Sie hatte die hellste Haut, die ich je bei einem Menschen gesehen hatte. Und später je sah. Unten hatte sie sich ein Lager aus Kissen und Matratzen zurechtgemacht und die große grüne Decke darüber gebreitet. Da lag sie, und aus meiner Perspektive von der Empore aus sah sie aus wie eine Schneeverwehung am grünen Straßenrand. Sie hatte mich nach oben verbannt mit den Worten „Brauch mal Ruhe“ und angemerkt, sie sei schon ganz wund. Das ging mir auch so. Aber ich hätte sie gern weiter erforscht, auch an diesem sonnigen Septembertag. Diffus war das Licht, bisweilen durchschnitten von einem einzelnen Strahl, der es durch eine Lücke in den Rollläden geschafft hatte. Da tanzte der Staub, und die Sonne malte einen einzelnen Kringel auf ihren bloßen Körper. Sie hatte mir nicht erlaubt, ihren Leib zu markieren. Eine Linie aus dunkelroter Farbe zu ziehen mitten durch sie hindurch und einmal um sie herum. Am Nabel beginnend, abwärts über den Haarbusch, unten durch bis zum Ansatz des Rückgrats, über alle Wirbel, den Nacken hoch, über den Schädel, die Stirn, die Nase, die Lippen, das Kinn, den Hals und zwischen ihren Brüsten hindurch. Es wäre ein Kunstwerk geworden. Aber sie wollte nicht. Mir schien, sie habe beschlossen, ich hätte ohnehin schon zu viel bekommen von ihr. Zwei Tage vorher hatte ich neben ihr gelegen auf dem breiten Bett, und sie hatte mich ihre Haut erobern lassen. Da hatte ich erst realisiert, dass sie nicht ganz weiß war und nicht überall. Da entdeckte ich Schattierungen wie das warme Grau in ihren Achselhöhlen.
Den minimal dunkleren Streifen, der zwischen ihren Hinterbacken begann und sich oberhalb des Beckengürtels verlor. Außerdem war sie von oben bestreut mit Sommersprossen, unregelmäßigen, vorwiegend runden Flecken, orangefarbig bis hellocker, dicht an dicht auf den Schultern, zunehmend weniger den Rücken hinab und bis zu den Brüsten. Keine Sprossen auf den Schenkeln und dem Arsch. Im Gesicht waren die Regionen einen Hauch dunkler, unter denen die Knochen saßen. Da war die Dichte an hellen Flecken auch größer. Nicht dass sie ein Albino gewesen wäre. Ihre Augen waren von einem dunkelblau wie die Tiefsee, ihr Haar eher brünett als rot. Nur wenn wie jetzt ein Sonnenstrahl direkt auf eine Strähne schien, glühte dieses Büschel rot auf. Nein, sie war nicht einmal eine Rothaarige, denn auch ihr Schamhaar war von einem warmen Dunkelbraun, glatt wie das Haar auf ihrem Kopf, dass sie jetzt ziemlich lang trug.
Sie war mir zum ersten Mal in dieser Firma über den Weg gelaufen, in deren Vertriebsabteilung ich mit Mitte dreißig für Geld zu arbeiten gezwungen war. Werkstudentin, wie man damals sagte, in Wahrheit aber Aushilfe bei ruhendem Studium, wie ich erfuhr als wir uns kennenlernten. Ann hieß sie und war knapp zwanzig. Ein eher stämmiges Mädchen, jedenfalls wirkte sie in ihrer bevorzugten Kleidung so: Männerjeans, in schweren Skinhead-Schuhen, karierte Hemden und darüber gefährliche Jacken aus Leder. Die Frisur tiefschwarz gefärbt und mit viel Haarspray zum Helm gemacht. Breitschultrig kam sie mir vor. Mit einem Kindergesicht, beinahe pausbäckig. So gewalttätig sie sich kleidete, so fröhlich trat sie auf. Scherzte mit den Kollegen, lachten viel und laut und hatte immer einen witzigen Spruch parat. Das alles beobachtete ich nur, denn wir waren in verschiedenen Abteilungen tätig.
Also lernten wir uns erst im folgenden Jahr während der großen Industriemesse in dieser flachen, hoffnungslosen Stadt kennen, deren einzige Attraktion das Gelände mit den Hallen und Freiflächen im Südosten ist. Am Vortag der Eröffnung war ich pünktlich zum Teamgespräch am Stand. Und sah Ann nun als eine von zwölf Hostessen im kurzen scharfroten Rock und einer beigefarbigen Bluse mit erheblichem Ausschnitt auf hohen Hacken. Sie war erblondet, trug eine Lockenfrisur wie Frauen sie damals im Business-Leben oft hatten und war erheblich geschminkt. Und wenn es an Ort und Stelle zu dieser Stunde eine Miss-Wahl gegeben hätte, sie hätte mit fliegenden Fahnen gewonnen. Übrigens nicht nur bei mir, denn alle anwesenden Kollegen, die homosexuell orientierten einmal ausgenommen, hatte nur Augen für Ann. Aber auf mich kam sie zu und sagte mit dieser Stimme: „Schön dass du auch da bist.“ Als der Boss und die Standleiterin ihre Reden schwangen, stand sie neben mir. Als wir ans Büffet traten, ging sie mit mir. Als wir eine Ecke suchten, wo wir unsere Gläser und Teller abstellen konnten, lotste sie mich in eine eher ruhige Region des Messestandes. „Ich heiße übrigens Ann,“ stellte sie sich zwischen zwei Bissen vom Fingerfood vor. Ich nannte meinen Namen und prostete ihr zu.
Wie üblich verabredeten sich die Kollegen für den Abend in verschiedenen Lokalitäten der Innenstadt. Wo ich denn hinginge, fragte Ann. Und ich gab ihr den Namen des Gasthofes, den ich allen Bars und Diskos vorzog und wo sich außer mir kaum einen Handvoll Kolleginnen und Kollegen trafen, allesamt Leute, die auf den üblichen Messeabendrummel keine Lust hatten. Um sieben holte ich sie am Hauptbahnhof, dem verabredeten Treffpunkt ab, und wir fuhren mit der Tram bis weit in den Norden der Stadt. „Puh,“ sagte sie, „das wird aber eine Odyssee für mich, zurück nach L. zu kommen.“ Selbstverständlich hatte man das Hilfspersonal, zu dem auch die Hostessen zählten, weit draußen in Landgasthöfen, Pensionen und schäbigen Vorstadthotels untergebracht, während wir Privilegierten die zweitbesten Zimmer am Ort nutzen durften. Wir aßen und tranken und plauderten Unverbindliches. Natürlich hatte sie sich umgezogen, trug einen schwarzen Overall und darüber eine Jeansjacke. Alles blieb im Unverbindlichen. Ich mochte sie, ich fand sie nett, mehr aber auch nicht.
Dann war auch dieses wichtige Sozialereignis vorüber. Die Kollegen standen grüppchenweise auf dem Gehsteig und zögerten den Abschied hinaus. „Müssen ja alle früh raus,“ sagte ich zu ihr. „Wir noch viel früher. Der Weg ist weit.“ – „Wie kommst du in dein Quartier?“ Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne und blickte zu Boden: „Mit nem Taxi. Aber ich mach das nicht gern.“ – „Was machst du nicht gern?“ Sie trat von einem Fuß auf den anderen als sei ihr die Sache peinlich: „Na ja, nachts allein im Taxi.“ Ich nickte: „Kann ich verstehen. Soll ich mitkommen?“ Sie strahlte mich an. „Würdest du?“ – „Klar!“ Wir saßen zusammen im Fond und schwiegen die ganze Fahrt über. Der Landgasthof lag im Dunkeln, nur eine schwache Lampe markierte den Nachteingang. „Soll ich noch mit zur Tür kommen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Geht schon…“ und drückte mir einen fetten Kuss auf die Wange.
Ich hasse Messen und diese besonders. Vermutlich habe ich die Firma verlassen, weil ich nur so diese Scheiße vermeiden konnte. Es war immer anstrengend. Man lebte acht Tage lang ungesund, trank zu viel Alkohol und hatte zu wenig Schlaf. Man ließ sich bei Kunden und Interessenten sehen, aber echte Abschlüsse, die machte man im Alltag, nicht im Rahmen dieses fürchterlich aufgeblasenen Events. Schon am zweiten Tag gewöhnte ich es mir an, alle zwei Stunden an unserem Stand einzulaufen, um mich im Vertriebsabteil an der Bar auszuruhen. Wo Ann an der Theke Dienst schob. Schon nach dem dritten Zwischenstopp bei ihr stellte sie unaufgefordert die große Apfelschorle hin, wenn ich den Raum betrat. Wir redeten nicht, das wurde auch ungern gesehen, zwinkerten uns aber zu oder machten komische Grimassen.
Am Mittwoch dann das Bergfest. Wie üblich in dieser Halle, die nach Art eines Oktoberfestzelts eingerichtet war und irgendwas mit „Bayerisch“ hieß. Abend für Abend war diese Location des Grauens überfüllt. Eine schreckliche Kapelle spielte all die schrecklichen Ballermanndinger, die vor allem unsere ausländischen Freunde für originalecht bayerisch hielten. Irgendwann enterte dann ein japanischer, chinesischer oder US-amerikanischer Topmanager die Bühne und dirigierte zur Schadenfreude seiner Untertanen das Orchester. Und ab etwa 23 Uhr, wenn alle den fürchterlichen Fraß vertilgt hatten, den man servierte, und zumindest halbtrunken vom Bier waren, schaltete man auf Karaoke um. Blasse Verkaufsleiter in schlechtsitzenden, hellgrauen Anzügen schmetterten das New-York-Lied und behaupteten, wenn sie es hier nicht schafften, dann nirgendwo. Skandinavische Damen mittleren Alters gaben die Spice Girls oder Schlimmeres, und die Jungmänner schweiften aus im Saal, um sich was für die Nacht zu erjagen. Als erfahrene Messe-Crew hatten wir einen relativ angenehmen Tisch, ziemlich weit weg von der Musik, direkt an der Außenwand und unweit der Toiletten. Natürlich saß Ann neben mir. Es war heiß in der Halle, und sie hatte – wie ihre Hostessenkolleginnen – die Bluse relativ weit aufgeknöpft. Wer im richtigen Abstand entfernt einen Blick warf und größer als einsachtzig war, der konnte so ihr Dekolleté in einiger Tiefe bewundern.
Und dann kamen die Kerle wie die Fliegen zum Misthaufen. Starrten sie rücksichtslos an, hormonell verseucht grinsend, gierig, unverschämt. Dann tauchte der erste hinter unseren Rücken auf, fasste sie an die Schulter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lachte und schlug mit der Serviette nach ihm. Der nächste rieb sich dann schon an ihr, während sein Kumpel, den ich aus dem Augenwinkel sah, Onanierbewegungen vollführte. Die ersten Kolleginnen hatte sich schon auf derlei Angebote eingelassen, und am Tisch saßen nur noch wir zwei, die beiden alten Damen und die krankhaft monogamen unter den schwer verheirateten Kollegen. Dann kamen sie von beiden Seiten. Aber erst als einer versuchte, sich auf unsere Bank zu drängeln und zwar zwischen Ann und mir, wurde es mir zu bunt. Ich gab dem Typ einen Stoß, aus alkoholischen Gründen verlor er nicht nur Balance, sondern auch die Körperspannung und schlug hart auf den Boden. Da war ich schon aufgesprungen, denn seine Jungs wollten ihn rächen. Der nächste kriegte was auf die Backen, dem anderen verbog ich das Nasenbein mit der bloßen Hand. Auf einmal kamen mir fremde Herren zur Hilfe, wie ich später erfuhr, die australischen Burschen vom Nachbarstand. Und in Minuten war eine veritable Wirtshauskeilerei im Gange. Dann spürte ich, dass mich jemand am Sakko zog. Ich gab nach. Ann schleuste mich aus dem Getümmel und aus der Halle. Draußen sagte sie: „Bist ein Held.“ Und nickte dabei sehr ernsthaft.
Auf der Droschkentour hielten wir uns bei den Händen bis ans Ziel. Im Sitzen umarmten wir uns und konnten kaum voneinander lassen. „Was ist denn mit euch,“ fragte der Fahrer auf der Rückreise in die Stadt, „verliebt? Und warum bleiben Sie dann nicht bei ihr.“ Ich murmelte etwas Unverständliches, stellte mir aber dieselbe Frage. Die mich dann die nächsten Tagen durchgehend beschäftigen würde. Dann gab es die Standparty zum Messeende. In der Suite für die Kunden hatte man aus den kleinen Tischen vier quadratische Tafeln aufgebaut, an denen jeweils acht Leute Platz fanden. Ann hatte den Minirock gegen eine ihrer schwarzen Jenas getauscht und trug ein braves Strickjäckchen über der offenherzigen Bluse. Und dann übernahmen wir die Regie am Tisch. Wir spürten, dass wir in Sachen Humor und Witz vom gleichen Stamm waren, dass wir gut waren im Geschichtenerfinden und -erzählen, darin, Leute zu veräppeln, also eine ganze Gesellschaft zu unterhalten. Schnell schalteten wir beide auf einen rheinischen Tonfall um, und sie erwies sich als echt rheinisches Mädchen, die sogar das Platt unserer Heimatstadt sprach. Unsere Kollegen kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus. Bald hatten sich fast alle anderen an unseren Tisch gesellt, und wir standen als Paar im Mittelpunkt. Das war der Zeitpunkt, an dem ich mich in Ann verliebte. Haltlos.
Es war sicher zwei Uhr in der Nacht als wir im Taxi saßen. Sie lehnte an meiner Schulter und machte kleine Geräusche. Dann sank sie in meinen Schoß, und ich streichelte ihr Haar, ihr Gesicht. Schnell schlief sie ein. Die Droschke hielt, und ich bat den Chauffeur, auf mich zu warten. Ich half ihr aus dem Wagen. Sie hakte sich unter und ich führte sie Schritt für Schritt zur Tür der Herberge. „Ich bin nicht betrunken, falls du das denkst. Ich bin nur sehr, sehr müde.“ Das bisschen Licht ließ mich ihre Mimik erahnen. Also sagte ich: „Nimmst du mich mit zu dir?“ Es schien als ob sie erschrak. „Nicht jetzt, nicht heute, mein Lieber. Das ist weder die richtige Nacht, noch der richtige Ort.“ Das sagte sie ganz sanft, nahm mein Gesicht zwischen die Hände und zog es an ihres. Wir küssten uns sehr lange auf den Mund. „Hast ja Recht,“ sagte ich zum Abschied.