Als Hans O. in diesen Märztagen draußen in der Sonne saß, einen starkgestrickten Wollschal gegen den scharfen Wind um den Hals geschlungen, da musste er an Thomas Mann denken, an den Zauberberg. An Lungenkranke, die hoch in den Schweizer Bergen in der Frühlingssone auf Terrassen liegen, mit Decken gegen die Kälte geschützt. Man müsste öfter an Thomas Mann denken, dachte er, und dass er selbst vielleicht ein Dichter werden könnte. Denn sein Versuche in der Prosa waren samt und sonders gescheitert. Da schien es ihm erfolgversprechender, sich an der Dichtkunst zu versuchen. Und begann in der Märzensonne sich wärmend mit dem Nachdenken über die Poesie. Als Ingenieur hatte man ihm allerdings im Ingenieursstudium die Poesie gründlich ausgetrieben. Mathematik und Physik bestimmten sein Denken, Formeln, Gleichungen und Konstruktionszeichnungen. Dafür hatte ihm seine Ausbildung das nötige Rüstzeug mitgegeben, Ziele durch systematisches Arbeiten zu erreichen.
Also fing Hans O. an, das Dichten aus der Sicht eines Technikers zu betrachten. Fragte sich zunächst, welche Themen sich denn poetisch behandeln ließen. Leben und Tod, dachte er, das wären Tatsachen, über die zu dichten sich lohnen würde. Werden und Vergehen, der ewige Kreislauf des Universums. Und weil er zufällig an einem Meer saß, kam er auf die Gezeiten als Symbole für die gundlegenden Dinge der Welt. Ganz spontan entstand so ein Zeilenpaar, das allerdings nie zu einem vollständig Gedicht anwachsen würde:
„Ebbe und Flut // Elend und Mut“
Rasch schrieb er diese sechs Wörter in sein Notizbuch und begann darüber zu meditieren, während sich der Sonnenball langsam dem Horizont der See näherte und ihn die Kälte von den Füßen her ergriff. Ihm fiel auf, dass die deutsche Sprache eine Fülle an weiteren Wörtern bereithielt, die sich auf „Flut“ reimten: Wut, gut und Gut, tut, Blut, Hut, Brut, lud, Ruth und so weiter. Dass er vermutlich einen Vorrat an Reimen zur Hand hätte, mit dem er die benötigte Anzahl Zeilen für ein ordentliches Gedicht zusammenbekäme.
Gleichzeitig erkannte er das Prinzip dieses möglichen Poems. Er müsste lediglich ein zweisilbiges Wort an den Beginn einer Zeile stellen und mit dem Reimwort verknüpfen. Dafür böten sich „Und“ und „Oder“ an. In Gedanken experimentierte er mit diesem Bauplan und fand weitere Zeilen. Bis ihm auffiel, dass man die beiden Substantive auch anders in Beziehung miteinander setzen könnten – zum Beispiel in
„Freude, nicht Wut“
Dann kam er auf „statt“ und spürte, dass es noch viel mehr Möglichkeiten gäbe. Denn auch
„Feuer macht Glut“
erfühlte das unausgesprochene Gesetz seines Dichtens. Nachdem das Regelwerk auch mit anderen Reimwörtern funktionierte und mit Wörter mit mehr als zwei Silben, rief er gleich seinen Freund Jörn Q. an, den Informatiker, und berichtete von seinen Erkenntnissen.
Fünf Jahre später steht Hans O. in einem sehr großen Büroraum mit bodentiefen Fenstern und schaut auf den Hafen hinab, der an diesem Tag im März im Dunst verschwimmt. Er bereitet auch auf das Meeting mit den Leuten von Thinking Capital vor, die sich mit drei oder vier Millionen Dollar an der Firma beteiligen wollen, die Jörn und er vor dreieinhalb Jahren gegründet haben. Denn als die erste Betaversion von MyPoem marktreif war, hatten sie gleich eine Menge Risikokapital eingesammelt, um das Produkt angemessen vermarkten und weiterentwickeln zu können.
Nun hatten sie vor wenigen Tagen MyPoem 4.0 Pro vorgestellt, eine Software, die das Dichten grundlegend verändern würde, und die Investoren standen Schlange. Die 4er-Version, hatte Jörn den Fachjournalisten gesagt, werden die Poesie im selben Maße verändern wie dies die Schachcomputer und Computerschachprogramme vor dreißig Jahren mit dem königlichen Spiel getan hätten. Denn nun beherrsche MyPoem nicht mehr nur das einfach Reimen und die klassischen Gedichtformen und Metren, sondern können auch frei assozierend dichten, ausgehend von nur drei Schlüsselwörter, die der Nutzer dem Programm vorgeben müsse.
Hans O. denkt an Thomas Mann und Zauberberg und verliert sich in Gedanken darüber, ob nicht auch die Prosa von intelligenten Systemen herstellbar sei. Ob als MyProsa vielleicht ein Werk schreiben können wie „Die Buddenbrocks“. Dabei fällt sein Blick auf eine gerahmtes Blatt Papier an der Wand, den Ausriss aus einem Notizbuch, auf denen die Zeilen zu lesen sind:
„Ebbe und Flut // Elend und Mut“