An einem Freitagbachmittag stand sie unerwartet vor meiner Tür. In beiden Händen hielt sie Schlüssel und fragte freudestrahlend: „Was ist das?“ Ohne zu antworten bat ich sie hinein. Immer noch hielt sie die Hände mit den Schlüsseln hoch und nickte mir zu: „Na, na, na?“ – „Schlüssel?“ entgegnete ich ratlos. „Das hier,“ sie wedelte mit der linken Hand, „sind die Schlüssel zum Hasenhaus.“ Jetzt hielt sie mir die Rechte entgegen und sagte: „Und dies ist der Schlüssel vom Volvo meines Vaters. Also pack deine Sachen. Wir verbringen das Wochenende in der Eifel.“ Langsam dämmerte mir, was sie vorhatte, weil ich mich aber immer noch nicht in Gang setzte, raunzte sie mich fröhlich an: „Richtiger Zeitpunkt, richtiger Ort, Bello.“
Jemanden zu fragen, wie die denn der Partner beziehungsweise die Partnerin im Bett gewesen sei, ist aus meiner Sicht nicht nur indiskret, unhöflich und blöd, sondern sinnlos. Besonders dann, wenn ein Kerl einen anderen fragt, der zum ersten Mal mit einer neuen Geliebten zusammenwar und so etwas wie ein Leistungszeugnis erwartet. Wann war denn eine Frau gut im Bett aus der Sicht solcher Typen? Wenn sie dem Mann jeden Wunsch erfüllt hat? Wenn sie Dinge getan hat, von denen Männer träumen? Wie ist es denn umgekehrt unter Frauen? Wird da die Potenz des neuen Geliebten abgefragt? Sein Stehvermögen? Oder die Fähigkeit seiner Partnerin zu einem oder mehreren Orgasmen zu verhelfen?
Zum Glück hat mir niemand diese Frage in Bezug auf Ann und unser Wochenende im Hasenhaus gestellt. Ich hätte keine Antwort geben können. Vielleicht hätte ich so etwas gesagt wie: offen und wendig. Weil mir beim Nachdenken über das Dumme der Frage genau diese beiden Begriffe eingefallen sind. Jedenfalls war sie wohl besser im Bett als am Lenkrad eines Autos. Schon den ersten Rastplatz, kaum zwanzig Kilometer nach der Abfahrt, steuerte sie an, gestresst, entnervt, den Tränen nah, und bat mich, den Chauffeur zu spielen. Ob sie den Weg kenne, fragte ich nur. „Im Schlaf mit verbundenen Augen und unter Drogen,“ gab sie zurück, „als wir Kinder waren, sind wir praktisch jedes Wochenende hingefahren.“
Sie Lotste mich auf die A1, ließ mich irgendwo hinter Bad Münstereifel abfahren. Wir kurvten durch eine Reihe dumpfer Dörfer, während sich die Wolken verzogen und sich ein Kristallhimmel über die Eifel spannte. Die Nebenstraßen wurden schmaler. Und dann hieß sie mich, auf einen Wirtschaftsweg einbiegen, der sich über einige Kilometer hügelaufwärts zog, an Viehweiden und Gehölzen vorbei bis zu einem graubraunen Bauernhof unterhalb eines ausgedehnten Waldstücks. „Da lang,“ sagte sie und zeigte auf die erdige Spur, die zwischen dem Wohngebäude und den Stallungen verlief. Am Ende ging es steil bergauf, und gut zweihundert Meter weiter erkannte ich das Dach eines Häuschens. „Das Hasenhaus,“ jubelte sie.
Das Hasenhaus erwies sich als einigermaßen massives Gebäude mit drei Etagen. Das zweite Stockwerk lag auf Höhe des Fahrwegs, das Erdgeschoss fand sich hügelabwärts im Tal des Baches, der durch den Garten Richtung Gehöft vorbeipläscherte. Das ganze Haus war vollgestopft mit eher altmodischen Möbeln und Mengen an Erinnerungsstücken. „Seit sechzig Jahren Familieneigentum,“ sagte Ann. Obwohl es bereits Frühjahr war und die Temperaturen einigermaßen mild, war es im Hasenhaus eiskalt. „Starte mal die Heizung,“ wies sie mich an und zeigte auf eine Falltür, die in das Loch führte, in dem der Kessel untergebracht war. Ich fand die Bedienungsanleitung und schaltete die Heizung ein. „Dreiundzwanzig Grad!“ rief sie mir aus der Wohnküche zu.
Dieser Hauptraum nahm das gesamte Parterre ein und ragte an der Fensterseite bis in den ersten Stock empor, wo eine Empore mit drei Türen angebracht war. Die Front war durchgehend verglast, und man hatte einen Blick quer über das weite Tal hinweg, in dem der Bach vor dem Haus sein Flüsschen fand. Wir holten unsere Taschen aus dem Auto und die Kiste mit den Nahrungsmitteln, die sie besorgt hatte. Dazu auch eine Kiste Wein und zwei Kästen Bier. Angesichts der Mengen an Speisen und Getränken fragte ich: „Wie lange willst du hierbleiben?“ Sie hielt kurz inne, sah mich einen Hauch zu ernst an und sagte: „Bis wir fertig sind.“ Dann öffnete sie die eine Tür auf der Empore: „Hier schläfst du. Nebenan ist das Klo, und im Zimmer dahinter schlafe ich.“ Wieder kam ich mir veralbert vor, hatte ich doch unterwegs eine klare Vorstellung von wilden Liebesnächten in romantischer Umgebung erwartet. Aber sie ergänzte: „Aber das heißt nicht, dass wir nicht doch möglicherweise zusammen Liebe machen werden.“ Ihr Grinsen erschien mir wie eine Mischung aus boshaft, frech und verführerisch.
Es gibt ja Männer, die derartiges Kokettieren als Aufforderung zur Vergewaltigung interpretieren und sagen: „Sie wollte es doch so.“ Sie nennen es Schwanzneckerei, wenn eine Frau sich aus ihrer Sicht so verhält als wolle sie Sex, den konkreten Verkehr aber hinauszögerte und letztlich vermeidet. Andere Burschen lieben dieses Spiel, weil es am Ende zu völliger Enthemmung und damit maximaler Lust führt. Mir zeigte ihr Verhalten dagegen nur die Grenzen meines Selbstbewusstseins und letztlich auch meiner Angst auf. Ja, ich hatte den extremen Wunsch mit ihr zu schlafen, fand mich selbst aber angesichts ihrer Schönheit zu unattraktiv als dass sie Sex mit mir ernsthaft in Erwägung ziehen könnte. Und ich hatte Angst vor der Zurückweisung. Es kam dann ganz anders, völlig natürlich, entspannt und lässig.
„Komm,“ sagte sie, „lass uns wandern gehen so lange es noch hell ist.“ Sie kannte sich natürlich perfekt aus im Wald, führte mich auf eine Lichtung, von der aus man Weitblick hatte, ohne auch nur eine Spur menschlicher Zivilisation sehen zu müssen. Am Rande eines brachliegenden Feldes, im Schatten eines mächtigen Brombeergestrüpps, nahm sie mich in den Arm, und wir küssten uns sanft. Ihr Gesicht begann zu leuchten und hörte damit nicht mehr auf bis zum Tag unserer Abreise. Das Hasenhaus war schön aufgewärmt als wir zurückkehrten. „Noch wärmer?“ fragte sie. Und: „Dann werde ich mal die Sauna aufwärmen. Die befand sich in einer Hütte am anderen Ende des Grundstücks an einem kleinen Teich, der vom Bach mit frischem Wasser gespeist wurde. Sie verschwand für eine Viertelstunde und kam im Bademantel zurück. Warf mir ebenfalls einen Frotteemantel zu und forderte mich auf, es ihr nachzutun.
Ich sah sie dann im milden Licht des Badehauses zum ersten Mal nackt. Wie immer beim Besuch eines Dampfbades oder einer Sauna erregte mich der Anblick nicht sehr. Ich betrachtete ihren Körper eingehend und sie nahm das wahr und gab mir ausreichend Gelegenheit dazu, jeden Blickwinkel einzunehmen. Außerdem musterte auch sie mich sehr genau. Am meisten faszinierte mich ihre Hautfarbe. Hätte mich jemand nach ihrer Figur gefragt, hätte ich geantwortet: normal. Denn sie war, aber das wusste ich ja auch ohne sie unbekleidet erlebt zu haben, nicht sehr groß, aber auch nicht besonders klein, relativ schlank, aber mit deutlichen Hüften versehen sowie Brüsten, die genau in eine hohle Hand passen würden. Den ersten Gang unternahmen wir schweigend, beendeten ihn gleichzeitig und stiegen in das natürlich Abkühlbecken. Nicht ohne den Kälteschock durch Prusten und Schreien und Plantschen und Stöhnen, theatralisches Luftholen und sonstige Geräusche zu untermalen.
Dann begann sie zu lachen, laut und aus tiefster Kehle: „Das ist besser als fast alles andere.“ Ich wusste nicht genau, was sie meinte, hatte aber dasselbe Gefühl. Wir hatten zwei Flaschen Rotwein aus dem Haus mitgebracht und saßen eine Weile schweigend auf der kleinen Veranda des Badehauses, tranken den Wein in kleinen Schlucken aus Wassergläsern und sahen aneinander vorbei in die Dämmerung. Beim zweiten Gang begann sie mit einem Monolog über den Körper an sich, über den männlichen und den weiblichen Körper, wie sehr die Beschaffenheit des Körpers das Leben prägt und dass es für jede Frau eine Verlockung darstellt, ihren Körper auf die eine oder andere Weise zu verändern. Sie habe damals gar nicht mit Absicht abgenommen, sie habe sich als – so nannte sie es – Pummelchen immer wohlgefühlt und sei sehr erstaunt gewesen, dass sie als schlanke Ann vielen Kerlen viel begehrenswerter erschienen sei. Noch erstaunter sei sie gewesen als man ihr dieses Angebot gemacht hatte, als Model zu arbeiten. Und dann noch für Dessous.
Da unterbrach ich sie und sagte knapp: „Das kann ich bestens nachvollziehen.“ Sie lächelte mich an und legte ihre Hand auf meinen schweißnassen Oberschenkel. Dieses Mal gaben wir uns beim Abkühlen nicht so viel Mühe mit der Theatralik. „Noch einen?“ fragte sie nachdem wir uns beim Wein weiter auf Normaltemperatur gebracht hatte, Ich nickte, und beim dritten Gang fragte sie mich aus. Nachdem sie in den Monaten, in denen wir umeinander herum getanzt hatten und sie sich kaum an meinem Leben zwischen unserer ersten Begegnung und jetzt interessiert hatte, wollte sie nun alles Wissen. Warum ich nicht mehr bei der alten Firma sei, weshalb ich überhaupt nichts mehr mit Vertrieb zu tun haben wolle. Wann ich mich von D. getrennt habe oder ob es eher so gewesen sei, dass sie mich nicht hätte haben wollen. Was die Kinder dazu gesagt hätten und inzwischen dazu sagen würden. Ob ich D. noch gelegentlich sähe und ob solche Begegnungen bei mir etwas auslösen würden.
Ich gab kurz und präzise Auskunft, ohne zu sehr in die Tiefe zu gehen. Auch weil ich mir über manche Dinge, die sie abfragte, noch nie intensivere Gedanken gemacht hatte. Mir schien es so, als seien alle diese Veränderungen der letzten fünfzehn Jahre einfach passiert. Als hätten sie sogar passieren müssen. Ich trauerte weder meinem Job, noch meiner Ehe nach. Ich bereute aber auch nichts von dem, was ich in dieser Zeit mit D. und bei der G. GmbH getan hatte. Es war alles gut so wie es kam. Keine Nostalgie, keine Trauer, wenig Schmerz. Ob ich mir manchmal wünschte, wieder mit D. zu schlafen. „Ja,“ sagte ich mit voller Aufrichtigkeit, „oft. Wir waren beim Sex ein perfektes Team.“ Hätte ich besser nicht gesagt, denn sie bohrte nach, fragte nach Einzelheiten, danach wie es bei uns angefangen habe mit dem Liebemachen, wie es gewesen sei in den Zeiten als D. schwanger war. Wollte wissen, ob wir je diese oder jene Praktik probiert oder gar ständig vollzogen hätten.
Mir ging das zu weit, und ich sagte, ich müsse raus, ich hätte jetzt genug geschwitzt. „Wie du willst, Bello. Drück dich nur,“ lachte sie. Nach dem Abkühlen schlug sie vor, noch ein bisschen im Zuber zu entspannen. Den hatte ich noch gar nicht bemerkt, ein hölzernes Becken auf der Veranda um die Ecke, gut anderthalb Meter im Durchmesser. „Ich lass heißes Wasser ein und mach das Licht an,“ sagte sie und ging in die Hütte. Dann saßen wir im Dunkel im Zuber, dessen Wasser von innen beleuchtet war und sanft sprudelte. Hier liebten wir uns zum ersten Mal.