehr. Eine dampfende Dämmerung dieses Aprilmorgens macht die Gesichter sichtbar, Iannis schaut Klaus direkt an. Aber, wir haben jahrelang unter der Diktatur der Obristen gelitten, ich war vier Monate im Knast, damals, mein bester Freund hat mein Motorrad geklaut, und mein Vater hat mir nie erlaubt mit Eleni auszugehen, deshalb. Auch ich fange an zu weinen, weil das alles so war wie es war und weil alles es so werden wird wie es wird.
Die Hölle
Am Ende bekommst du genau das, was du verdienst. Das gilt für alle, auch für die Arschlöcher. Nur kommen die nicht in die Hölle nach dem Sterben, sie bekommen ihre Strafe vor dem Tod. Zum Beispiel die Hölle des Alleinseins, wenn sich alle abgewendet haben, wenn die eigenen Kinder sie verfluchen, das droht den schlechten Menschen, denen, die ihr Leben lang sich selbst in den Mittelpunkt gestellt haben und um sich selbst kreisten wie dumme Planeten um die eitle Sonne. Jeder Weg führt auf sie selbst zurück, da ist kein Platz für andere. Die Guten ernten Liebe. Das ist das Paradies auf Erden, damit lässt sich’s leben, auch wenn der Körper schwach wird, das Hirn auch.
Da waren Bilder, die sie unbedingt loswerden musste. Bilder, die andere für Fantasien halten würden, die sie aber gesehen hatte, ganz real, ganz echt, ganz nah. Niemand hatte sie dazu gezwungen. Außer der Tatsache vielleicht, dass sie ihn nicht allein dahin hatte gehen lassen wollen. Dass sie glaubte, was zum Leben ihres Mannes gehöre, gehöre auch zu ihr. Natürlich hatte sie geahnt, dass die Übersetzung seiner verstörenden Sätze, die er oft beim Sex sagte, eine Dimension hätten, die weit außerhalb ihrer Vorstellung lag. Hatte sich gezwungen zu denken, dass seine Besuche in diesem Club ein gutes Ventil wären. Nicht geahnt hatte sie, dass die Art wie sie ihn erlebte nur eine Fassade war vor die Ruine seiner Seele gesetzt, zerstört in Bihać, geopfert vor Freunden seiner Art, blutgetränkt, zerfetzt und nicht zu vergessen. Dass das im Frieden weiter ginge, fast so weit wie damals, zehn Jahre zuvor, das konnte sie nicht ahnen. Und dann hatte sie das alles sehen müssen. Blut trinken, Fleisch essen.
Im Bett liegen, die Augen im Dunkel geöffnet, während neben dir ein Mensch schläft, den du glaubst zu lieben und von dem du glaubst, dass er dich liebt, aber sehr unsicher sein, ob das am nächsten Morgen noch so sein wird, wenn sich die Farben hinter der Fensterscheibe verändern, Vögel das tägliche Singen probiert haben und die erste S-Bahn fährt, das ist mehr Einsamkeit als sieben Jahre in einer versteckten Höhle tief im Wald.
Das Ende
Groß soll er sein und schön. Sanftmütig und interessiert an dir. Stolz soll er sein auf dich, aber nicht zu sehr, dass er nicht eifersüchtig wird auf dich. Nett soll er sein, aber nicht zu nett, damit er dir raten kann. Verstehen soll er dich. Wie soll er dich verstehen, wenn du dich selbst nicht verstehst? Wie soll irgendwer dich verstehen, wo du dich selbst doch nicht verstehst? Wer hätte dich je verstehen sollen, Vater, Mutter? Wo hast du hingewollt? Wo war dein Ziel, was deine Richtung? Ist es die Erkenntnis, dass dich nie jemand verstehen wird, die dich dazu bringt dich zu betäuben? Könntest du ohne Droge deinen Suizid verhindern? Sag’s mir. Sag’s mir jetzt.
Dabei hatte sie alles versucht. Max aussem Fitness, der war schön und nett, der hätte doch auch mehr als Onkel sein können für ihre Kinder. Wegen dem hatte sie Jorge verlassen, einfach so. Als der anrief, eines Abends, er wolle noch vorbeikommen, da hast du gesagt, ja, mach mal, und bist dann abgehauen zu Max, der überrascht war, aber das war auch gut so, der war auch gut im Bett. Und du bist das ganze Wochenende über dageblieben und hast dich bei keinem gemeldet.
Schließlich wirst du am Meer stehen, wirst die Schuhe ausziehen und deine Füße in die kalte See setzen, wirst ein paar Schritte tun, Tränen überströmt, an deine verlorenen Kinder denken, an deine Lebensfehler. Weiter gehen und dich vom kalten, kalten Meer verschlingen lassen. Vater, rette mich wenigstens dieses Mal, Mutter, halt dich da raus.
Nachspann
Oliver hat die Lederjacke an den Nagel gehängt und sich eine Glatze schneiden lassen. Mehr war nicht drin. Susanne gefiel das, sie blieb bei ihm und bekam insgesamt drei Kinder – zwei davon waren sicher von ihm. In der Gartenlaube ließ es sich leben, der Grill wurde den ganzen Sommer über nicht kalt. Und auch wenn es eng war, sie waren glücklich.
Als Olivia fünfzehn war, hatte sie das kleinste Zimmer bezogen. Ließ ihre Musik laut laufen und Oliver, der mit Freunden auf der Terrasse das Spiel sehen wollte, kam hinein und drehte wortlos ihre Anlage ab. Sie schloss sich ein, ließ sich von Finn schwängern, heiratete mit knapp sechzehn, zog aus, bekam nach Moritz noch Mina, ließ sich scheiden, lernte Jorge aus gutem Hause kennen, verließ ihn ohne eine Wort, verliebte sich in Petros, der sie nicht heiratete, zog ganz weg, während Moritz ins Drogengeschäft einstieg und Mina ihren zweiten Selbstmordversuch hinter sich hatte, fand eine Heimat, die sie wieder verlor als sie Albert verließ und sich für Roger entschied, der bei einem Unfall ums Leben kam, während Oliver und Susanne sich fragten, ob ihre Tochter eigentlich glücklich sei.
Dann nahm Susanne den roten Faden auf, fädelte Perle für Perle davon ab und wickelte das Garn zu einem festen Knäuel. Daraus würde sie Oliver ein Paar Socken stricken.