Mit nem Ei im Mund (6)

Sie waren jetzt an der Einmündung zur Corneliusstraße angekommen, am neuen Haus mit der runden Ecke und den winzigen Balkons mit Blick auf die Bahngleise, wo Willi, Jörg und Reinhild wohnten, die gleich, nachdem sie hergezogen waren, Teil der Corneliuskinder geworden waren.
„Ich mach mal Schellemännchen“, krähte Renate und schellte bei den Familien der Spielkameraden.
„Nix wie weg!“ rief sie dann, und beide nahmen Tempo auf.

Gegenüber stand seit Tagen ein riesiger, dunkelblauer Bagger, an dessen Ausleger eine gewaltige Eisenkugel befestigt war. Damit riss der Baggerführer den Rest der Wand eines Hauses ein, dass innen nur noch eine intakte Etagendecke hatte. Der Fahrer hatte zwei Kollegen, von denen der eine mit einem Schlauch Wasser auf die Trümmer spritzte, um den Staub zu binden. Der andere hatte eine Schubkarre und sammelte die Brocken ein, die bis auf die Fahrbahn oder gar die Schienen der Straßenbahn flogen.

„Pünktlich wie die Maurer“, sagte Siggis Mutter immer, weil die drei Arbeiter dreimal am Tag auf die Minute genau Pause machten. Offensichtlich war er Mann im Bagger der Vorarbeiter, denn der zog ungefähr um drei Minuten vor zehn eine Taschenuhr raus und schaute so lange aufs Zifferblatt, bis es zehn war.
Dann stellte er die Maschine ab, rief „Pause!“ und kletterte aus dem Führerstand. Dann hockten die Arbeiter genau zwanzig Minuten lang auf Sägeböcken am Rand der Abrissstelle, aßen Butterbrote und tranken Kaffee aus Thermoskannen. Mittags dann Bier, und Siggi hatten denen schon mal Flaschen aus Dieters Lager gebracht und dafür von jedem einen Groschen gekriegt.

Die großen Jungs fanden schade, dass die beschädigten Häuser jetzt alle abgerissen wurden, weil die Trümmer so viele Möglichkeiten zum Spielen und Blödsinnmachen boten. Jetzt hatten sie sich im großen, grauen Kasten eingenistet, der im Krieg keinen Treffer abbekommen hatte, aber trotzdem abgerissen werden sollte, um Platz für die Verbreiterung der Corneliusstraße zu machen. Nur der Kolonialwarenhändler Lutter war noch drin, weil er mit seinem Laden erst im Winter in einen Neubau am Karolinger Platz würde umziehen können. Die Jungs hatten die Türen der Wohnungen aufgebrochen und Matratzen und kaputte Möbel rein geschleppt, um es sich gemütlich zu machen. Ganz oben hatte sich der Älteste der Familie Niersbach eingenistet. Der hatte einen Plattenspieler in seiner illegalen Wohnung. Und weil Ingo, der Elektriker, für Strom im Haus gesorgt hatte, hörte man nachts oft laute Rock’n’Roll-Musik aus dem Fenster im Dachgeschoss.

***

Wie immer, wenn sie die Corneliusstraße runterlaufen, bleiben sie am Schaufenster von den Griechen stehen, drücken die Nasen ans Glas und beschirmen die Augen mit den Händen. An der Eingangstür klebt ein Schild mit komischen Buchstaben: Καφετέρια. Siggis Vater hat gesagt, das heißt Kafenion, das sei griechisch, und da säßen auch immer nur Griechen drin und tränken Kaffee. Jetzt sitzen an den sechs Tisch gerade einmal zwei Männer, die irgendein Brettspiel spielen.
„So was wie Mensch-ärger-dich-nicht spielen die“, hatte Horsti mal gesagt, aber die anderen konnten nicht glauben, dass erwachsenen Männer den ganzen Tag lang Mensch-ärger-dich-nicht spielen könnten.

Wenn es warm ist, lassen die Griechen die Tür auf, und man hört eine sehr komische Musik aus dem Café. Im vorigen Sommer haben sie auch mal Stühle vors Schaufenster gestellt. Dort haben dann Gäste gesessen und Limonade getrunken, bis Wachmeister Blümchen kam und ihnen das verboten hat.

„Was machen denn die Griechen hier bei uns?“ hatte Siggi den Vater gefragt.
Der hatte ein bisschen rumgedruckst und dann geantwortet: „Weißt du, die konnten nach dem Krieg nicht in Griechenland bleiben, weil die auf unserer Seite gekämpft haben.“

Also waren das keine Gastarbeiter wie die Italiener in Gerresheim. Die hatte man, das wusste Siggi, geholt, weil Italiener gut Glas machen können und die Glashütte dringend Arbeiter brauchte. Ob die Italiener von der Eisdiele an der Helmholtzstraße auch Gastarbeiter waren, wusste er nicht, aber wahrscheinlich schon.

Die Gäste im Kafenion lassen sich von den Kindern nicht stören. Aber mal hineinzugehen und was zu fragen, traut sich keines von den Pänz.
„Man weiß ja nie“, hatte Marie gesagt und eine unsichere Handbewegung gemacht.

Dann kommen sie am Haus vorbei, in dem Siggi wohnt, an der Schlosserei Klever und am Milchgeschäft Nassenstein. Das Café Friedchen hat leider noch zu. Denn da dürfen alle Kinder gern reinschnuppern, und die Wirtin mit den dicken Oberarmen, die gar nicht Friedchen heißt, hat extra ein Bonbonglas neben der Kuchenvitrine, aus dem jeder was kriegt.
Und immer sagt sie dann: „Nu iss aber genug. Jetzt aber raus mit euch.“
Und die Blagen verlassen unter lautem Gebrüll das plüschige Café. Fast alle Väter im Häuserblock sind mit Friedchen befreundet und gehen regelmäßig dahin.
Siggis Mutter hat mal zu Tante Hedwig gesagt, „Mir ist lieber, Martin geht ins Café als zum Saufen in der Kneipe.“
Als ob der Vater bei Friedchen keinen Alkohol trinken würde…

Am tollsten war es für die Jungs als sie mit ihren Vätern ins Café gehen durften, um dort ein Länderspiel im Fernsehen zu gucken. Denn Friedchen war eine der ersten, die sich so eine Flimmerkiste angeschafft hatte. Der stand auf einem Brett über dem Eingang, und wenn man was am Kasten einstellen musste, dann holte sich einer der Männer einen Stuhl, stieg hinauf und drehte an den Knöpfen. Außerdem musste ein Freiwilliger den Fernseher ja auch an- oder ausschalten.

Die Wirtin war zu klein dafür, die kam nicht mal an den Schalter, wenn sie auf einen Stuhl kletterte. Deutschland spielte gegen Österreich, und es ging irgendwie um die Weltmeisterschaft in Chile. Es war für Siggi, Horsti und Ebse das erste Länderspiel, das sie sehen durften. Vorher hatte Siggi ein paar Mal Ausschnitte in der Wochenschau im Ali im Hauptbahnhof gesehen. Während der Weltmeisterschaft in Schweden hörte der Vater alle Übertragungen im Radio, und dabei durfte ihn niemand stören.

Seit Neustem hatte Frau Heisterkamp aus der dritten Etage einen Fernsehapparat. Auch sie war Witwe, hatte keine Kinder und war meistens allein. Nur der Rehpinscher Fido leistete ihr Gesellschaft. Mit dem ging sie immer nur im Dunkeln Gassi, weil der sonst alles ankläffte, was vorbeikam. In der Wohnung war der winzige Rüde still.

Sein Frauchen hatte den Kindern aus dem Haus gesagt, sie könnten gern zu ihr kommen, wenn das Kinderprogramm liefe, und bei Sport, Spiel, Spannung mit Samy Drechsel, Klaus Havenstein und Heinrich Fischer war die Bude immer voll. Siggi war total begeistert von Armin Dahl, diesem Artisten oder Akrobaten, der ganz gefährliche Sachen machte und dabei auch noch lachte. Einmal war der von einem riesigen Kran im Hamburger Hafen uns Wasser gesprungen, aus über dreißig Metern Höhe! Die Mädchen mochten mehr so die Micky-Maus-Filme.

Onkel Hartmut war ganz stolz darauf, dass der Armin Dahl sein Schulfreund aus Stettin war. Und wenn Siggi ihm von dessen neuesten Mutproben berichtete, dann sagte der Onkel immer: „Ja, sieh mal, der Armin. Wer hätte das gedacht…“

So mutig war Siggi nicht. Horsti, dem war so etwas zuzutrauen. Der war sportlich und kletterte im Volksgarten auf die höchsten Bäume.
„Werd doch auch Artist oder Akrobat“, hatte Renate ihm vorgeschlagen, aber Horsti hatte abgewunken und nur geantwortet: „Ne, ich will lieber hundert Jahre alt werden und das Jahr 2000 noch erleben.“
Dass er dafür nur etwas mehr als fünfzig Jahre alt werden müsste, hatte er übersehen. Aber Rechnen war auch nicht so seine Stärke. Irgendwann schaffte sich Onkel Hartmut auch einen Fernseher an, und danach gingen sie nicht mehr zum Fußballgucken ins Café Friedchen.

***

Langsam wird’s langweilig. Fast eine Stunde sind Siggi und Renate jetzt schon unterwegs. Wahrscheinlich hat Horsti längst vergessen, dass sie gewettet haben. Das Ei im Mund wird schwerer und schwerer, Siggis Zunge ist schon ganz lahm, und er hat einen Mordsdurst.
„Pause“, signalisiert er seiner Begleiterin.
Genau an der Ecke Corneliusstraße zur Oberbilker Allee, vor dem Eingang zu dem, was der Vater Freudenhaus nennt, bleiben sie stehen. Siggi nimmt das Ei aus dem Mund und steckt es vorsichtig in die Hosentasche:
„Boah, ich kann nicht mehr.“
Renate grinst: „Schlappschwanz. Die lachen dich aus, wenn ich denen erzähle, dass du aufgeben wolltest.“
„Wer will aufgeben? Ich nicht! Hab bloß Durst.“

Wachtmeister Blümchen, der eigentlich Schumacher heißt, regelt den Verkehr auf der Kreuzung. Immer wenn die 4 von der Cornelius- in die Morsestraße fahren muss, hält er alle Autos und Fußgänger aus allen Richtungen an. Wer nicht sofort stoppt, wird mit der schrillen Trillerpfeife zur Ordnung gerufen.

Warum alle den Schutzmann Blümchen nennen, weiß eigentlich keiner. Angeblich hat ihm Oma Müsch diesen Spitznamen verpasst. Sie streitet das ab und sagt dann: „Wüsste nicht warum.“ Herrn Schumacher ist das egal, solange ihn trotzdem alle im Viertel ernstnehmen. Und das tun die Leute, denn der Wachtmeister ist eine Respektsperson, auf den sogar die Rocker und die Halbstarken hören.

Siggis Vater hat Herrn Fischer mal erzählt, Schumacher sei direkt nach dem Kriegsende zur Polizei gekommen, obwohl er eigentlich Schreiner gelernt hat. Er sei unter Rommel in Afrika gewesen und praktisch sofort nach der Ankunft beim allerersten Gefecht mit den Engländern (Der Vater sagt …mit dem Tommy so wie er auch …gegen den Iwan sagt) in Gefangenschaft geraten. Von Oktober 1940 bis Herbst 1945 sei er in einem Lager in Amerika gewesen, in Oklahoma. Und weil er schon als junger Mann eine Respektsperson war, wurde er dort gleich Barackenältester, also Sprecher seiner Kameraden. Dann sei er Anfang 1946 mehr oder weniger aus Versehen in der Stadt gelandet und habe sich bei den Briten als Polizist beworben. Und die haben ihn genommen.

Beim Verkehrsregeln trägt Wachtmeister Blümchen im Winter einen weißen Mantel, jetzt hat er nur schneeweiße Stulpen und Handschuhe an, damit man seine Armbewegungen schon von Weitem erkennen kann. Die Ecke ist mit Pfählen und Ketten gesichert, damit keiner quer über die Kreuzung rennt. Und an einem Pfahl hat der Polizist immer seine Falsche Sprudelwasser stehen. Die stellen ihm die Leute aus dem Block immer hin, wenn es so warm ist, dass er Durst kriegen könnte.

Heute steht eine halbvolle Flasche da. Siggi würde gern einen Schluck nehmen, aber kann doch keinen Schupo beklauen! Genau in dem Augenblick macht Herr Schumacher Pause und kommt zu ihnen rüber.
„Na, Siggi, alles im Lot?“
Der Junge nickt heftig, und Renate deutet zur Begrüßung einen Knicks an. Wachtmeister Blümchen nimmt einen Schluck aus der Wasserpulle.
„Und, was macht ihr so?“
Da erzählen ihm die Kinder die Geschichte von der Wette. Siggi endet: „Und jetzt hab ich einen Mordsdurst.“
Da hält ihm der Wachtmeister die Flasche hin und sagt: „Hier, trink was.“

Zwei Häuser weiter steht seit Kurzem einen Neubau, in dem noch gar nicht in allen Wohnungen Leute sind. Dafür hat der Laden im Souterrain schon eröffnet. Eigentlich ist das wohl so eine Reparaturwerkstatt für Nähmaschinen, aber Siggis Mutter hat gesagt, dass die wohl auch Gebrauchte für ziemlich wenig Geld anbieten und dass sie da mal reinschnuppern wird, weil sie sich schon lange eine Nähmaschine wünscht.

Der Vater hat kurz gegrunzt, und sie hat noch gesagt: „Denk mal, Männe, was wir sparen, wenn ich selbst die Sachen für die Kinder ändern kann.“
Einmal waren Siggi, Horsti und Ebse drin in der Werkstatt, die im Halbdunkeln liegt, weil das Schaufenster zur Hälfte unterhalb vom Bürgersteig liegt und zudem komplett mit Maschinen vollgestellt ist. Vorne war niemand, und ganz nach hinten hatten sie sich nicht getraut, denn es hieß, der Besitzer sei ein ziemlich böser Mann, der Kinder hasse.

Jetzt sind es nur noch wenige Meter bis zum Laden von Oma Müsch. Dann hat Siggi es geschafft und die Wette gewonnen. Na ja, solange Renate nicht petzt. Als sie an der Ecke ankommen, ist da niemand. Alle Kinder sind weg.
Schnell springen sie ins Geschäft: „Oma Müsch, wo sind die anderen alle?“
Die beugt sich über die Theke und sagt: „Im Park, ihr Tungusen, spielen, was sonst?“
Siggi hält ihr das Ei hin: „Danke fürs Ausleihen.“
Die Ladenbesitzerin kratzt sich am Hinterkopf, guckt auf das Ei, dann auf Siggi: „Glaubst du , das nehm ich zurück? Das ist ja ganz besabbert. Das musst du jetzt kaufen.“
Und grinst dabei wie ein freches Kind. „Acht Pfennige, bitte.“
„Aber ich hab doch kein Geld. Krieg ich doch erst von Horsti.“
Da lacht die alte Frau laut und ruft: „Reingefallen! Ne, ne, ne, kannste behalten, das Ei. Hab ich genug von.“

Schnell rennen sie jetzt die Oberbilker Allee runter, rechts in die Ringelsweide, links an der Düssel entlang, über den Hennekamp und rein in den Volksgarten. Zwischen der Ballonwiese und dem Niemandsland ist gerade ein spannendes Räuber-und-Gendarm-Spiel im Gange, und sie können sogar noch mitmachen. Von der Wette redet an diesem Tag niemand mehr. Nicht einmal als sie alle später am Büdchen an der Emmastraße stehen und sich zwei Flaschen Kugelwasser teilen.