Charlene und ich (1)

Die Dinge waren erheblich schief gelaufen für mich. Audrey hatte im Verlauf der Scheidung fast unseren ganzen Besitzstand zugesprochen bekommen, ich dagegen nur die Schulden. Klar dass ich abhaute. Und dann Bills Angebot annahm, sich seiner Truppe anzuschließen. Wir gastierten gerade in Kingman, Arizona, und ich hatte meinen ersten Honorarscheck eingelöst. An jenem Abend wollte ich fressen und saufen und mir eine scharfe Nutte leisten. Denn seit dem Ende meiner Ehe fehlte mir vor allem ein warmer Arsch im Bett. Die Bar lag in der Gegend, die man woanders Zentrum nennen würde. Ein langer, dunkelbrauner Schlauch, der sich ganz durch einen anderthalbgeschossigen Häuserblock mit jeder Menge sinnloser Läden zog. Das Ding war so breit wie hoch und mit roten Kunstlederapplikationen sowie einem schimmeligen Spiegel hinter der langen Theke versehen. Alle zwei Meter beugte sich irgendeine Gestalt über seinen Drink und aus den versteckten Lautsprechern quoll Fahrstuhlmusik. Durch den Qualm der Zigarren und Zigaretten konnte ich das Ende des Raums nicht erkennen. Ich wählte einen Platz in der Nähe des Vorderausgangs und bestellte einen Long Island Ice Tea. Wie meist musste ich dem Bartender das Rezept verraten und darauf bestehen, dass er die Brühe mit Pepsi aufgoss. Der erste Schluck bewies, dass er ein guter Coacktail-Mixer war. Dann sah ich sie am Ende des Tresens, den Rücken zum stark getönten Fenster.

Nein, sie war und ist nicht das, was man „mein Typ“ nennt, diese schlanke, ja, dünne und sehnige Frau mit den schwarzen Haaren und einem Paar flaschengrüner Augen hinter ziemlich dicken Brillengläser. Sie trug einen breitkrempigen Hut wie ein Rancher oder Cowboy aus dem Nordwesten, leicht in den Nacken geschoben. Vor sich zwei leere Gläser, die Größe für einen einfachen Whiskey ohne alles, dazu ein zweites Glas und einen Krug Eiswasser. Sie zog an ihrer meterlangen Damenzigarette, legte den Kopf nach hinten und blies den Rauch hoch zur schmuddeligen Holzdecke. Als sie den Hut abnahm und neben sich auf die Bank legte, konnte ich erkennen, dass sie das Haar raspelkurz trug – eine weitere Eigenschaft, die mich normalerweise abtörnt. Andererseits weckte ihr Äußeres meinen Ehrgeiz, denn ihr ganzes Outfit ließ darauf schließen, dass sie keine Gelegenheitsprostituierte war, sondern entweder einfach nur da in der Bar ein paar Drinks nehmen wollte. Oder auf der Suche nach einem Kerl für die Nacht war.

Wir machten nicht viel Worte, sondern tranken schweigend weiter, nachdem ich zu ihr rübergerückt war und mich vorgestellt hatte. Mehr als ihren Namen hatte sie nicht von sich gegeben. Das Angebot, einen Drink von mir spendiert zu bekommen, lehnte sie mit einem mitleidigen Lächeln ab. Mein zweiter Long Island hatte sich in Richtung Hirn bewegt und mein Hungerzentrum angeregt. Wo man denn hier ein ordentliches Steak bekäme, fragte ich den Barkeeper. „Bei Ma Rose“, sagte der und zeigte in eine ungefähre Richtung. „Zeig ich dir“, kam von ihr. Sie bestellte einen Ochsenspieß und nannte das eine Spezialität. Ich orderte ein Porthouse. Nachdem wir Fleisch, Fries und Salat vertilgt und eine Menge Bier getrunken hatte, fragte ich sie: „Wohnst du hier?“ Sie schüttelte den Kopf: „Auf Durchreise.“ Wir verließen Ma Rose’s Steak Parlour, und sie sagte nur: „Komm.“

Sie hatte ein Zimmer im Beale, dem Hotel, das gleichzeitig die einzige Sehenswürdigkeit in diesem staubigen Kaff ist. Die Air Condition war laut, tat aber, was sie sollte. Und trotzdem schwitzten wir in dieser Nacht alles aus, was wir am Abend getrunken hatten. Aus heutiger Sicht betrachtet würde ich diese acht Stunden als eine Art Match bezeichnen, in dem es nur ums Gewinnen ging. Aber letztlich ging die Sache unentschieden aus. Wir ließen uns gegen sieben ein enormes Frühstück ans Bett bringen, und nach dem ersten Kaffee wurde sie unerwartet gesprächig. So lernte ich Charlene kennen, die Frau für meine nächsten Jahre. Dass sie auf der Durchreise war, erwies sich als eine Art Lüge. Denn eigentlich war sie auf der Flucht. In North Dakota wurde sie wegen verschiedener Gaunereien gesucht, die sie nicht näher beschreiben mochte. In Bismarck hatte sie einem älteren Herrn das Auto gestohlen, ein Bündel Bares und eine Amex-Karte. Und fuhr nun schon seit vier Wochen ziellos durch den Nordwesten und peilte Las Vegas an. In Kingman war sie eine Woche zuvor gestrandet, weil der 68er Buick den Geist aufgegeben hatte. Seitdem pendelte sie zwischen dem Hotelzimmer, der Bar und Ma Rose hin und her.

Ich stellte Charlene Bill vor. Ob er einen Job für sie habe. „Klar,“ sagte Bill, „klar. Wir brauchen jemanden für die Tageskasse und den Vorverkauf.“ Ja, das können sie, log Charlene, sie habe schon oft an der Kasse von diesem oder jenem Laden gearbeitet. Und so wurde sie Teil der Truppe und meine Geliebte. Als Bill nach Dakota wollte, baten wir um Urlaub und flogen nach Florida, um dann in Ann Arbor, Michigan, wieder dazuzustoßen. Bald übernahm Charlene die gesamten Finanzen und machte das gut. Auch ich lernte immer mehr dazu, trainierte und probte jeden Tag sechs bis sieben Stunden, um endlich eine eigene Nummer einstudieren zu können. Die Tournee in jenem Jahr führte uns durch den ganze Mittleren Westen und war ein grandioser Erfolg. Außer in Detroit waren alle Shows ausverkauft, und Bill zeigte sich wieder einmal großzügig. Von der Prämie kauften Charlene und ich ein ziemlich luxuriöses Reisemobil, um nicht mehr auf due schäbigen Motels angewiesen zu sein, die gerade in den kleineren Städten die einzigen Übernachtungsmöglichkeiten boten. Vorbesitzer war ein Ex-General, der das Gefährt aus Europa mitgebracht hatte, damit – wie er sagte – mit seiner Frau jeden Winkel der USA bereist hatte und nun als Witwer keine Lust mehr hatte umherzufahren.

Wir nannten den Wohnbus Homer, ohne dass je klar wurde, wie wir auf den Namen gekommen waren. Nur die Stars der Tour fuhren eigene Trailer oder Mobile, und natürlich waren manche der langjährigen Mitreisenden neidisch auf uns. Aber Charlene schaffte es mit ihrer lakonischen Freundlichkeit, bei allen beliebt zu sein. Und wer wollte sich schon mit der Herrin über die Kohle anlegen? Im Winterquartier in Palm Springs lernte ich Marshawn kennen, den Altmeister der Bike-Stunts. Bill hatte für uns alle Bungalows in einem Wohnpark reserviert, von denen sich je drei einen Pool teilten. Wir genossen es, zwei Monate in einem festen Haus wohnen zu können bei gleichbleibend idealem Klima und einem wunderbaren Schwimmbecken direkt vor dem Schlafzimmer. Marshawn war auf Bills Einladung hier, eine Art Coach für die Artisten. Zufällig bewohnte er mit seiner jungen Frau – seiner sechsten Gattin wie er ständig betonte – den Bungalow links neben uns. So saßen wir beinahe jeden Abend bei Sonnentergang draußen am Wasser, aßen etwas, tranken milde Drinks und redeten. Oder schwiegen und ließen Licht und Luft auf uns wirken.

Schnell wurde deutlich, dass der alte Mann ein Auge auf Charlene geworfen hatte und tagsüber öfter mit fadenscheinigen Gründen bei uns auftauchte, um sie in Gespräche zu verwickeln. Im Gegenzug spürte ich, dass mich die Gegenwart von Chrystall, seiner Frau, nervös machte. Sie wird Anfang dreißig gewesen sein, also deutlich weniger als halb so alt wie er. Keine Schönheit, aber mit einer erotischen Ausstrahlung gesegnet, die fast jeden Mann zu merkwürdigen Dingen verleitete. Nun war ich kein bisschen eifersüchtig und wäre es nicht einmal geworden, wenn Marshawn es geschafft hätte, Charlene ins Bett zu kriegen. Ob sie das in meinem Fall und in der Nähe von Chrystall auch so sah, wusste ich nicht. Es geschah dann in der Wüste, kaum zweihundert Fuß von der Siedlung entfernt, im Staub hinter einem Felsen. Ich war ihr einfach nachgegangen. An manchen Tagen schlenderte sie den Fahrweg zwischen den Bungalows entlang, um dann irgendwann hinter der Begrenzungsmauer zu verschwinden. Ich war ihr einfach nachgegangen und hatte dann „Hey!“ gerufen. Sie war stehengeblieben, hatte gelächelt und sofort begonnen sich zu entkleiden. Es blieb das einzige Abenteuer, denn nachdem ich sie gevögelt hatte, verlor sie jede Anziehungskraft für mich.

Und als dann wohl auch die sexuellen Fragen zwischen Charlene und Marshwan geklärt waren, freundete ich mich mit dem Großmeister an. Möglicherweise betrachtete er mich als seinen Erben. Vielleicht aber mochte er die anderen Fahrer einfach nicht. Jedenfalls erzählte mir eines Nachts als die Frauen schon lange in ihren Betten lagen und wir flaschenweise gekühlten Chardonnais aus Kalifornien soffen, er habe immer von einer Nummer geträumt, die bisher niemand zustandegebracht habe. Er selbst sei schon zu alt gewesen als ihm die Idee gekommen sei. Kurz gesagt: Es ging um einen Sprung mit einer wirklich schweren Maschine, und zwar ohne Rampe. „Du würdest auf einen Schlag berühmt werden,“ sagte er. Und ich antwortete: „Oder sterben.“ Tatsächlich begannen wir im März mit den Experimenten. Marshawn hatte ein Gelände jenseits des Canyons gepachtet und dort eine Holzhütte als Station, Werkstatt und Garage errichten lassen. Bill hatte mir genau sechs Wochen Zeit gegeben: „Entweder danach ist der Trick showreif, oder du brichst die Sache ab und kommst zur Truppe zurück.“ Ich willigte ein.

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