Ich weiß es noch genau: Die Miete betrug ohne Nebenkosten 99 DM. Geheizt haben wir mit einem Elektroradiator, den wir jeweils in das Zimmer mitnahmen, in dem wir uns aufhielten. Ein Telefon gab es nicht, wir besaßen keinen Fernseher mehr, und das Bett war schmal. Genau genommen war es meine Wohnung. Und eine Katze hatte ich auch. Die war bei der Auflösung unserer WG auf dem Land übriggeblieben. Genau wie der Hund, den aber Bernd mitnahm. Die Wohnung hatte ich von Ellen übernommen, die zu Willi gezogen war, einem Mitglied der Wohngemeinschaft. So fügte sich alles ganz harmonisch.
Zum 1. Dezember 1977 war ich eingezogen, am 5. gab ich eine Einweihungsparty, die ziemlich aus dem Ruder lief. Jedenfalls verbrachte ich den Sonntag und den Montag mit Aufräumen und Putzen und genoss ab Dienstag die Ruhe des Alleinseins. Zum ersten Mal in meinem Leben. Hatte ich doch mit achtzehn meine liebste Schulfreundin, ein stilles Mädchen namens Renate, geheiratet, um mit ihr zusammenzuleben. Nach der schnellen Trennung dann in eine chaotische, linksradikale WG. Und weiter aufs Land in dieses unförmige Einfamilienhaus, in dem vorher ein lokaler Unternehmer mit Gattin und sieben Kindern gewohnt hatte.
Eher zufällig hatte ich mich auf Büroarbeiten qualifiziert und fand so auch immer ziemlich gute, ordentlich bezahlte Jobs. Zum Beispiel bei einer Beratungsfirma, die für einen Großkonzern die Dokumentation von Bauprojekten übernahm. Da musste für jedes Detail eine Bedienungsanleitung verfasst und vervielfältigt werden. Ich galt als Rastelli am Fotokopierer. Manchmal arbeitete ich an allen drei Maschinen im Bürohaus am Boulevard gleichzeitig, hatte im Gefühl, wann wo welcher Auftrag durch war und lief so treppauf, treppab, um die Vorlagen auszuwechseln und die Kopien einzusammeln. Alle anderen Mitarbeiter nutzten die Kopierer höchstens, um mal ein, zwei Blätter zu vervielfältigen. So hatte ich freie Bahn.
Ein paar Wochen vor Weihnachten hatte ich einen besonders eiligen Auftrag zu erledigen. Mein Chef, ein feiner Herr mittleren Alters, den man nie für einen Ingenieur hielt, hatte mich auf äußerste Pünktlichkeit eingeschworen. Also setzte ich morgens alle drei Maschinen in Gang. Gegen zehn kam ich in den zweiten Stock. Am Kopierer eine große, dünne Frau mit Afrokrause und einer großen Brille, wie man sie damals hatte. Sie drückte ziellos Tasten, und ich sah, dass sie meine Originale einfach aus dem Vorlagengeber entfernt hatte. Moment, sagte ich, so geht’s aber nicht. Ich muss bis… Weiter kam ich nicht, denn ich bemerkte, dass sie Tränen in den Augen hatte. Ihre Unterlippe zitterte. Bitte helfen Sie mir. Es stellte sich heraus, dass ihr Chef irgendein Dokument in verkleinerter Form kopiert haben wollte, sie aber nicht die geringste Ahnung hatte, wie man das hinbekam. Für mich ein Klacks. Und als ihre Kopien fertig waren, strahlte sich mich an und sagte Dankeschön.
Natürlich ist Robby scharf auf den pornografischen Anteil an meiner Geschichte mit Marianne. Er ist ohnehin nur an diesem Einen interessiert. Aus sportlichen Gründen, wie er manchmal sagt. Dafür saufe ich nicht so viel, lautet seine andere Entschuldigung. Ich weiß auch, dass er einen kaum zu stillenden Hunger nach entsprechenden Geschichten, Bildern und Videos hat. Am liebsten aus dem Amateurbereich, noch lieber mit Akteuren, die er persönlich kennt. Aber ich werde ihm diesen Gefallen nicht tun.
Dabei hat Sex in unserem gemeinsamen Leben eine große Rolle gespielt. Eine sehr große sogar. Wir haben über die Jahre einiges ausprobiert, aber nichts, was wir selbst für pervers hielten. Nach wenigen Monaten waren wir ein gut eingespieltes Team – und wurden über die Jahre immer besser. Sie brauchte eindeutig öfter Sex als ich, aber wir fanden das Maß, mit dem wir beide gut zurechtkamen. Beim Vögeln gab es keine Hierarchie. Keiner von uns gab den Ton an. So tanzten wir auch: Ohne dass einer von uns führen musste. Es ging einfach so.
Am Freitag vor Weihnachten, so hatte es mein Chef vorgeschlagen, sollte es eine kleine Feier geben. Damals bestand das Team im Souterrain der Gründerzeitvilla am Boulevard aus fünf Personen: Herr König, unser Chef, die Herren Doleszal und Mirk aus Wien, Susanne, die Aushilfe, und ich. Feiern hieß für die altgedienten Ingenieure vor allem Saufen und Fressen. Fräulen Gerlach, so die Anweisung, besorgen sie ein paar kalte Platten bei der Metzgerei Schubert. Mirk und Doleszal waren für den Alkohol zuständig, ich für die Musik. Aber nichts mit Weihnachten! hatte Herr König angeordnet, denn er hatte es nicht so mit dem Christfest und bezeichnete sich selbst immer als Buddhist. Deshalb gab’s in unserem Büro an jenem Abend auch keinerlei Tannengrün, weder mit, noch ohne Kugeln und Lametta. Dafür aber jede Menge Kerzen für gemütliches Licht. Es gibt ein paar verwackelte Fotos vom Büro und sogar vom Abend dieser Weihnachtsfeier. Keiner der Herren ist zu erkennen, nur Susanne mit ihrer spitzen Nase grinst beim Aufdecken der Schnittchen frech in die Kamera.
Und obwohl Herr König raffinierte Drinks mixte, die Schnittchen prima schmeckten und mein Musikprogramm gut ankam, wollte keine richtige Stimmung aufkommen. Herr Mirk baggerte ununterbrochen an Susanne herum, der das wie immer auf die Nerven ging. Uns Männern ging der Gesprächsstoff aus. Da nahm mich der Chef beiseite und sagte: Schauen Sie doch mal, ob noch Damen im Haus sind. Und wenn ja, dann laden Sie die doch einfach ein.
Das war lange nach Feierabend an einem Tag, an dem ohnehin die meisten Angestellten schon gegen Mittag nach Hause gegangen waren. Ich schlenderte durch die Gänge, aber alle Büros waren dunkel. Kehrte zurück zum Eingangsbereich, und dann standen sie. Wieder zitterte ihre Unterlippe, wieder waren ihre Augen mit Tränen gefüllt. Während die eine Kollegin wütend gegen die Tür der Pförtnerloge schlug und die andere versuchte, das Schloss der Haustür mit einer Haarnadel zu öffnen. Man hatte sie und uns also eingeschlossen. Ich wusste aber, dass sich Herr König einen Generalschlüssel besorgt hatte. Aber das verriet ich nicht, sondern schlug den drei Frauen vor, mit uns zu feiern, während jemand versuchte, den Pförtner telefonisch zu erreichen.
Es ging sich ganz gut aus – so hätten meine österreichischen Kollegen die Situation vermutlich kommentiert. Nachdem die kleine Blonde Gefallen an Herrn Doleszal gefunden hatte und Herr Mirk bei der älteren Kollegin landen konnte, hatte Susanne endlich Herrn König für sich gewinnen können. Marianne und ich saßen nebeneinander auf einem Schreibtisch, tranken Whisky-Cola und baumelten mit den Beinen. Auch davon existiert ein Bild, das uns von hinten zeigt.