Als sie die Stelle im Park gefunden hatte, der Zaun kaum zehn Metern von den Ferngleisen entfernt, stellte sie fest, dass der ICE schreit, wenn er vorbeifährt. Ein völlig anderes Geräusch als ein IC mit Lok vorne oder ein Regionalexpress oder gar die S-Bahn. Ein hoher Schrei, der ankommt, wenn der Zug ins Blickfeld gerät, dann anhält bis zum letzten Waggon. Kein Schmerzensschrei, sondern ein selbstbewusstes Geräusch wie ein Tier, das so sein Revier markiert. Dann kam sie öfters hierher, wusste nach einiger Zeit ungefähr, wann ein Express vorbei raste. Sie fuhr gern mit der Eisenbahn, schon seit Kindheitstagen. Liebte Bahnhöfe, und Opa nahm sie manchmal sonntags mit. Dann lösten sie an der Sperre Bahnsteigkarten für zehn Pfennige und marschierten wie selbstverständlich zu den Gleisen 11 und 12, wo der TEE mit laufender Dieselmaschine auf seine Abfahrt wartete und die feinen Leute einstiegen, um über Köln den Rhein entlang, ander Loreley vorbei in ferne Länder zu reisen. Ein paar Mal war sie mit den Eltern nach Bocholt gefahren, wo Vater einen Kriegskameraden besuchte. Die Strecke wurde von einer Dampflok bedient, die drei oder vier Waggons schleppte. Der Rhythmus, mit dem der Dampf aus dem Schlot gestoßen wurde, vom Wind gedrückt, sich auflösend an den Fenstern vorbeizog. Der Rhythmus der Schienestöße, das Pfeifen der Lok an den vielen Bahnübergängen. Und dann das Ablassen des Dampfes im Bahnhof wie ein Ausatmen. Später dann das Brummen des Schienenbusses, der die nicht elektrifizierten Strecke übernahm und einen ganzen anderen Gerucht trug. [Lesezeit ca. 15 min]
Natürlich hatte die Familie in den Fünfzigerjahren kein Auto, wer hatte schon ein Auto? Aber reiselustig waren die Eltern. Also fuhr man mit der Eisenbahn oder mit dem Reisebus. Sie war elf oder zwölf als sie mit einem Ferienzug nach Travemünde reisten, ein ganzer D-Zug voller Familien mit vielen Kindern, die meisten konnten sich die Reise nur wegen der Zuschüsse leisten, die Stadt und Land leisteten. Der Sonderzug war in Köln losgefahren, sie stiegen in Düsseldorf zu, und dann hielt man nur noch einmal in Dortmund. Die Menschen, die dort zustiegen, sahen alle sehr müde aus, obwohl sie doch viel länger hatten schlafen können. Die Kinder liefen hin und her, tobten herum, ärgerten die Schaffner und das Begleitpersonal. Fanden das Abteil der Eltern nicht mehr, bekamen es mit der Angst und fingen an zu weinen. Bis die Reiseleiterinnen sie aufgriffen, die umgehängten Pappkarten entzifferten und die verlorenen Blagen wieder bei ihren Erzeugern ablieferten. Dann hatte Vati im Lotto gewonnen und gab den größten Teil des Gewinns für eine Urlaubsreise an die Adria aus. Mit dem Nachtzug reisten sie, zu fünft im Liegewagen. Der Vater verwandelte die Sitze im Nu in Liegen, und sie wählte die oberste Etage als Schlafplatz. Von dort aus konnten sie den halben Mond im Fensterschlitz sehen. Schlief nicht eine Sekunden, sondern lauschte auf das gleichmäßige Geräusch des Eilzugs, der mit mäßiger Geschwindigkeit durch schlafende Städte fuhr, durch menschenleere Landschaften, und im Morgengrauen sah sie die ersten schneebedeckten Alpengipfel. In Bologna mussten sie umsteigen in einen italienischen Bummelzug, was Vati wieder gelassen meisterte. Angesichts der Diesellok, die aussah wie ein schlecht gepflegter Gebrauchtwagen, ließ er eine abschätzige Bemerkung über die Italiener und ihre Rolle im Krieg fallen.
Für die knapp 150 Kilometer von Bologna nach Venedig brauchten sie fast so lange wie für die Fahrt über die Berge. Der Zug hielt sicher dreißig Mal, und nicht immer an einem Bahnhof. Der Waggon war erfüllt vom pausenlosen lauten Reden der Fahrgäste, die zudem alle ununterbrochen aßen oder tranken. Im Schritttempo überquerte der Zug den Damm von Mestre nach Venedig, und am Bahnhof wurden sie von einem livrierten Mitarbeiter des Hotels in Empfang genommen, der sich ums Gepäck kümmerte und sie zu einem Motorboot führte, das sie durch den Canale Grande und ein paar kleiner Kanäle zu ihrer Herberge brachte. Sie liefen drei Tage lang durch die Stadt voller Wasser, und sie langweilte sich schrecklich. In Rimini, wo die Sommerfrische stattfinden sollte, langweilte sie sich noch mehr. Zumal ständig braune italienische Jungs hinter ihr her waren, sie von allen Seiten ansprachen, nach ihr grabschten und sich laut kurze Sätze zuwarfen, die vielleicht böse waren. Nach Rom fuhren sie dann mit dem Bus, und allen wurde furchtbar schlecht auf den kurvigen Bergstraßen. Aber der Hauptbahnhof entschädigte für vieles. In diesem halbverfallenen Gebäude, das noch alle Spuren des Krieges trug, waren mehr Leute unterwegs als alle Züge Italienes fassen könnten. Hier kamen die Römer nicht etwas hin, um irgendwo hin zu fahren oder jemanden abzuholen, hier kamen sie hin, weil es hier alles gab. Hunderte Händler boten alle möglichen sachen an; meist lag die Ware auf einer Decke, während der Verkäufer an einer Säule lehnte. Und dann kam die Streife vorbei, und die Männer rafften ihr Zeug zusammen und verschwanden. Für ein paar Minuten, denn sobald die Carabinieri vorbei waren, bauten sie wieder auf.
Natürlich war sie eine der ersten, die sich ein Interrail-Ticket beschafften. Und im Sommer 1973 ware sie zwei Monate unterwegs. Bis nach Marokko schafft sie es, und dann quer von Spanien aus über Italien bis nach Griechenland. Und weil sie noch Zeit hat, bricht sie ein zweites Mal auf und fährt in einem Rutsch bis nach Bergen. Eigentlich verlässt sie den Zug kaum jemals, geht nur dann in den jeweiligen Ort, wenn sie genug Aufenthalt hat. Manchmal bleibt sie einfach im Bahnhof, weil es im Bahnhof immer etwas zu essen und zu trinken gibt. Lernt Dutzende anderer Interrailer kennen, schließt sich aber nie an, so wie sie ja auch zuhause nie Teil einer Clique ist und überhaupt niemanden hat, den sie Freundin oder Freund nennt. Das bleibt auch während des Studiums so. An den Wochenenden fährt sie die 600 Kilometer nachhause, Vati hat ihr einen Dauerfahrschein für die Strecke geschenkt. Nach drei Semestern kennt sie die Leute, die ebenfalls an fast jedem Wochenende dieselbe Strecke fahren. Man grüßt sich, und im sechsten Semester hat sich ein kleiner Club von fünf Studenten, drei junge Frauen, zwei Kerle, gebildet, der meisten gemeinsam reist und sich schon frühzeitig am Bahnhof-Zoo trifft, um gemeinsam einen Kaffee oder einen Wein zu trinken und sich gegenseitig zu erzählen, wie die Woche war und was man daheim am Wochenende zu unternehmen gedenke.
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Trostlos, trostlos. Ein trostloser Ort. Albert überquert den Busbahnhof, sieben Haltestellen, diese neumodischen Fernbusse und die Busse des öffentlichen Personennahverkehrs machen Jagd auf ihn. Ein giftgrüner Bus hupt ihn an, blendet ihn mit den Scheinwerfern, und er kann nur knapp ausweichen. Dabei will er nur zu diesem kleinen Döner-Laden am Fuss des Einkaufszentrums, dem einzigen Imbiss im ganzen Koloss, in dem es etwas Genießbares gibt. Ein paar Mal war er schon hereingefallen. Selbst in der Filiale der Burger-Kette war das Essen schlechter als sonst überall in den anderen Niederlassungen. Eine Schnellpizzeria hatte er gleich gemieden, weil sie stank. Und dann hatte er es auch bei einem Schnellrestaurant probiert, das eine bunte Palette an Fastfood anbot. Die lauwarme Wurst schwamm in der ekligsten Currysoße, die er sich nur vorstellen konnte. Und selbst die Fritten hatte der lustlose Typ hinter der Theke versaut. Nur beim Türken unten, direkt am Busbahnhof, da gab es gut gewürztes Fleisch und knackige Salate im Brot. Dort fanden sich die Busfahrer ein und die Taxichauffeure, dort musste das Essen ordentlich sein.
Nach der Mahlzeit und dem Gratistee dazu geht er außen herum, um zur Passage zu kommen, mit der man eine Schnellstraßenschneise überbrückt hat und die irgendetwas mit“Rialto“ heißt. Es dämmert, und vermutlich malt der Himmel sich im Westen schön an, aber durch die dreckigen Dachfenster der Passage kommt nur das immergleiche fahle Licht, das Albert auch im Winter schon erlebt hat. Die Boutiquen mit den billigen Klamotten haben schon geschlossen, ein Goldaufkäufer lässt gerade die Stahlrolläden herunter, und verzweifelte Einwohner schleichen an ihm vorbei als seien sie Lemminge auf dem Weg zur Klippe. Genau an der Ecke, an der die Ladenstraße rechtwinklig abbiegt, in einer winzigen Kneipe, die vier Personen an der Theke und weitere sechs an den Tischen fasst, hocken zwei ältere Männer in grau-grünen Jacken vor Bier- und Schnapsgläsern. Drei Jungs rasen auf ihren Skateboards vorbei, einer hat das Smartphone auf laut gestellt, eine Wolke bösartiger Rap-Musik zieht an Albert vorbei. sodass es ihn ekelt. Selbst das Rathaus der Stadt ist ein Einkaufszentrum, ein runder Bau, der aussieht wie die gestrandete Raumstation einer weniger intelligenten Lebensform. Hier sind Putzkolonnen unterwegs und Personal, das die Osterdekoration abnimmt.
In einem Seitenarm des Gängesystems steigt er drei Stufen hinauf und dann durch die Drehtür, die als Notausgang gekennzeichnet ist. Er steht auf einer Plattform, von der eine schmale, absurd geschwungener Steig abgeht, der sich etwa zwanzig Meter entfernt mit seinem Zwilling vereint, und Albert weiß, dass sie dieses ing „Y-Brücke“ nennen. Die führt zu einem lichtlosen Betonplateau mit Begleitgrün und steinernen Bänken, auf denen sich die Flaschenbiertrinken versammelt haben. Das Konzertgebäude ist flach und war früher weiß, hat sich aber der vorherrschenden Farbe, einem leicht grünlich mellierten Grau, angepasst. Würdelose Waschbetonpaneele gliedern die Front. Allein das warme Licht, das aus dem Foyer durch die gläsernen Eingangstüren dringt, macht Hoffnung. Und Albert weiß, dass diese Hoffnung ihn nicht trügen wird, denn die Musik, die auf ihn wartet, die bietet ihm Trost in seiner ausweglosen Lage.
Sie erledigte das Studium wie eine Maschine: mit gleichmäßiger Energie in gleichförmigen Abläufen und vollkommener Konzentration. Da ihr an Parties, an Abenden in Gastwirtschaften, überhaupt an den üblichen Freizeitvergnügungen anderer Studenten wenig gelegen war, überholte sie die Kommilitonen mit Leichtigkeit, erwarb das Diplom vorzeitig mit Bestnote und Auszeichnung und fand unter diesen Voraussetzungen umgehend einen Job. Dass sie in ihrer Heimatstadt bleiben und weiter bei den Eltern wohnen konnte, nahm sie ohne große Begeisterung hin. Rasch wurde sie zur Hoffnungsträgerin ihrer Abteilung und erfuhr von allen Vorgesetzten jegliche Förderung. Weil sie zudem als einzige Kollegin nichts gegen viele Reisen hatte, machte sie innerhalb von kaum drei Jahren Karriere. Allerdings löste ihr unverhandelbarer Wunsch nach einer Netzkarte für die Bahn anstelle des ihr zustehenden Dienstwagens der gehobenen Mittelklasse zumindest in der Personalabteilung Verwunderung aus. Und weil sie ungern flog, fuhr sie auch Ziele mit dem Zug an, die sie mit dem Flugzeug schneller und bequemer erreicht hätte. Ja, um beispielsweise nach Rom zu kommen, nahm sie einen Tag Urlaub, den sie dann in deutschen und italienischen Zügen verbrachte. Die Rückfahrt lag ohnehin auf einem Wochenende. Irgendwann lernte sie Jörg kennen, und zwischen ihr und ihm entwickelte sich etwas.
Jetzt nach mehr als dreißig Jahren fragte sie sich bisweilen, was sich zwischen Jörg und ihr entwickelt hatte. Ob es das war, was man eine Beziehung nennt, ob es nur ein Verhältnis sei und ob sie inzwischen zu einem Paar geworden waren. Immer noch lebten sie in getrennten Wohnungen und erst seit wenigen Jahren in derselben Stadt. Gut zwanzig Jahre lang verlebten sie lediglich die Wochenenden und die zwei Urlaube im Jahr gemeinsam. Beiden war bewusst, wie unterschiedlich ihre Interessen und Lebensrhythmen waren. Und beide verspürten über die ganze lange Zeit wenig Lust, sich dem anderen zuliebe zu ändern. Weil Jörg eher ungern reiste, war sie es, die sich freitags am Abend in den ICE setzte, um kurz nach Mitternacht in der Stadt, in der Jörg lebte, anzukommen. Montags fuhr sie dann in aller Frühe zurück. Natürlich war er der erste Mann, mit dem sie schlief. Was ihr kein besonderes Vergnügen bereitete, sodass sie selbst eigentlich nie die üblichen Handlungen vollführte, um ihn zum Sex zu verführen. Er wiederum hatte es vor etwa zehn Jahren aufgegeben und sorgte anderweitig für seine Befriedigung.
Den einzigen Luxus, den sie sich leisteten, waren teure Urlaubsreisen. Während Jörg von Kreuzfahrten schwärmte, die sie mit geringem Spaß über sich ergehen ließ, fand sie ihr Glück in exotischen Reisen mit der Eisenbahn. So durchquerten sie die Sowjetunion mit der Transibirischen Eisenbahn, reisten in Etappen quer durch die USA, dann durch Kanada und schließlich auch von Mexiko bis nach Alaska. Die Tour mit der Bahn rund um den australischen Kontinent betrachtete sie insgeheim als das Schönste, was ihr das Leben bis zu ihrem neunundfünzigsten Lebensjahr geschenkt hatte. Lediglich die Jungfernfahrt mit dem TGV von Stuttgart bis nach Beziérs konnte da mithalten. Dann traf sie Albert, und alles änderte sich.
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Er hat sich in der Halle einen Platz auf dem Mäuerchen rechts von der Bühne gesucht und kann am Pfeiler vorbei den Keyboarder und den Bassisten sehen. Drinnen ist es nicht viel besser als draußen. Der Saal ist mit weiß-geflammten Marmor ausgelegt, und Albert fragt sich, wie sie trotzdem diese Akustik hinbekommen. Wobei es bei dieser Truppe eigentlich egal ist. Gut ein Dutzend Musiker erzeugen eine dicke, hohe Mauer aus Geräusch, aus der spitze Moniereisen ragen. Ohne Pause improvisieren die Männer, jeder gegen jeden. Er stützt sich mit der Rechten auf dem Stein ab und spürt das Pflaster in der Handfläche. Beim Abwaschen ist ihm vor ein paar Tagen ein Glas zerbrochen. Er hat versucht, es aus dem Spülbecken zu holen und dabei in den spitzen und scharfen Überrest gegriffen. Angeregt durch das heiße Wasser hat es stark geblutet. Mit dem Geschirrtuch hat er sich notdürftig verbunden, dann im Bad die Wunde gereinigt und verpflastert.
So etwas ist ihm davor lange nicht mehr passiert. Seine letzte OP liegt auch schon mehr als 15 Jahre zurück. Da hat ihm der Chirurg die Metallplatte aus dem Unterschenkel geholt, die viel zu lange dringeblieben war. Folge eines Bruchs des Schienenbeins. Den hatte er sich zugezogen, weil er meinte, mit einem Brace am rechten Knie weiterhin Badminton spielen zu müssen. Er liebte diesen Sport, besser: dieses Spiel, das darauf ausgelegt ist, den Gegner psychisch zu zerstören. Ungefähr wie beim Schach, das er in seiner Jugend intensiv betrieben hatte. Bei einem offenen Turnier war es, als im Doppel mit seinem Bruder einen Lob erlaufen wollte, der exakt auf die hintere linke Ecke des Feldes zu fallen drohte. Beim Ausfallschritt landete er nicht auf der Sohle, sondern dem Außenrist. Unhappy triad nannte schon der Arzt in der Notfallambulanz das. Tatsächlich waren alle Bänder gerissen und die Menisken beschädigt. Aber nur sechs Monate nach dem Unfall stand er wieder auf dem Platz.
Jetzt setzt der Trompeter zu einem Solo mit hohen Frequenzen an und bohrt sich damit in Alberts Körper. Das Tier in seinem Bauch wacht auf, Reflux setzt ein, und er hat sofort starke Schmerzen. Leicht gekrümmt geht er ganz außen am Publikum vorbei zum Ausgang, durchquert das Foyer, lässt sich einen Stempel auf die Hand drücken und macht draußen in der milden Luft seine Übungen. Drei Tabletten hat er noch in der Hosentasche. Er kauft sich ein Bier an der Bar und spült das Medikament damit herunter. Bis 320 muss er zählen, das weiß er. Denn nach etwas mehr als fünf Minuten beginnen die Pillen zu wirken. Die Bestie zieht sich zusammen und legt sich wieder schlafen. Er holt sich noch ein Kölsch und geht wieder in die Halle, wo gerade Stagehands dabei sind, die Bühne für die nächste Band zu bereiten. Er bewundert die jungen Männer, fast alle mit dunklen Cargohosen und obskuren Tour-T-Shirts bekleidet, die präzise Handgriffe ausführen, dabei nicht reden, sondern mit kleinen Zeichen miteinander kommunizieren. Der Stagemanager schaut auf seinen Tablet-Computer und kontrolliert die Positionen der Instrumente und Mikrofone. Die neue Band, ein Quintet, beginnt ohne Ansage und Vorwarnung. Eine schwere, schwarze Maschine rollte durch den Saal und walzt alles nieder. Aus der Gewalt erhebt sich der Ton der verzerrten Gitarre wie die Stimme eines Opfers.
Jörg war kühl, Albert dagegen warm. Aber bis zur ersten Nacht mit Albert hatte sie nicht geahnt, wie sehr ihr die Wärme zuvor gefehlt hatte. Seine Wärme war nicht nur eine körperliche, sondern eine allumfassende. Wenn sie ihn sah, wurde ihr warm ums Herz, wie in einem Liebesroman. Immer wollte sie ihn berühren, und er ließ das im Gegensatz zu Jörg nicht nur zu, sondern freute sich über ihre Zuwendung. Ihr Leben veränderte sich, weil sich der Sinn dieses Lebens änderte. Ohne dass sie es so gewollt hätte, stockte ihre Karriere, aber durch ihr Fachwissen und die lange Erfahrung war sie für die Firma unverzichtbar, und man ließ sie trotz mangelnden Ehrgeizes in Ruhe. Sie zog in die Stadt, nahm eine ziemlich schicke Wohnung nahe des Zentrums, ganz oben mit einer Dachterrasse, von der aus man auf der einen Seite bis zum Rhein und auf anderen bis zu den ersten Hügeln des Bergischen Landes sehen konnte. Albert wohnte anfangs noch in einem kleinen Appartement in der Altstadt, zog aber nach ein paar Wochen zu ihr, und sie wurden ein Paar, bildeten eine Lebensgemeinschaft.
Er war ein Sonnenmensch, der aufblühte, wenn es hell draußen war, wolkenlos, und in eine Art Kältestarre verfiel, wenn der Herbst kam und es trüb, kalt und dunkel wurde. In dieser Zeit sprach Albert langsamer, bewegte sich träge, war aber nie depressiv. Sie entdeckte die Kraft der Sonne für sich, verbrachte nach Feierabend und bei Sonnenschein jede freie Minute draußen auf der Terrasse und machte mit ihm zum allerersten Mal einen Strandurlaub. Mit seinem alten Volvo reisten sie in vielen langsamen Etappen an die französische Atlantikküste südlich von Arcachon. Jeden Morgen ging er Croissants holen, dann frühstückten sie auf der Terrasse, um anschließend bis mittags an den Strand zu gehen. Dann gingen sie zurück in ihr Ferienhaus. Vor dem Mittagsschlaf liebten sie sich, und gegen drei waren sie dann wieder am Strand. So ging es Tag für Tag, und es tat ihr gut. Albert hatte Unmengen an Jazz auf seinem MP3-Spieler und abends und nachts teilten sie sich oft die Kopfhörer.
Immer noch fuhr sie gern mit dem Zug, beschränkte ihre Leidenschaft aber auf berufliche Reisen. Beinahe jede Woche musste sie nach Frankfurt und buchte dann immer das Abteil direkt über dem Fahrstand im ICE, um bei Tempo 300 nach vorne schauen zu können. Oder auch zu erleben, wie der Zug raste, während selbst die schnellsten Sportwagen auf der Autobahn nebenan aussahen, als ob sie sich in Zeitlupe bewegen würden. Und immer noch gefiel es ihr, wenn der Schnellzug ungebremst durch einen kleinen Bahnhof raste. Albert konnte der Eisenbahn wenig abgewinnen und war überhaupt eher ein Freund der Langsamkeit.
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Musik ist die einzige Macht, die Albert respektiert. Zuhause gab es Hausmusik, Verwandte und Nachbarn machten oft mit. Der Vater spielte die Geige, die Mutter sang, und seime ältere Schwester blies die Querflöte. Albert selbst übernahm den Klavierpart, obwohl er nie wirklich gut war an den Tasten. Später dann der Jazz, den er für den Vater aller modernen Musik hält. Klassik, sagt er immer, war immer die Musik der Reichen. Aber das ist eigentlich nur ein Spruch ohne tiefere Bedeutung. Er hat seine sechs Kinder alle mindestens ein Instrument lernen lassen, und jetzt, wo sie erwachsen sind, sind drei von ihnen hauptberuflich Musiker geworden. Amanda, die älteste Tochter, ist zweite Violinistin am Kammerorchester seiner Heimatstadt, Arno hat einen Abschluss als Percussionist und sucht gerade einen Job. Annemarie ist als Sängerin einer Popband sogar einigermaßen erfolgreich und berühmt. Nur Anton und die Zwillinge haben ganz normale Berufe ergriffen.
Seine Frau starb kurz nach der Geburt der Zwillinge an einem Herzinfarkt. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs zum Markt. Ein Passant beobachtete wie sie stehenblieb, die Füße am Boden, und sich gegen einen Laternenmast lehnte. Dann sackte sie über dem Lenker zusammen. Ein Büdchenbesitzer versuchte noch sie zu reanimieren. Aber der Notarzt, der nur wenige Minuten später kam, konnte nur ihren Tod feststellen. Annemarie wurde nur dreiundvierzig Jahre alt. Sie war seine große Liebe und die einzige Frau in seinem Leben. Albert vermisst sie noch heute. Fast jeden Tag. Die Kinder hat er gemeinsam mit Annemaries Schwester und deren Mann großgezogen. Die hatten einen ziemlich großen Reiterhof am Rande der Stadt und nahmen sie auf. Immer noch hielten Albert und seine Kinder zusammen, sahen sich untereinander so oft es ging und trafen sich mindestens einmal im Monat zu einem gemeinsamen Abendessen auf dem Hof von Lieselotte und Karl.
Die junge Band mit dem viel älteren Gitarristen arbeitet sich durch ein zähes, langsames Stück. Wie ein Lavafluss aus geschmolzenem Zucker. Albert merkt, dass er ganz verkrümmt auf seinem Platz hockt und versucht sich aufzurichten. Das Medikament betäubt das Tier, aber auch bestimmte Bereiche seines Hirns. Außer de Musik nimmt er wenig wahr, schon gar nicht das Publikum, das vor allem aus Leuten seines Alters besteht, vermutlich durchweg pensionierte Lehrer. Im Oberrang, der für Zuschauer gesperrt ist, bläst ein Ventilator künstlichen Nebel auf die Bühne, und er hat das feine Sirren des Propellers im Ohr. Der Schmerz ist weiter nach unten gewandert und pocht etwa da, wo früher sein Blinddarm saß. Das war sein erster Krankenhausaufenthalt, als man ihm dieses überflüssige Stück Innerei entfernt hat. So überflüssig der Blinddarm, so überflüssig war auch die Operation wie sich herausstellte. Dafür brachte die Mandel-OP ihm, da war er zweiundzwanzig, ein Ende ständiger Zahnschmerzen und Entzündungen am Auge. Weil man aber zu lange gezögert hatte, hatte die fast ununterbrochene Iritis so viel Schaden angerichtet, dass er am rechten Auge im Alter von ungefähr vierzig mehrfach operiert werden musste.
Es ist Freitag, und sie hat beschlossen, übers Wochenende nach Frankfurt zu fahren, dort zweimal zu übernachten, um sich die Stadt endlich ein wenig anzuschauen, und dann am Montag dieses ganztägige Meeting bei der Bank zu absolvieren. Albert ist ohnehin ab Mittag unterwegs nach Leverkusen zu diesem Jazz-Konzert, sodass sie deb Abend nicht miteinander verbringen würden. Wie sie überhaupt nicht unbedingt jeden Abend miteinander verbringen müssen. Das ist etwas, was sie an ihm auch schätzt, dass er sie in Ruhe lassen kann und es auch braucht in Ruhe gelassen zu werden. Jörg war da anders, weil er der Ansicht war, Paare hätten gemeinsam aufzutreten. Wann immer sie eingeladen war: Jörg wollte mit. Und wer eine Veranstaltung zu besuchen hatte, bestand er darauf, dass sie ih begleitet. Vermutlich gehörte das zu seinem Statusdenken, dass er als erwachsener Mann nun mal mit einer Frau an seiner Seite anzutreten habe. Gerade in den letzten Jahren wäre sie ein paar Mal gern allein gereist, aber Jörg verstand es, ihr das auszureden oder sich einfach dazwischen zu drängen.
Natürlich hatte sie Albert gefragt, ob er Lust hätte, sie nach Frankfurt zu begleiten. Er hatte mit der Bemerkung abgewinkt, Frankfurt gefalle ihm nicht. Er sei beruflich ein paar Mal dagewesen, aber diese mit Hochhäusern verbaute Stadt habe ihn ziemlich abgestoßen. Außerdem brauche er auch wieder mal eine Portion Jazz. Auch wenn er keine der Bands kenne, die da auftreten würden, so habe er mehr Lust zum Festival zu fahren. Dagegen war nichts einzuwenden.
Jetzt ist es kurz vor acht, und der ICE verlässt den Hauptbahnhof, um mit mäßiger Geschwindigkeit südwärts aus der Stadt zu rollen, am Volksgarten vorbei, durch Eller, unter der Autobahn durch, vorbei an Benrath. Dann nimmt der Zug Fahrt auf, beschleunigt auf knapp 200 Stundenkilometer und wird so durch die Bahnhöfe von Langenfeld und Leverkusen rasen.
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Zwölf Jahre lagen zwischen seiner letzten OP und der Diagnose. Albert gewöhnte sich daran, dauerhaft gesund zu sein. Er hatte ein Abo in einem Fitness-Studio abgeschlossen, traineirte dreimal die Woche, ging viel zu Fuß und fuhr Fahrrad wann immer möglich. Körperlich ging es ihm blendend, und als er Monika kennenlernte und sich verliebte, war er so glücklich wie selten zuvor. Ein neues Leben schien für ihn zu beginnen mit gerade einmal sechzig Jahren, vorzeitig pensioniert, finanziell gut versorgt, ein Renter, der sich nie langweilen würde. Allein rund um die Musik gab es noch so viel zu entdecken. Reisen würden sie, Essen und Trinken genießen, ja, und auch den Sex wieder entdecken. All das wurde auch Realität. Dann hatte er zum ersten Mal diese schlimmen Magenschmerzen, aber der Hausarzt meinte, es sei bloß ein viraler Infekt, also einfach Magen-Darm, das ginge vorbei.
Albert war trotzdem beunruhigt, denn er hatte sich drei Nächte nacheinander übergeben, etwas dass ihm selbst in seiner wilden Jugend nach schweren Alkoholexzessen nie passiert war. Er verlor in diesen Tagen gut sechs Kilo, die auch nicht wieder kommen würden. Ein paar Wochen später hatte er erneut heftige Bauschmerzen und konnte das Essen nicht bei sich behalten. Und ab dem Winter spürte er nach jeder Mahlzeit einen dumpfen Schmerz an einer Stelle ein Stück unterhalb vom Ende des Brustbeins. Und dann der erste Anfall. Er saß in seinem Musiksessel, den Monika ihm geschenkt hatte, damit er auch in ihrer Wohnung einen ruhigen Platz hatte, an dem er sich aufhalten und Platten hören konnte. Weil sie auf der Couch ein Nickerchen hielt, hatte er Kopfhörer aufgesetzt und hörte obskure Musikanten aus der Cool-Jazz-Ära. Als plötzlich die Bestie in seinem Inneren zu kreischen begann, sich in sein Inneres krallte, zu biss, ganze Fetzen rauszureißen schien. Ein Schmerz der aus der Mitte emporstieg und ihm Nägel ins Schädelhirn trieb bis sich der Körper ergab und er bewusstlos wurde.
Zehn Tage nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, teilte ihm der zuständige Abteilungsarzt beim Nachgespräch die Diagnose mit. Man können sicher etwas ausrichten mit der Chemotherapie, aber die Aussichten seien gering. Er könne sich auch eine Morphinpumpe einsetzen lassen, um selbst nach Bedarf gegen den Schmerz zu arbeiten. Aber Albert hatte abgelehnt und nur um ein passendes Schmerzmittel in Tablettenform gebeten, das er allerdings nur dann einzunehmen gedenke, wenn es gar nicht anders ginge. Monika log er an, er habe da was am Mageneingang, das müsse demnächst mal operiert werden, aber dann sei auch alles wieder okay. Er fühlte sich ungerecht behandelt: vom Schicksal, vom Leben, von dem Gott, an den er nicht glaubte. Er war wütend. Und beschloss, selbst zu entscheiden, wie lange er das aushalten wollte.
Mitte in einem hymnischen, beinahe hysterischen Stück der jungen Truppe schlägt das Tier trotz des Medikaments wieder zu. Albert eilt aus dem Konzertsaal, durchquert das Foyer, raus vor die Tür, runter zum Weg, der auf den Bahnsteig führt, wo die S-Bahnen halten. Die Treppen hinunter, durch den Gang, hoch zum Bahnsteig 5. Er möchte auf Händen und Füßen kriechen, kann sich kaum noch aufrichten. Erreicht die Bahnsteigkante. Hört die Warnung vor dem durchfahrenden Zug. Springt aufs Gleis. Der ICE trifft ihn wie eine große Faust und löscht sein Leben aus.