Manchmal ist sich Luise nicht sicher, ob sie sich die ganze Geschichte nur eingebildet oder ausgedacht hat, ob es überhaupt eine Person namens Cho gab. Ob sie diese Person überhaupt gekannt hat. Ob sie Cho jemals begegnet war. Ihr ist bisweilen nicht einmal klar, ob sie je in Shanghai war. Ob sie sich dort in Cho verliebt hat. Und er sich in sie. Aber ganz unabhängig davon, ob es diese Begebenheit gegeben hat, weiß sie, dass die Sache massiven Einfluss auf ihr Leben hatte. In ihrer Erinnerung ist sie 1943 als junges Mädchen, kaum zwanzig Jahre alt, mit ihren Eltern nach China gekommen, die dort als geduldete Missionare wirkten. Dass sie rasch Mandarin gelernt hat und auf die katholische Mädchenoberschule gegangen ist, obwohl Vater und Mutter Baptisten waren.
Es gibt keine Beweise dafür. Oder ehemals existierende Beweise sind verlorengegangen. Kein einziges Foto zeigt sie mit den Eltern in Shanghai oder irgendwo sonst in China. Briefe von oder nach Shanghai liegen nicht vor. Nicht einmal eine Postkarte mit einer chinesischen Briefmarke. Und Menschen, die über die damalige Zeit Auskunft geben könnten, kennt Luise nicht. Alle älteren oder gleichaltrigen Verwandten sind längst tot. Sie ist die einzige Überlebende.
Vor wenigen Monaten hat sie die ganze Wohnung durchwühlt, den Keller und den Abstellraum, den sie zuvor mehrere Jahre nicht geöffnet hat. Irgendeinen Gegenstand müsste es doch geben, dachte sie, der mit Cho zu tun hat. Bei drei, vier Dingen kamen ihr schwache Erinnerungen an die Jugendzeit. Mehr nicht. Vor allem hat sie gehofft, ein Tagebuch aus jenen Jahren zu finden, denn sie wusste genau, dass sie damals geheime Aufzeichnungen gemacht hatte. Wie seit ihrem zwölften Lebensjahr und bis zu dem Tag, an dem sie neunzig geworden ist. Luise vermutet, dass Cho die Liebe ihres Lebens war. Immerhin hat sie nach ihm nie wieder einen Mann geliebt. Nie hat sie sich je verliebt. Und geschlafen hat sie mit keinem Kerl, auch wenn es genügend Burschen gab, die ihr nachstellten. Noch als sie ungefähr fünfundsiebzig war, kamen Herren, die um sie warben. Aber sie ließ jeden abblitzen. Dass sie jedoch keine Jungfrau mehr war, hatte eine Gynäkologin lange vor ihren Wechseljahren zweifelsfrei festgestellt.
Ihr belegbares Leben setzt etwa 1959 ein. Sie besitzt ein Tagebuch aus dieser Zeit, in das sie auch Fotos und Zeitungsausschnitte geklebt hat. Da ist sie Mitte Dreißig und Lehrerin für Musik und Handarbeit am St.-Ursula-Gymnasium. Einer der ersten Einträge dreht sich um die Prozedur des Konvertierens zum Katholizismus. Die Oberin hat sie eingestellt, obwohl sie Protestantin ist, aber ihr nahegelegt, zum rechten Glauben überzutreten. Da Luise nicht religiös dachte und fühlte, fiel ihr es leicht, eine andere Konfession anzunehmen. Es gibt im Tagebuch ein winziges unscharfes Foto von dem Moment, in dem sie zum ersten Mal die heilige Kommunion empfangen hat. Ein größeres Bild zeigt sie mit dem gesamten Kollegium auf dem Schulhof, ein klassisches Gruppenfoto, die Mehrzahl der Lehrerinnen sind Nonnen. Dann der Zeitungsausschnitt mit einer Konzertkritik. Ihr Professor, der großes Banzas, der Doyen der modernen, kirchlichen Orgelmusik, hatte im Dom gespielt. Immer wieder Fotos von ihr mit Schülerinnen verschiedenen Alters an unterschiedlichen Orten in jeweils anderen Jahreszeiten. Luise lächelt nie auf diesen Bildern, sondern trägt meist einen eher distanzierten Blick. Männer kommen nicht vor.
Auf ihre Liebesgeschichte mit Cho war sie vor wenigen Jahren durch einen Zufall gestoßen. Sie hatte mit Hilfe ihrer Nichte, die sie mit dem Auto zu einem Kaufhaus fuhr, einen neuen Plattenspieler angeschafft, weil sie Sehnsucht nach der vielen schönen Musik aus ihrer Sammlung hatte. Sie besaß mehrere Hundert Alben – viel Klassik, nicht wenig Jazz und Folklore sowie Musik, von der sie nicht mehr wusste, warum sie ihr einmal gefallen hatte. Abend für Abend schaltete sie die Stereoanlage ein, legte eine Platte auf, setzte sich in ihren grün-samtenen Ohrensessel und genoss die Klänge. So hörte Luise Langspielplatte um Langspielplatte und stieß nach ein paar Wochen auf zwei Alben, die nicht zum Rest passen wollten. Beide in Hüllen mit merkwürdigen Schriftzeichen. Fremdartige Musik, ungerade Rhythmen, gespielt auf Instrumenten, die sie nicht kannte, gesungen von eigenartigen Stimmen in einer ihr völlig unbekannten Sprache. Wieder und wieder legte sie diese beiden Platten auf, und nach einigen Stunden erschien ihr das Bild eines Mannes.
Sie fand, dass Cho nicht besonders chinesisch aussah. Nur diese besonderen Augen und die großen Gesichtsflächen ließen auf seine Herkunft schließen. Dazu das pechschwarze, glatte Haar. In ihrer Vorstellung nannte sie ihn Cho Min-Sonh und erkannte ihn als etwa gleichaltrig, gebildet und höflich. Sie meinte sich an stille Spaziergänge am Ufer eines breiten, trägen Flusses unter stark belaubten Bäumen, an Stunden auf Blumenwiesen und in kleinen Räumen ohne direktes Sonnenlicht zu erinnern. Sie schien seine Lippen auf ihren, seine Hände auf ihrem Körper, sein Gewicht, seine glatte, kühle Haut zu spüren.
Die meisten Einträge behandeln Ereignisse an der Schule – erfreuliche und unangenehme. Nur ganz selten lassen die Texte Einblicke in Luises Gefühlswelt zu. Zum Beispiel in den Jahren 1971 und 1972, in denen sie häufig über eine junge Kollegin namens Helga schreibt und dabei über deren Vorlieben und Abneigungen Mutmaßungen anstellt. Offensichtlich war sie eng mit Helga befreundet, denn in den beiden Jahren häufen sich Eintragungen über gemeinsame Kinobesuche, Konzerte, aber auch Wanderungen. Zum letzten Mal erwähnt sie Helga in einem wütenden Text, der damit endet, dass sie die Freundin und ihren Kerl zum Teufel wünscht.
Niemand weiß von Cho, und nie hat sie jemandem von ihm erzählt. Nur einmal hätte sie die Geschichte um ein Haar verraten. Mit ihrer besten Freundin Margarete, Lehrerin wie sie, aber mit anderen Fächern und an einer anderen Schule, hatte sie im Sommer einen Ausflug an die Mosel unternommen, und sie waren in eine Weinprobe geraten. Schnell wurde sie, die Alkohol nicht gewohnt war, mehr als beschwipst. Da strömte eine Gruppe Asiaten in das Gartenlokal, und ein Mann unter ihnen sah in ihren Augen aus wie der junge Cho. Sie hatte mit dem Finger auf diesen Mann gezeigt und zu Margarete gesagt: Schau mal. Zum Glück hatte die Freundin nichts davon mitbekommen.
Ab 1978 behandelt ihr Tagebuch nur noch banale Dinge. Sie trägt ein, was an ihrem Tagesablauf ungewöhnlich war, listet alle Käufe, dazu die Bücher, die sie gelesen und die Platten, die sie gekauft hat. Zeitungsausschnitte fehlen ganz, und die Klassenfotos, auf denen sie zu sehen ist, unterscheiden sich kaum noch voneinander. Ganz plötzlich in einem Eintrag aus dem Januar 1995, sie ist kurz zuvor dreiundsechzig geworden, beginnt sie, über ihr Leben zu schreiben, zu reflektieren, wie es ihr ergangen ist. Sie berichtet über ihre Träume und Wünsche, Verletzungen und Enttäuschungen. Aber auch diese Aufzeichnungen gehen nicht weiter zurück als bis ungefähr 1955. Shanghai, ihre Eltern und Cho spielen in diesen Texten keine Rolle.
Vielleicht war es aber auch gar nicht China, denkt sie ab und zu, sondern Korea oder Japan. Und dann heißt der Mann auch nicht Cho. Aber ihr fällt kein anderer Name ein. Sie ist nicht einmal sicher, dass die Eltern Missionare waren und dies in Asien. Möglicherweise war es Afrika oder Indien. Dann tauchen Namen auf wie N‘gombo und Shivji, Daler und Idi, Roger und Kalamander. Sie hat dann Nairobi vor sich, Colombo, Goa oder Kalkutta. Sie holt den Weltatlas aus dem Regal und sucht die Orte, versucht sich an Reisen zu erinnern. Und vor allem an ihre Eltern, die beide ungefähr 1952 oder 1954 gestorben sind. Oder bei einem Autounfall umgekommen. Sie vermutet, eine Schwester zu haben. Auf keinen Fall einen Bruder. Vielleicht zwei Schwestern oder auch drei.
Luise hat ihre Pensionierung lange hinausgezögert und musste erst mit siebzig endgültig den Schuldienst quittieren. Physisch baute sie zunächst stark ab, aber ihre Freundin trieb sie an, zum ersten Mal im Leben so etwas wie Sport zu treiben, mit ihr Wanderungen zu unternehmen und in der Stadt das Fahrrad zu benutzen. Jetzt hat sie den Eindruck, ihr Körper habe sich in den vergangenen siebzehn, achtzehn Jahren kaum noch verändert, zumal sie von schweren Krankheiten verschont geblieben ist. Ihren Geist hat sie Zeit Lebens trainiert durch Auswendiglernen, Lesen von fremdsprachigen Büchern und Lösen von Rätseln aller Art, denn Luise fürchtet nur eines: der Demenz zu verfallen.