Getrennte Wege (2)

Das Dumme an diesem Abschied war, dass ich sie danach über zehn Jahre lang nicht wieder sah. Sie hatte bereits gekündigt und war, das erfuhr ich von Kollegen, nach Amerika gegangen. Wollte dort irgendwas mit Theater machen. Ich lernte D. kennen. Zwei Jahre später wurde mein Sohn geboren. Wir heirateten, und ich machte mich selbstständig. Weitere drei Jahre danach kam die Tochter. Getrennt haben wir uns sieben Jahre später. Einigermaßen im Frieden. Da hatte ich ein Appartement mit großer Terrasse im In-Viertel F. gefunden. Mein Büro war Teil einer Gemeinschaft, in der ich Untermieter war. Am liebsten ging ich zu Fuß zur Arbeit. Morgens gab mir die Strecke Gelegenheit, wach zu werden und mich für den Tag zu sortieren. Abends verarbeitete ich, was über Tag geschehen war. Nur ganz selten ging ich die dreißig Minuten mit offenen Augen und offenem Sinn.

Es hatte viele Tage geregnet. Der Mai war kälter als sonst ausgefallen, und alle fieberten dem Sommer entgegen. Und dann war es an einem Dienstag soweit: Der Himmel über meiner Westterrasse war stahlblau angemalt, die Sonne tat was sie konnte, ja, sogar die Mauersegler hatten endlich mit ihren lauthalsen Flugstunden begonnen. So trank ich meinen Kaffee draußen und begann im Kopf diesen Artikel zu schreiben, an dem ich nun schon seit einer Woche herumdokterte. Das tat ich häufig, einen Text unterwegs mehr oder wenig fertig zu formulieren, um ihn dann im Büro schnell in den PC zu hämmern. Und so wanderte ich die R.-Straße entlang durch den Stadtteil, über die verdammte, große Kreuzung und dann auf der B.-Straße bergauf bis zum S-Bahnhof. So weit kam ich aber gar nicht. Kurz vor dem Hügel sah ich aus den Augenwinkeln eine Frau an einem Fahrrad hantieren, das an einem dieser öffentlichen Halter angekettet war. Ging langsam an ihr vorbei, als ich plötzlich angebrüllt wurde: „Ey, Bello! Halt an!“ Es war tatsächlich Ann, die nun vor mir stand, die Sonne im Rücken, angestrahlt, ihr langes Haar ein Strahlenkranz.

Wir lagen uns in den Armen, drehten uns umeinander, und ich spürte, dass sie ganz dünn geworden war, beinahe ausgezehrt. Jedenfalls im Vergleich zu früher. Und hoffte inständig, dass sie nicht Opfer irgendeines Schlankheitswahns geworden war. Dann hielt sie mich an ausgestreckten Armen auf Entfernung und sagte: „Gut siehst du aus. Haare lang wachsen lassen, was? Schickes Hemd. Bevor wir jetzt hier auf der Straßen anfangen, uns gegenseitig das Leben der letzten fünfzehn Jahre zu erzählen, tauschen wir einfach Telefonnummern aus und verabreden uns für ganz bald. Ich hab’s nämlich verdammt eilig.“ Ich gab ihr eine Visitenkarte. Sie verlangte eine zweite, auf der sie ihre Nummer mit einem Bleistif schrieb, den sie aus der Brusttasche ihrer Bluse gezogen hatte. Wengistens war sie oben herum nicht abgemagert. Sie schwang sich aufs Rad, rief „Ciao, Bello!“ und war weg. Natürlich war der geplante Artikel komplett aus meinem Hirn gelöscht. Vollständig ersetzt durch die Begegnung. Es gibt keine Zufälle, dachte ich, und wie gering die Chance insgesamt war, dass wir uns wieder begegneten. Dass ich exakt an dieser Stelle vorbeikäme, dass sie genau hier wohnte, dass sie in dieser nämlichen Minuten ihr Fahrrad nahm und ich vorüberkam.

Gegen drei am Nachmittag rief sie an: „Wie wär’s um acht beim Frechen Finnen am Platz. Bei mir um die Ecke, kennst du den?“ Natürlich kannte ich dieses merkwürdige Restaurant, eine Art Flur mit einer Theke und sonst keinen weiteren Sitzplätzen, das vor allem davon lebte, dass man im Sommer den halben Platz mit Tischen und Bänken bewirtschaften durfte. Trotzdem hielten die Pächter selten länger durch als zwei Jahre. Aber ganz unabhängig davon, wie der jeweilige Neue seinen Laden nannte, für die Einheimischen blieb es der Freche Finne, denn so hatte der Typ den Schuppen genannt, der sich dort als Erster mit chinesischem Essen versucht hatte. Inzwischen war man bei Tapas angelangt, und offiziell hieß das Ding jetzt Pancho. Im Winter ging ich nie dorthin, aber im ersten Sommer der Existenz als Spanier war ich beinahe Stammgast. Ich stimmte der Verabredung also zu und war zu keinem vernünftigen Gedanken mehr in der Lage.

Geschichte wiederholt sich, einmal als Tragödie, einmal als Farce. Ein Teil unserer Geschichte wiederholte sich an jenem Abend eindeutig als Farce. Denn kaum hatten wir uns begrüßt und unter der Linde einen eher stillen Platz gefunden, kam es wieder zur Schmeißfliegensituation. Männer verschiedenen Alters umschwirrten unseren Standort, die Blicke hohl, die Bewegungen staksig, die Augen durchgehend auf Ann geheftet. Wir hatten bestellt und tasteten uns ans Gespräch heran. Wie geht’s? Was hast du gemacht? Und die Firma? Wie war’s in den USA? Purer Informationsaustausch, der vor allem einem diente, dass wir uns ansehen konnten, abscannen, Veränderungen registrieren, prüfen, wieviel vom alten Verhältnis noch da war. Sie war noch schöner geworden. Alles Pausbäckige war aus ihrem Gesicht verschwunden, dass trotzdem nicht scharf geschnitten war. Ihre hohen Wangenknochen kamen zur Geltung, ihre fast schon zu perfekte Nase und dieser Mund mit den erdbeerfarbenen Lippen und dem Schwung, der seine Schönheit ausmachte. Sie hatte eine blassgrüne Keilhose an mit passenden Ballerinas und einer weit geschnittenen Bluse mit einem floralen Muster auf weißem Grund. Irgendwie kam sie mir altmodisch vor, wie eine Diva aus den Fünfzigern in ihrer Freizeit. Aber kaum waren zwei Plätze an unserem Tisch frei, saßen auch schon drei Verehrer bei uns. Zwei auf ihrer Seite, einer bei mir, denn wir saßen uns gegenüber.

Sie nahm es gelassen, ignorierte die Burschen mit Fleiß, kam mir über den Tisch sehr nah und sagte nur „Wirtshauskeilerei auf der Messe, weißt du noch?“. Wir mussten so lachen, dass die drei halbgaren Herren massiv verunsichert reagierten. Der eine sprach mich an, ob das meine Frau sei. Ann schaltete sich mit der Bemerkung ein, sie möge es nicht, wenn über ihren Kopf hinweg über sie geredet würde. Selbstverständlich kam von der Seite die Frage, ob sie was mit mir habe. Sie fuhr dem Kerl übers Maul, aber bei allen Dreien standen die Hormone so hoch, dass die nicht aufhören konnten. Also stand sie auf und sagte nur: „Komm.“ So landeten wir im V.-Hof, der mehr berüchtigten als berühmten Eckkneipe zwei Häuserblocks weiter, in einer Nische an einem Tisch für vier. „Willst du essen?“ fragte ich sie. Ann schüttelte den Kopf: „Ungenießbar hier. Jedenfalls für mich als Vegetarierin.“ Hatte ich vergessen, dass sie nichts aß, was mal Augengehabt hatte. „Macht aber nichts. Hab vorhin noch was gegessen.“ Aus Solidarität bestellte ich auch kein Schnitzel, sondern beließ es beim Bier. Sie trank den offenen Weißwein des Hauses. Und dann begannen wir zu reden. Es ging gar nicht mehr um das, was passiert war, was wir erlebt hatten, es ging um uns und was für uns das Leben ausmachte.

Dann waren wir beim Thema Tierschutz, etwas, über das sie damals schon viel gesprochen hatte. Dass sie immer mehr feststelle, dass sie die Fähigkeit habe, mit Tieren zu kommunizieren, also quasi auf Seelenebene. Ich berichtete von unserem Familienhund, den bei Frau und Kindern zurückzulassen mich einiges gekostet hatte. Vom langen Leben meiner Katze Olga, die erst vor einem Jahr mit neunzehn gestorben sei. Sie glühte vor Begeisterung und ab einem gewissen Zeitpunkt hielten wir uns über die Tischplatte hinweg bei den Händen und redeten. Ja, sagte sie, sie könne sich auch Sex mit Tieren vorstellen, das könne doch eine sehr spirituelle Erfahrung sein. Und ganz unvermittel: „Wenn wir dann ein Paar sind, schaffen wir uns Hunde an; zwei oder drei.“ Es war, als habe jemand meinen Kopf mit einem Klöppel zum Klingen gebracht wie eine Glocke. Von diesem Moment an war ich entzündet. Dann wwaren wir die letzten Gäste, die man loswerden wollte. Wir zahlten und gingen. „Und jetzt?“ fragte ich hilflos. „Jetzt bringst du mich nachhause.“ Da stand sie drei Stufen über mir im Hauseingang, den Schlüssel in der Hand. Ob sie Lust habe, am Freitag mitzugehen, ich hätte Freikarten für das Konzert von G.D. „Mal sehen,“ sagte sie. Und: „Du stellst immer noch die falschen Fragen zum falschen Zeitpunkt, Bello. Genau wie damals.“ Sie kam noch einmal die drei Stufen herunter zu mir, wir umarmten und küssten uns. „Gute Nacht, mein Lieber. Ich ruf dich an.“ Ich nickte bloß, sie stand wieder an der Tür, zögerte ein wenig, drehte sich noch einmal um, lächelte und bewegte ihr Hand als wollte sie mir zuwinken.

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