Letzte Arbeit (2)

Sie erledigte das Studium wie eine Maschine: mit gleichmäßiger Energie in gleichförmigen Abläufen und vollkommener Konzentration. Da ihr an Parties, an Abenden in Gastwirtschaften, überhaupt an den üblichen Freizeitvergnügungen anderer Studenten wenig gelegen war, überholte sie die Kommilitonen mit Leichtigkeit, erwarb das Diplom vorzeitig mit Bestnote und Auszeichnung und fand unter diesen Voraussetzungen umgehend einen Job. Dass sie in ihrer Heimatstadt bleiben und weiter bei den Eltern wohnen konnte, nahm sie ohne große Begeisterung hin. Rasch wurde sie zur Hoffnungsträgerin ihrer Abteilung und erfuhr von allen Vorgesetzten jegliche Förderung. Weil sie zudem als einzige Kollegin nichts gegen viele Reisen hatte, machte sie innerhalb von kaum drei Jahren Karriere. Allerdings löste ihr unverhandelbarer Wunsch nach einer Netzkarte für die Bahn anstelle des ihr zustehenden Dienstwagens der gehobenen Mittelklasse zumindest in der Personalabteilung Verwunderung aus. Und weil sie ungern flog, fuhr sie auch Ziele mit dem Zug an, die sie mit dem Flugzeug schneller und bequemer erreicht hätte. Ja, um beispielsweise nach Rom zu kommen, nahm sie einen Tag Urlaub, den sie dann in deutschen und italienischen Zügen verbrachte. Die Rückfahrt lag ohnehin auf eimem Wochenende. Irgendwann lernte sie Jörg kennen, und zwischen ihr und ihm entwickelte sich etwas.

Jetzt nach mehr als dreißig Jahren fragte sie sich bisweilen, was sich zwischen Jörg und ihr entwickelt hatte. Ob es das war, was man eine Beziehung nennt, ob es nur ein Verhältnis sei und ob sie inzwischen zu einem Paar geworden waren. Immer noch lebten sie in getrennten Wohnungen und erst seit wenigen Jahren in derselben Stadt. Gut zwanzig Jahre lang verlebten sie lediglich die Wochenenden und die zwei Urlaube im Jahr gemeinsam. Beiden war bewusst, wie unterschiedlich ihre Interessen und Lebensrhythmen waren. Und beide verspürten über die ganze lange Zeit wenig Lust, sich dem anderen zuliebe zu ändern. Weil Jörg eher ungern reiste, war sie es, die sich freitags am Abend in den ICE setzte, um kurz nach Mitternacht in der Stadt, in der Jörg lebte, anzukommen. Montags fuhr sie dann in aller Frühe zurück. Natürlich war er der erste Mann, mit dem sie schlief. Was ihr kein besonderes Vergnügen bereitete, sodass sie selbst eigentlich nie die üblichen Handlungen vollführte, um ihn zum Sex zu verführen. Er wiederum hatte es vor etwa zehn Jahren aufgegeben und sorgte anderweitig für seine Befriedigung.

Den einzigen Luxus, den sie sich leisteten, waren teure Urlaubsreisen. Während Jörg von Kreuzfahrten schwärmte, die sie mit geringem Spaß über sich ergehen ließ, fand sie ihr Glück in exotischen Reisen mit der Eisenbahn. So durchquerten sie die Sowjetunon mit der Transibirischen Eisenbahn, reisten in Etappen quer durch die USA, dann durch Kanada und schließlich auch von Mexiko bis nach Alaska. Die Tour mit der Bahn rund um den australischen Kontinent betrachtete sie insgeheim als das Schönste, was ihr das Leben bis zu ihrem neunundfünzigsten Lebensjahr geschenkt hatte. Lediglich die Jungfernfahrt mit dem TGV von Stuttgart bis nach Beziérs konnte da mithalten. Dann traf sie Albert, und alles änderte sich.

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Er hat sich in der Halle einen Platz auf dem Mäuerchen rechts von der Bühne gesucht und kann am Pfeiler vorbei den Keyboarder und den Bassissten sehen. Drinnen ist es nicht viel besser als draußen. Der Saal ist mit weiß-geflammten Marmor ausgelegt, und Albert fragt sich, wie sie trotzdem diese Akustik hinbekommen. Wobei es bei dieser Truppe eigentlich egal ist. Gut ein Dutzend Musiker erzeugen eine dicke, hohe Mauer aus Geräusch, aus der spitze Moniereisen ragen. Ohne Pause improvisieren die Männer, jeder gegen jeden. Er stützt sich mit der Rechten auf dem Stein ab und spürt das Pflaster in der Handfläche. Beim Abwaschen ist ihm vor ein paar Tagen ein Glas zerbrochen. Er hat versucht, es aus dem Spülbecken zu holen und dabei in den spitzen und scharfen Überrest gegriffen. Angeregt durch das heiße Wasser hat es stark geblutet. Mit dem Geschirrtuch hat er sich notdürftig verbunden, dann im Bad die Wunde gereinigt und verpflastert.

So etwas ist ihm davor lange nicht mehr passiert. Seine letzte OP liegt auch schon mehr als 15 Jahre zurück. Da hat ihm der Chirurg die Metallplatte aus dem Unterschenkel geholt, die viel zu lange drin geblieben war. Folge eines Bruchs des Schienenbeins. Den hatte er sich zugezogen, weil er meinte, mit einem Brace am rechten Knie weiterhin Badminton spielen zu müssen. Er liebte diesen Sport, besser: dieses Spiel, das darauf ausgelegt ist, den Gegner psychisch zu zerstören. Ungefähr wie beim Schach, das er in seiner Jugend intensiv betrieben hatte. Bei einem offenben Turbier war es, als im Doppel mit seinem Bruder einen Lob erlaufen wollte, der exakt auf die hintere linke Ecke des Feldes zu fallen drohte. Beim Ausfallschritt landete er nicht auf der Sohle, sondern dem Außenrist. Unhappy triad nannte schon der Arzt in der Notfallambulanz das. Tatsächlich waren alle Bänder gerissen und die Menisken beschädigt. Aber nur sechs Monate nach dem Unfall stand er wieder auf dem Platz.

Jetzt setzt der Trompeter zu einem Solo mit hohen Frequenzen an und bohrt sich damit in Alberts Körper. Das Tier in seinem Bauch wacht auf, Reflux setzt ein, und er hat sofort starke Schmerzen. Leicht gekrümmt geht er ganz außen am Publikum vorbei zum Ausgang, durchquert das Foyer, lässt sich einen Stempel auf die Hand drücken und macht draußen in der milden Luft seine Übungen. Drei Tabletten hat er noch in der Hosentasche. Er kauft sich ein Bier an der Bar und spült das Medikament damit herunter. Bis 320 muss er zählen, das weiß er. Denn nach etwas mehr als fünf Minuten beginnen die Pillen zu wirken. Die Bestie zieht sich zusammen und legt sich wieder schlafen. Er holt sich noch ein Kölsch und geht wieder in die Halle, wo gerade Stagehands dabei sind, die Bühne für die nächste Band zu bereiten. Er bewundert die jungen Männer, fast alle mit dunklen Cargohosen und obskuren Tour-T-Shirts bekleidet, die präzise Handgriffe ausführen, dabei nicht reden, sondern mit kleinen Zeichen miteinander kommunizieren. Der Stagemanager schaut auf seinen Tablet-Computer und kontrolliert die Positionen der Instrumente und Mikrofone. Die neue Band, ein Quintet, beginnt ohne Ansage und Vorwarnung. Eine schwere, schwarze Maschine rollte durch den Saal und walzt alles nieder. Aus der Gewalt erhebt sich der Ton der verzerrten Gitarre wie die Stimme eines Opfers.

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