Bin mir nicht sicher, ob ich es geträumt habe oder erlebt. Neulich ging ich ziemlich unbetrunken von der Stammkneipe nachhause. Eine trübe Neumondnacht, ein wenig Nieselregen in der Luft. Der Abend war öde verlaufen. Keine interessanten Gespräche, und meine Lieblingskellner hatten alle frei. In der R-Straße drückte ich mich an den Hauswänden entlang, um nicht noch nasser zu werden. PLötzlich trat vier, fünf Meter vor mir eine Gestalt aus einem Hauseingang, blieb stehen und wandte sich mir zu. Großgewachsen, trug einen altmodischen Kleppermantel und hatte die Kapuze eines Hoodies über dem Kopf. Zwei Schritte kam er mir entgegen, und ein wenig Licht der Lampe, die über der Fahrbahn im Wind hin und her schwang, traf sein Gesicht. Scharfgeschnitten mit eingefallenen Wangen und sehr tiefliegenden Augen. Dann öffnete er den Mantel, hatte darunter ein weiße Hemd an. Und aus seiner Brust, rechte Seite auf Höhe des Herzens, schaute der Griff eines Fleischermessers hervor.
Natürlich erschrak ich und blieb stehen. Auch er hielt an. Dann sprach er, und es schien mir, er würde die Lippen dabei nicht bewegen: „Helfen Sie mir!“ Eine raue Stimmen mit einem merkwürdigen Nachhall. Ich fixierte das Messer in seiner Brust. Keine Spur von Blut. Wieder fiel Licht auf sein Gesicht. Als ich seine Augen sah, konnte ich nicht anders als mir die Hände vors Gesicht zu schlagen. So verharrte ich ein paar Sekunden. Als ich den Kopf wieder anhob und die Hände wegnahm, war die Gestalt verschwunden. Wie gesagt: Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Mann tatsächlich gesehen habe.
Kurz vor Weihnachten hatte es einen Tag lang geschneit, ungewöhnlich für unsere Stadt. Vor lauter Einsamkeit war ich kurz nach zehn Uhr in der Nacht aufgebrochen, wollte in den verschneiten Park, erste Fußspuren hinterlassen. Den Flachmann gefüllt mit dem guten Whisky in der Manteltasche. Kein Mensch war unterwegs, nicht ein Auto versuchte sich die nicht geräumte Durchgangsstraße entlang zu bewegen. Ganz weit entfernt sah ich die Lichter der Straßenbahn. Wieder eine Neumondnacht. Im Park zwitscherten ein paar verirrte Vögel wie sie es oft rund um Weihnachten tun. Meine Schuhe machten Geräusche im knöchelhohen Schnee. Als würden sie dünne Glasscheiben knacken. Und dann stand sie wieder da, diese Gestalt. Halb verdeckt von einem Busch, sanft beleuchtet von einer weit entfernten Straßenlaterne. Gekleidet wie beim ersten Mal. Trat vor, sah mich mit diesen schrecklichen Augen an ud sagte wieder: „Helfen Sie mir!“ Keine Ahnung, was in diesem Moment geschah. Jedenfalls fand ich mich auf dem Weg im Schnee liegend, seitlich gedreht. Vermutlich war ich bewusstlos geworden und dann gestürzt. Ich stand auf und nahm drei, vier Schlucke vom Schnaps. Dann suchte ich die Umgebung ab, fand aber keine Fußspuren.
Ich begann, vom Mann mit dem Messer in der Brust zu träumen. Anfangs vielleicht alle zwei Wochen, später beinahe jede Nacht. Immer traf ich die Gestalt, wenn ich allein unterwegs war im Dunkeln. Und immer sagte sie: „Helfen Sie mir!“ Mit niemandem sprach ich darüber. Mir war klar, dass es entweder ein Spuk war, oder in meiner Seele eine Psychose wuchs. Im folgenden Sommer begegnete er mir unten am Flußufer. Stand im Schatten der Kaimauer und trug statt des Gummimantels ein dunklen Umhang. Bevor er seinen Spruch sagen konnte, drehte ich um und lief auf dem schmalen Pfad am Wasser davon. Im Herbst hatte er in der Tiefgarage auf mich gewartet. Im November traf ich ihn zweimal. Beim zweiten Mal wiederholte sich unsere erste Begegnung genau so wie sie sich damals abgespielt hatte. Mit dem Unterschied, dass ich völlig betrunken nach einem sehr netten Abend aus der Stammkneipe gekommen war. Und von da ab wiederholten sich die Treffen an den immergleichen Tagen unter den immergleichen Umständen, und nachts kam die Gestalt in jedem Traum vor.
Vier Jahre später hatte ich mich selbst eingewiesen. Ich hatte ein Alkoholproblem und wollte es weghaben. Der Mann mit dem Messer in der Brust belegte das zweite Bett in meinem Zimmer in der Klinik. Er sprach nicht viel, eigentlich sagte er immer nur „Helfen Sie mir!“ Um ehrlich zu sein, ich hätte ihm gern schon bei unserer ersten Begegnung geholfen, wusste aber damals wie heute nicht wie. Vielleicht hätte ich einfach das Messer aus seiner Brust ziehen sollen, wer weiß. Je besser ich den Entzug verkraftete, ich weniger ich an Schnaps dachte, ich fitter ich wurde, desto mehr veränderte sich mein Zimmernachbar. Es begann damit, dass er nun in einem blau-rot gestreiften Bademantel im Bett lag und er ein weißes T-Shirt trug. Zugenommen hatte er auch. Seine Wangen waren voller geworden, seine Nase weniger scharf. Irgendwann kam es mir so vor, als sei der Messergriff viel kleiner geworden. Am Tag meiner Entlassung war da überhaupt kein Messer in seiner Brust. Als ich meine Sachen packte, lag er da in seinem Bett auf der Seite und schnarchte. Ich traf ihn nie wieder.