Und so verbrachten wir sechs Wochen im Camp, Marshawn, die Mechaniker Ed, Dave und Sid und ich. Mein Lehrmeister hatte alles Lebensnotwendige in die Einöde schaffen lassen, sodass wir uns ganz auf den Trick konzentrieren konnten. Tatsächlich sah die Maschine nur aus wie eine schwere Indian, denn unter dem hauchdünnen Kunststoff versteckte sich eine leichte, extrem starke Geländemaschine. Deshalb saß der Sprung schon ab Woche vier sicher, und in den letzten Tagen erreichte ich Flüge von über 120 Yards. In Savannah stieß ich wieder zum Tross. Charlene und ich konnten stundenlang nicht voneinander lassen, so sehr hatten wir uns gegenseitig vermisst. Bill hatte die Presse zur Vorstellung meiner Nummer nach Atlantic City einbestellt, und alle waren gekommen: die üblichen Journalisten der Entertainment-Industrie, die Sensationsjäger und die vielen TV-Teams, die Berichte über solche Dinge in die vielen Kanäle in ganz Nordamerika, Asien und Europa einspeisten. Ich war berühmt und bekam allerlei Angebote. Aber natürlich fühlte ich mich Bill verpflichtet und sprach jedes kleine Engagement mit ihm ab. Auch die Rolle in einem Film über die gute alte Zeit der Sensationshows, der im folgenden Sommer in Florida gedreht werden sollte.
Zu Weihnachten heirateten wir in einer Hochzeitskapelle in Downtown Vegas, einem schmucklosen weißen Raum ganz ohne Elvis-Kult und sonstigem Kitsch. Der Mann, der uns traute, war ein waschechter Friedensrichter mit einer Lizenz des Staates Nevada, der seine Aufgabe schnell und schnörkellos erledigte. Ich überraschte Charlene damit, dass uns eine Stretch-Limo abholte und mit einer Nacht in der Liberace-Suite im Vegas Hilton. Eine Schar dezenter Kellner servierte uns ein fantastisches Sechs-Gänge-Menü, und ein Liberace-Darsteller spielte dazu unentwegt auf dem weißen Flügel, an dem schon der Meister selbst gesessen hatte. Wir waren dann aber auch froh als wir wieder in unser Mobil zurückkehrten, das weit draußen in einem stillen, fast leeren Trailerpark stand.
Auch wenn die Tour ein Sensationserfolg wurde, war ich mit meinen Kräften am Ende als wir Ende Februar ins Winterquartier in der Nähe von Pensacola gingen. Ich weiß noch wie ich am zweiten oder dritten Abend bei Bill auf der Veranda saß, die er vor seinem Mobil hatte bauen lassen. Man konnte den Golf riechen, und Millionen Wasservögel machten in der Dämmerung Geräusche. Wir tranken Seven & Seven aus sehr großen Gläsern. Er hatte mir eine fette Cuba-Zigarre angeboten, aber ich hatte abgelehnt, sodass nur er dicke Rauchwolken in den Nachthimmel blies. „Weiß schon,“ sagte er, „brauchst mir nichts zu erklären. Du bist durch mit der Sache.“ Ich nickte. „So ist das eben, wenn einer nicht im Zirkus geboren ist. Kein Problem. Dann muss man aufhören. Oder eine Pause machen. Kannst du dir vorstellen, eine Saison auszusetzen und dann wieder einzusteigen?“ Darauf hatte ich keine Antwort. „Weißt du was, ich spendier euch eine Europareise. Charlene und du nehmt euch Zeit und fahrt überall hin, wo ihr hin wollt. Dann kommt ihr zurück, und du machts wieder mit bei der Show? Was sagst du dazu?“ Bill hätte mir sicher kein solches Angebot gemacht, hätte er gewusst, dass wir nicht zurückkehren würden. Dass wir in Europa bleiben würden.
Charlene war begeistert von der Idee. Homer überließen wir Gene und Jean, dem jungen Paar, das in der kommenden Saison mit einer sensationellen Hochseilnummer mitreisen würden. Die würden gut auf unser geliebtes Mobil aufpassen. Als wir in Paris landeten, überraschte mich Charlene mit ziemlich perfekten Französischkenntnissen. Bis mir einfiel, dass sie gelegentlich Andeutungen über ihre kanadische Herkunft gemacht hatte. Denn immer noch wusste ich so gut wie nichts über ihre Vergangenheit, über ihre Familie, ihre Eltern. Ich kannte ja nicht einmal ihren richtigen Namen, war sie mir doch damals begegnet, als sie schon mit gefälschten Papieren unterwegs war. Dafür konnte ich sie ein paar Wochen mit meinen exzellenten Deutschkenntnissen überraschen, die ich meinem Grandad Eric zu verdanken hatte. Der war 1935 mit vierzehn Jahren als Adoptivsohn des jüdischen Ehepaars Stein eingewandert, die Nazideutschland verlassen hatten, um in Sicherheit leben zu können. Erich Stein sprach zeit seines Lebens genauso gut Deutsch wie Englisch, und mir hatte es kleiner Junge einen Heidenspaß gemacht, eine Sprache zu sprechen, die bei uns in Südkalifornien niemand verstand.
In Offenburg kauften wir dann ein Wohnmobil für unsere große Rundreise, ein Modell, das unserem Homer glich, der ja auch aus Europa stammte, nur etwas kleiner. Dafür mit einem robusten und bärenstarken Dieselmotor, der es uns auch erlauben würde, die Alpen abseits der Autobahnen zu überqueren. Während in den Vereinigten Staaten kaum jemandem Charlenes indianisches Aussehen aufgefallen war, wurden wir in der Schweiz und in Österreich mehrfach darauf angesprochen. Und wenn es auch nur so war, dass jemand sie mit Cher verwechselte oder fragte, ob sie mit der berühmten Sängerin verwandt sei. Mir erging es nicht viel besser. Alle paar Tage wurde ich um ein Autogramm gebeten, weil mich Leute für Steve McQueen hielten, und es war jedesmal mühselig zu erklären, dass der Schauspieler ja wesentlich älter war. Aber die Menschen hatten sein Bild aus jenen Jahren konserviert, in denen er noch ein junger Wilder war.
Über Griechenland reisten wir in die Türkei, setzten über nach Rhodos, wo wir an einem sehr einsamen Strand fast drei Wochen blieben. Dann ließen wir Homer II nach Brindisi transportieren und bewegten uns per Schiff durch die Ägäis. Die längste Tour, bei der wir selten öfter als zweimal an einem Ort übernachteten, führte uns an Italiens Stiefelspitze, einmal rund herum um Sizilien und dann an der Küste entlang über Neapel und Rom bis nach Pisa. In den Cinque Terre verbrachten wir wieder ein paar Wochen in einer relativ ruhigen Bucht bis wie nach Venedig aufbrachen, die Stadt, in die wir uns beide sofort verliebten. Da saßen wir in einem kleinen Café am Zattere, überblickten die Lagune und schworen uns, im Alter hierher zu ziehen. Aber schon auf der Fahrt nach Wien zeigten sich erste Anzeichen von Charlenes Krankheit.
Auch Wien nahm uns gefangen. Wir hatten einen angenehmen Platz in den Donauauen gefunden, ruhig, mit sehr freundlichen Nachbarn, Pensionären aus Österreich, Deutschland und Skandinavien, und jeden Abend brannte vor irgendeinem Wohnwagen ein Feuer oder glühte ein Grill, und wir waren immer eingeladen. An einem lauen Spätsommerabend fand direkt am Strom ein großes, buntes und lautes Fest statt. Wir blieben bis zum Morgengrauen und hatten ein wenig zuviel getrunken. Stolperten ins Schilf und liebten unter einer Trauerweide. Es wird an diesem Morgen gewesen sein, dass ich Charlene sagte, ich hätte gern ein Kind von ihr. Sie antwortete nicht, wie sie so neben mir lag im flachen Gras, und schüttelte nur den Kopf. Erst Tage später, wie waren wieder auf der Straße und steuerten Budapest an, sagte sie etwas dazu: „Ich will kein Kind. Und dafür gibt es mehr Gründe als ich aufzählen könnte.“ Wie üblich war dies das ihr erstes und letztes Statement zur Sache. So kamen wir auf den Hund beziehungsweise die Hündin.