Als sich Metin in Densise verliebte, bekam niemanden aus seinem Umfeld es mit. Die Menschen, mit denen er zu tun hatte, hätten es auch nicht verstanden. Zu unmöglich war diese Liebe. Damals lebte er im Haus seines Cousins Can in einem Vorort. Drei Jahre zuvor war seine Frau gestorben. Der einzige Sohn hatte seine Eltern schon mit siebzehn verlassen und war in das Dorf an der Schwarzmeerküste zurückgekehrt, in dem seine Großeltern wohnten. Außer Can, seiner Frau, den sechs Kindern und ihm hatten noch zwei Neffen und der alte Onkel Zimmer im Haus. Metin war einundvierzig und arbeitete seit mehr als zwölf Jahren als Busfahrer. Als er an einem sonnigen Junimorgen Denise in ihrem Rollstuhl an der Endhaltestelle sah, tat er, was vorgesehen war. Er holte die Rampe aus ihrem Fach, legte sie am mittleren Ausstieg an und half ihr in den Bus zu kommen. Dabei achtete er nicht besonders auf die junge Frau. Drei Haltestellen lang waren sie allein im Bus, und er bemerkte, dass sie ihn über den Spiegel genau beobachtete. Ihre schwarzen Augen begannen, ihn zu hypnotisieren, sodass er froh war, als weitere Fahrgäste zustiegen.
Denise war gerade einundzwanzig geworden, hatte vor etwas mehr als einem Jahr ihre Ausbildung zur biologisch-technischen Assistentin abgeschlossen und sofort eine Teilzeitstelle im Labor einer internationalen Medizinfirma etwas außerhalb der Stadt bekommen. Sie war nach einem Unfall in der Kindheit querschnittgelähmt und wohnte bei den Eltern in einem kleinen Einfamilienhaus in der Nähe der Universität. Anfangs hatte der Vater, der bereits im Ruhestand war, sie jeden Morgen zur Arbeit gefahren, aber inzwischen hatte sich seine Krankheit so weit verschlimmert, dass er das nicht mehr tun konnte. Also war sie auf den Bus ausgewichen. Hatte entdeckt, dass sie ihr Ziel von der Endhaltestelle an der Uni aus ohne Umsteigen erreichen konnte, wobei sie jeweils zehn Minuten Weg zurückzulegen hatte. Seit Mai arbeitete sie montags und dienstags volle acht Stunden und am Freitag in der Frühschicht noch einmal vier Stunden.
Metin und Denise sahen sich also den Sommer über dreimal die Woche. Zufällig hatte sie herausgefunden, dass sie auch auf dem Rückweg in seinem Bus fahren konnte, wenn sie nur ein bisschen früher ginge. Denn die letzte Fahrt seiner Schicht trat er so an, dass er meistens passend an der Haltestelle in der Nähe ihrer Arbeitsstelle ankam. Nach einer Woche grüßten sie sich. Zwei Wochen später hatten sie Namen ausgetauscht. Ungefähr in der ersten Augustwoche unterhielten sie sich zum ersten Mal. Das taten sie dann immer während der Fahrt sofern der Bus leer war. So erfuhren sie gegenseitig, was ihnen im bisherigen Leben zugestoßen war. Ihr gefiel der große Mann mit dem markanten Gesicht, der nicht besonders türkisch aussah und außerdem ein fast akzentfreies Deutsch sprach. Sie selbst war Kind von Auslandsdeutschen, die erst in den Siebzigerjahren aus Rumänien eingewandert waren. Ihre Mutter sprach so gut wie kein Deutsch, weil sie nicht zu den Siebenbürger Sachsen gehörte, sondern aus einer Roma-Familie stammte. Von ihr hatte Denise das dichte schwarze Haar, die typische Nase und die dunklen Augen geerbt.
Später vermutete Metin, er habe sich vor allem in ihre Stimme verliebt, einen kräftigen Alt mit einem leichten Kratzen. Oder ihr Lachen, das manchmal beinahe ohne Anlass aus ihr herausbrach. Er hätte sich nie getraut zu fragen, weshalb sie im Rollstuhl saß, aber das hatte sie ihm recht bald und in nüchternen Worten erzählt. Im September kaufte er seinem Freund Mustafa den Transit ab und richtete ihn so ein, dass er Denise und ihren Rollstuhl mitnehmen konnte. Er wurde ihr persönlicher Chauffeur, brachte sie zum Sport, und im Oktober unternahmen sie den ersten Ausflug ins nahe gelegene Mittelgebirge. Er verfuhr sich, und so irrten sie auf schmalen Nebenstraßen herum bis sie ihm mitteilte, sie müssen nun bald auf eine Toilette. Und wenn sie keine Toilette fänden, müsse er ihr eben helfen. Sie aus dem Rollstuhl zu heben oder wieder hinein zu setzen, war er inzwischen gewohnt. Aber die Situation in einem Waldweg bei leichtem Nieselregen machte ihm Angst.
Denise lachte und erteilte ihm Anweisungen. Metin tat, was er sollte, und plötzlich war es ihm überhaupt nicht peinlich, eine erwachsene Frau abzuhalten wie ein Kleinkind. Sie fanden zurück auf die Bundesstraße und hielten an einem Gasthof am Rande einer kleinen, verschlafenen Stadt. Es war beinahe elf Uhr, aber die Küche hatte noch geöffnet. Lass uns hier übernachten, schlug sie vor, es ist zu spät, jetzt noch den ganzen Weg zurück zu fahren. Sie lagen Arm im Arm im Bett und küssten sich zum ersten Mal. Du machst das gut, sagte sie am nächsten Morgen. Und: Ich mag dich sehr. Ihre Eltern wussten nur, dass Denise endlich einen Freund hatte. Noch dazu einen, der sie durch die Gegend kutschierte. Aber nie holte Metin sie direkt zuhause ab, sondern wartete eine Straße weit im Wendehammer auf sie. Natürlich beobachteten die Nachbarn das merkwürdige Paar und dachten vermutlich, es handele sich um einen Pfleger, der sie zur Therapie abholte.
Als Metin sie im November zum ersten Mal mit ins Haus seines Cousins brachte, nahm kaum jemand Notiz davon, dass sie im Rollstuhl saß. Die Kinder kamen und gingen, die Schlafgäste auch, der Onkel saß auf seinem Stammplatz am Tisch, und es gab Essen und Trinken. Weder Can, noch seine Frau oder der Onkel wollten wissen, wer genau Denise war, was sie tat und weshalb Metin sie mitgebracht hatte. Selbst als sich das Paar in sein Zimmer zurückzog, sagte niemand etwas. Erst am übernächsten Tag sprach ihn der Cousin an: Eine schöne Frau. Wirst du sie heiraten? Er wich der Frage aus, und hielt vier Tage Abstand von Denise. Am Telefon sagte er ihr, er sei krank, er würde sich wieder melden, wenn es ihm besser ging. Tatsächlich musste er nachdenken. Ja, er war verliebt in sie. Aber, was bedeutete das schon, wenn sich ein Witwer mit über vierzig Jahren in eine Zwanzigjährige verliebt? Grundlage für eine Ehe war das nicht; niemand in seiner Familie hatte je aus Liebe geheiratet.
Er hatte ja Gülcan damals auch nicht aus Liebe geheiratet. Überhaupt war er nie zuvor wirklich verliebt gewesen. Seine Frau und er waren aus Vernunftgründen die Ehe eingegangen, und es war für beide eine gute Entscheidung, weil sie beide ehrlich und friedlich waren und es verstanden, gut miteinander umzugehen. Vermutlich wären sie viele Jahre lang verheiratet geblieben, wahrscheinlich wäre er ihr einziger Gatte und sie seine einzige Gattin geblieben. Aber dann kam der Krebs, und sie hatte viel zu lange zu leiden. Und trotzdem war er nach Gülcans Tod kaum in der Lage mehr zu trauern, als es der Anstand gebot. Eigentlich trauerte er mehr darum, dass sein Sohn es vorgezogen hatte, in die Türkei zu gehen als bei ihm zu bleiben. Er hätte so gern ein Geschäft gemeinsam mit ihm eröffnet. Weil er nicht viel mehr konnte als Autofahren, hatte er an einen Kurierdienst gedacht oder eine kleine Spedition. Oktay, der immer ein hervorragender Schüler war, hätte sich um die Finanzen kümmern können. Aber jetzt war er Fischer geworden wie sein Großvater und sein Urgroßvater und alle anderen männlichen Vorfahren.
Nach der Zeit des Nachdenkens nahmen sie ihre tägliche Routine wieder auf. Er fuhr sie im Bus zur Arbeit und manchmal auch wieder zurück, und die Wochenenden verbrachten sie gemeinsam. So ging es durch den Winter und das halbe Frühjahr. Viele Nächte hatten sie in einem Bett verbracht, und er hatte gelernt, sie so zu massieren, dass es ihr ein großes Vergnügen bereitete. Auch sie wusste inzwischen, wie sie ihn anzufassen hatte. Aber am schönsten war es für beide, nach dem langen Gutenachtkuss Arm in Arm einzuschlafen. Nie sprachen sie über Liebe, nie redeten sie von einer gemeinsamen Zukunft. Sie nahmen beide die Dinge wie sie waren. Und das war gut so. Bis zu dem Tag, an dem sie ihm eröffnete, sie würde für ein Jahr nach Kanada gehen. Die Firma hatte ihr ein grandioses Angebot gemacht, wollte sie fördern und für ihre Weiterbildung sorgen. Der Aufenthalt im Stammhaus in Toronto sei dabei unumgänglich.
Sie wählt einen Abend, an dem er sie zum Training begleitete. Auf dem Rückweg sagte sie: Fahr doch noch runter an den Fluss. Es gab eine Stelle, an der er bis ganz ans Wasser fahren konnte. Hier hatten sie im Sommer oft geparkt und schweigend auf den Strom geblickt bis es genug war. Als sie ihm nun von ihrem Jahr in Kanada berichtet hatte, brach er in Tränen aus, und sie konnte ihn lange nicht beruhigen. Wie soll ich ohne dich leben? sagte er. So wie du gelebt hast, bevor wir uns kennengelernt haben. Da brach es aus ihm heraus: Aber ich liebe dich doch. Denise schwieg eine Weile und sagte dann: Ich dich auch. Und ich werde jeden Tag an dich denken. Wenn ich zurück bin, werden wir wieder ein Paar sein. Genau wie jetzt.