Vater, mein Vater

Wer mich kennt, weiß, dass ich ein ausgeglichener, entspannter Mensch bin. Es braucht schon einiges, damit ich mich aufrege. Okay, wenn ich im Stress bin, können mich auch schon einmal kleinere Dinge aus der Fassung bringen. Besonders, wenn meine Sachen nicht da sind, wo sie hingehören. Oder wenn mir jemand dazwischen quatscht. Nicht liegt mir außerdem ferner, als die Schuld immer bei anderen zu suchen. Deshalb soll das hier auch keine Rechtfertigung sein, keine Entschuldigung oder so etwas. Dass ich Ulrike rausgeschmissen habe, ist Fakt. Aber auch Schnee von gestern. Kann man nicht mehr ändern. Ist einfach so.

Aber sie ist mir in den letzten Monaten, ja, Jahren erheblich auf die Nerven gefallen. Dabei hat unsere Beziehung so gut angefangen. Zumal wir beide von dieser Verbindung profitierten. Vielleicht hätte sie nie jemanden gefunden, der bereit gewesen wäre, sie zu heiraten. Und ich hätte mit einiger Wahrscheinlichkeit keine Ehefrau gefunden, die von Hause aus dermaßen begütert ist. Natürlich fiel es mir schwer, ihrem selbstherrlichen, ewig kritisierenden Herrn Vater nach dem Mund zu reden und mit ihrer völlig durchgeknallten Mutter schön zu tun. Aber, was tut man nicht alles.

Man kann übrigens nicht sagen, dass Ulrike hässlich ist. Gut, niemand würde sagen, sie sei eine Schönheit, bestenfalls könnte man sie apart finden. Ohne jetzt ins Detail zu gehen: Mit den teuren Klamotten, die sie immer trägt, macht sie trotz ihres Gesichts und ihrer Figur eigentlich etwas her. Wirklich unangenehm fand ich von Anfang an nur ihre Stimme. Ein schrilles Organ, das sich einem nach wenigen Minuten ins Hirn fräst. Nun konnte ich ihr ja durchgehend den Mund verbieten. Wobei das unter Selbstschutzgesichtspunkten sicher angemessen gewesen wäre; Notwehr, quasi. Also ließ ich mir eine Reihe von Maßnahmen einfallen, sie nur selten hören zu müssen und sie möglichst nur im Dunklen unbekleidet zu sein. Im Bett ist sie übrigens ganz okay, da kann ich im Nachhinein nicht meckern.

Erstens erfand ich eine chronische Migräne. Immer wenn sie ansetzte, eine längere Erzählung anzubringen, verzog ich das Gesicht, fasste mir mit der Rechten an die Schläfe und sagte etwas wie: Schatz, jetzt nicht, ich glaube ich bekomme einen Anfall. Rücksichtsvoll war sie ja, gut erzogen, höflich und, ja, voller Empathie. Dann bog ich ihr bei, dass eine gewissen Darmkrankheit es nötig mache, zwei unterschiedliche Badezimmer zu benutzen. Und sehr früh in unserer gemeinsamen Zeit gestand ich ihr, mich nackt zu schämen. Was überhaupt nicht stimmt. Ich betrachte meinen Körper gern im Spiegel und bin für meine zweiundvierzig Jahre dank regelmäßigen Trainings noch ganz schön knackig. Und mein Penis muss keinen Vergleich fürchten was Länge und Umfang angeht.

Nun ist sie weg, und mir geht es deutlich besser. Weil sie mir das Haus überschrieben hat, genieße ich den ganzen Luxus, die großen Räume, die Terrasse, den Garten, die wertvolle Inneneinrichtung und das alles jetzt allein. Eine Haushälterin habe ich mir zugelegt, eine Dame jenseits der Sechzig, der ich verboten habe, mich jemals anzusprechen und die mir Mails schicken soll, wenn ich etwas zu entscheiden habe. Weil sie das aber nicht kann, habe ich zugestimmt, dass sie mir Zettelchen schreibt. So lege ich fest, was sie mir zu kochen und was zum Frühstück und Abendessen in der Küche bereitzustehen hat. Ich schreibe ihr auf, welche Kleidungsstücke sie rauslegen soll, welche davon in welchem Rhythmus gewaschen und gereinigt werden sollen. Außerdem bekommt sie von mir täglich einen Einkaufszettel. Gut, dass sie ein eigenes Auto hat, sonst wüsste ich nicht, wie sie das ganze Zeug herbeischaffen sollte.

Ich gehe wenig aus, weil es zuhause eigentlich am schönsten ist. Ich schaue viel fern oder genieße stundenlang Filme, Serien und auch Videospiele. Bin ich einsam, lass ich mir ein Mädchen kommen, und bei äußerster Langeweile widme ich mich meinen Hobbies: Training in meinem eigenen Studio, radrennfahren auf dem Simulator, Automodelle basteln. Leider schlafe ich schlecht, seitdem Ulrike nicht mehr da ist. Selbst wenn eine dieser Escort-Damen über Nacht bleibt, was mich ein Vermögen kostet, wache ich oft gegen drei, vier Uhr am Morgen auf und kann nicht wieder einschlafen. Dann gehe ich den Wohnraum und setzte mich an den großen Esstisch.

Seit Kurzem bin ich dabei nicht allein. Mein Vater sitzt mir gegenüber. Er hat den Stuhl schräg vom Tisch weggerückt, schlägt die Beine übereinander und hat den rechten Unterarm auf der Tischplatte abgelegt. Das Problem ist, dass er schon seit über zehn Jahren tot ist. Das wird der Grund dafür sein, dass er – Wie soll ich es ausdrücken? – halb durchsichtig ist. Jedenfalls kann ich den Kamin hinter ihm durch ihn hindurch erkennen. Und auch den Stuhl, auf dem er sitzt. Er trägt immer dieselbe grünliche Cordhose, ein weißes Oberhemd und eine offene graue Strickweste. Genauso lief er in seinen letzten Jahren herum. Da war er nicht nur schon Witwer, sondern auch arbeitslos, weil ihm seine Firma nach zweiundzwanzig Jahren gekündigt hatte. Also hockte er in seiner winzigen Bude und wartete auf die Frührente – in Cordhose und Strickweste.

Natürlich habe ich mich um ihn gekümmert, hab ihn alle zwei, drei Monate besucht und ihm dann immer eine Flasche Korn mitgebracht. Oder Süßigkeiten. Einmal im Jahr habe ich ihn zum Essen ausgeführt in dieses urige Lokal gleich um die Ecke, das eigentlich mal eine Pommesbude war. Geredet hat er nie viel, gejammert überhaupt nicht. Auch wenn er jetzt halb transparent an meinem Tisch sitzt, sagt er nichts. Er schaut mich immer nur vorwurfsvoll an. Diesen Blick kann man nicht ignorieren. Und wenn ich versuche aufzustehen, trommelt er mit den Fingern auf der Tischplatte und schüttelt ganz leicht den Kopf.

Ich weiß, was er sagen würde, wenn er denn etwas sagen würde. Ja, er hat ja auch in vielen Punkten Recht. Natürlich ist er parteiisch, weil er Ulrike ganz gern mochte. So wie ja die meisten Leute sie mochten, weil sie immer so fröhlich war und aufmerksam. Sie hat ja sogar für ihn gekocht, und weil ich keine Zeit hatte, ist sie rübergefahren, hat ihm die Mahlzeit gebracht und mit ihm zusammen gegessen. Dass er mich für einen Schmarotzer hält, weiß ich ganz genau. Sicher ist er der Ansicht, ich könne ja wohl arbeiten gehen und eigenes Geld verdienen. So wie er es Zeit seines Lebens getan hat. Selbstverständlich könnte ich das, habe ja schließlich einen ordentlichen Beruf gelernt und könnte jederzeit in jedem Maschinenbaubetrieb anfangen. Man würde mich mit Kusshand nehmen.

Insgesamt würde ich seinen Gesichtsausdruck als missbilligend bezeichnen. Dabei hätte ich es so gern, dass er mein Leben so wie es ist einfach akzeptiert. Er muss meine Faulenzerei ja nicht gutheißen. Nur einfach kommentarlos hinnehmen und nicht so gucken. Was soll ich denn tun, damit er zufrieden ist? Damit er wieder dahin verschwindet, wo er herkommt. Soll ich etwa Ulrike wieder ins Haus holen und mich am Ende gar entschuldigen? Nur damit ich nachts wieder durchschlafen kann? Muss ich mir wirklich einen Job suchen? Nur damit er mich in Ruhe lässt? Ist der Preis nicht ein bisschen hoch für ein wenig Seelenfrieden?

Schreibe einen Kommentar