Von einem meiner Tode

Ob ich tot bin? Keine Ahnung. Kann auch nicht sicher sagen, ob ich gestorben bin. Mein Zustand: nicht bewusstlos, aber ohnmächtig. Ich bin im selben Maß bei Bewusstsein, wie ich es im wachen Zustand bin. Vielleicht handelt es sich um ein Wachkoma. Wobei die Personen, die aus einer solchen Lage zurückgekehrt sind, keine Erinnerung an diese Zeit haben. Natürlich kann ich nicht beurteilen, wie ich momentan auf andere Menschen wirke, also ob die mich als wach wahrnehmen. Denn meine Sinnesorgane sind lahmgelegt. [Lesezeit ca. 2 min]

Ich kann nichts sehen, ich höre nichts, rieche und schmecke ebenfalls nichts, und weil ich keinerlei Zugang zu meinem Körper habe, habe ich auch keine sensuelle Wahrnehmung. Könnte nicht einmal sagen, ob ich überhaupt noch einen Körper habe. Vielleicht hat man mich ja für tot gehalten und kremiert. Möglicherweise ist das auch der Normalzustand nach dem Sterben, dass die Verbindung zwischen dem Bewusstsein und dem Körper gekappt ist. Könnte mir vorstellen, dass das Bewusstsein eines jeden Toten einfach weiter existiert und weiter funktioniert, dass es aber keine Möglichkeit gibt, mit einem anderen Bewusstsein zu kommunizieren.

Es ist ein klaustrophobisches Gefühl, als ob ich in einem engen Gefäß stecke. Wobei ich mich langsam an die Bewegungslosigkeit gewöhne. Nur ungern aber daran, dass mir Sinneseindrücke fehlen und der Austausch mit anderen. Wobei es nicht so ist, als hätte ich keine Bilder mehr im Hirn. Verzeihung: Ein Hirn in einem Schädel habe ich ja nicht mehr, nur dieses Bewusstsein, dass mir Bilder vorgaukeln kann. Besser noch: Ich bin in der Lage, Bilder nach Wunsch zu erzeugen. Die Vorlagen entnehme ich meiner Erinnerung.

Wie mein Denken im aktuellen Zustand sich vorwiegend aus der Vergangenheit speist, aus dem, was ich vor dem Übergang in diese Lage gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt und gefühlt habe. Ja, die Vergangenheit, mein Leben. Eine Zukunft gibt es nicht, und die Gegenwart besteht nur aus dem, was ich im jeweiligen Moment denke. Das ist aber auch das Schöne an diesem zeitlosen Sein, dass ich mich in aller Ruhe mit meinen Erinnerungen befassen kann. Die Beschäftigung mit der Frage, ob ich je aus dieser Lage zurückkehren werde, habe ich schon vor Langem aufgegeben. Falls es dazu käme, würde es wohl so sein wie bei den Wachkomapatienten nach dem Aufwachen. Ich würde mich an nichts aus dieser Phase erinnern.

Also lasse ich meine Fantasie spielen, denke mir was aus, probiere mich an Was-wäre-wenn-Überlegungen auf der Basis meiner Erlebnisse. Nicht so sehr im Sinne der Analyse meiner damaligen Entscheidungen, sondern tatsächlich spielerisch. Wenn sich zum Beispiel Elke doch in mich verliebt hätte, wenn sie nach der Party bei J. doch mit mir ins Bett gegangen wäre, wenn wir geheiratet und Kinder gehabt hätten. Wenn ich aus Verantwortung für die Familie doch die mittlere Verwaltungslaufbahn eingeschlagen hätte. Wenn unser gemeinsames Leben schön, aber ereignisarm verlaufen wäre.

Zugegeben: Manchmal langweile ich mich. Wenn mir nichts mehr einfällt, wenn mir der Vorrat meiner Erinnerung ausgeschöpft erscheint, wenn ich denke, alle Ereignisse schon ins Bewusstsein zurückgeholt zu haben. Dann wünsche ich mir, ich könnte einfach einen Fuß bewegen oder wenigstens mit dem dicken Zeh zu wackeln. Oder Jennys Hand noch einmal auf meinem Arm zu spüren, ihre Haut zu riechen, ihre Stimme zu hören und sie zu schmecken.

Wenn eines sicher ist, dann, dass ich nichts an meinem Zustand ändern kann. Dann träume ich davon, dass jemand käme und mein Bewusstsein abschalten, endgültig.