Marianne und ich

Es war Robby, der mich überredet hat, das hier aufzuschreiben, in unserem Stammlokal nach seiner Rückkehr von einer großen Reise einschließlich Transatlantik. Er hatte sich inzwischen auf mittelalte Passagierinnen spezialisiert, allein reisende, nicht zu attraktive. Eine davon eine Niederländerin namens Nele, die er fotografieren durfte. Am zweiten Tag der Atlantiküberquerung erotisch, am fünften dann pornografisch. Er zeigte mir die Bilder und meinte: Na, sieht doch aus wie Marianne. Da er Marianne nie persönlich kennengelernt hatte, das wurde mir klar, hatte er eine Vorstellung von ihr, die aus meinen vielen Erzählungen über sie und mein Leben mit ihr stammte. So groß war aber die Ähnlichkeit eigentlich nicht. Wenn ich mir allerdings Neles Gesicht wegdachte, was mir auf den späteren Fotos nicht schwerfiel, weil der Fokus auf anderen Regionen lag, dann sah ich Mariannes Körper wie ich mir vorstellte, dass er inzwischen aussah. [Lesezeit ca. 24 min]

Wann hast du sie zuletzt gesehen? fragte Robby. Flüchtig begegnet waren wir uns vier, fünf Jahre zuvor auf dem Weihnachtsmarkt, wo sie an einem Waffelstand arbeitete. Aber da stand sie blöd uniformiert mit einer noch blöderen Haube im Fettdunst und hätte eine beliebige Schwarzhaarige Ende Vierzig sein können. Mehr als Wie geht‘s? tauschten wir nicht aus. Das heißt aber, dass ich Marianne tatsächlich vor fast zehn Jahren zuletzt gesehen hatte. Und nicht nur gesehen: Wir hatten uns in der Weinbar am W.-Platz für viel Geld betrunken, waren dann in meinem Appartement gelandet und hatten in der Nacht ziemlich wild gevögelt. Da war sie noch ganz sie.

Klar, sagte Robby, dass ihr eigentlich dauernd gefickt habt, weiß ich ja aus deinen Berichten über die Zeit mit Marianne. Da erinnert man sich natürlich nicht an Details. Wie seid ihr überhaupt ein Paar geworden? Der Rand vom Bierdeckel bot kaum noch Platz für sechs, sieben Striche, ich war müde und hatte große Erinnerungslücken. Erzähl ich ein anderes Mal, antwortete ich. Nein, nein, mein Lieber, das machst du anders: Schreib die Geschichte von Marianne und dir doch einfach auf. Du bist doch so ein Schreiberling…

Zum Glück hatte ich ein paar Tage frei, musste weder über irgendwelche Fußballspiele, noch öde Kulturveranstaltungen oder sterbenslangweilige Gesellschaftsereignisse berichten. Außerdem war Chandra bei Freunden in München, und ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Im Keller fand ich die Kiste mit Fotos, Filmen und Videos aus jener Zeit erst nach intensiver Suche. Da ich weder einen Filmprojektor besitze, noch ein Gerät zum Abspielen der altmodischen Kassetten, nahm ich mir zuerst die Fotos vor. Am Montag wollte ich Gregor bitten, die Videos zu digitalisieren. Ich wusste, dass er die entsprechenden Geräte und Programme besaß.

Im Umzugskarton hatte ich gut zwei Dutzend Kartons und Schachteln unterschiedlicher Größe gestapelt. Manche trugen eine Jahreszahl, andere den Namen eines Urlaubsziels. Ich breitete die Behälter auf dem großen Arbeitstisch aus und suchte nach 1977. Fehlanzeige. Dafür fand ich einen kleinen Karton, auf dem ich damals mit Bleistift PARIS geschrieben hatte, das Ziel unserer ersten gemeinsamen Reise im Spätwinter 1978, als wir nicht nur vor dem Karneval geflüchtet waren, sondern sie mir die Stadt zeigen wollte, in der sie zweieinhalb Jahre als Au-pair-Mädchen verbracht hatte.

Mir fiel als erstes ein Bild in die Hände, auf dem sie in einer stillen Straße vor einem eher unscheinbaren Haus steht. Sie trägt eine viel zu dünne, hellbraune Lederjacke und eine helle, karierte Hose, die sie in ihre hohen Stiefel gesteckt hat. Dazu einen selbstgestrickten Schal in Rosé. Großgewachsen und dünn steht sie da mit einem unsicheren Lächeln. Blickt direkt in die Kamera. Kuhaugen machen, nannte sie diesen Blick. Hier, erzählte sie, habe sie allein mit der Concierge und dem fünfjährigen Sohn den Winter 1973/74 verbracht, während die Eltern – der Vater Insasse einer schwerreichen Familie – Skiurlaub machten und sich zu Weihnachten und Silvester mit Freunden in den glamourösen Wintersportorten trafen.

Im Sommer habe sich der ganze Clan dann in einer Villa bei Beziérs getroffen und habe die berühmten zwei Monate dort und am Meer, wo man ein zweites Haus besaß, verbracht. Da fahren wir dann auch noch gemeinsam hin, mein Lieber, hatte sie in Paris angekündigt. Aber dazu kam es nie.

Ich fand noch ein paar Fotos, auf denen sie irgendwo in der Stadt der Liebe vor einem Gebäude stand oder saß. Manchmal so gekleidet wie vor diesem Haus, manchmal trägt sie einen dunkelblauen Wollmantel. Dann eine Aufnahme, die ich in ihrem Lieblingsrestaurant gemacht hatte, einem auf Cous-cous spezialisierten Laden im Souterrain in einer Seitenstraße des Boulevard St. Michel. Ihr Gesicht über einem breiten Rollkragen im Halbprofil. Die große Nase und die aufgeworfenen Lippen. Natürlich ungeschminkt. Das hatte man damals so.

Es gab ein Schwarzweißfoto, auf dem sie nackt und rücklings auf dem Hotelbeet liegt, lächelnd, die Hände hinter dem Kopf. Ich weiß noch, dass wir es kurz zu vor besonders intensiv getrieben hatten. Was machst du? hatte sie gefragt als ich aufsprang und die Kamera holte. Festhalten, hatte ich geantwortet. Über die Jahre habe ich sicher mehrere Hundert Aktaufnahmen von ihr gemacht. Manchmal, weil sie es so wollte. Manchmal, weil einfach die Umstände, der Ort oder das Licht gerade richtig war. Ein paar Male haben wir uns gemeinsam und mit dem Fernauslöser so fotografiert.

Auf eine Schachtel hatte sie mit Lippenstift 1978 geschrieben und zwei Strichmännchen gemalt. Es war eines unserer glücklichsten Jahre. Sie war im November achtundzwanzig geworden, ich kurz davor fünfundzwanzig. Sie hatte sich bei einer Zeitarbeitsfirma verdingt und verdiente richtig gut, weil es außer ihr kaum eine Kollegin gab, die viersprachig Steno und Schreibmaschine beherrschte. Die einzelnen Jobs dauerten nie sehr lange, sodass sie zwischendurch viel freie Zeit hatte. Ich studierte noch vor mich hin, jobbte aber regelmäßig. Wir hatten ausreichend Geld und Zeit und bewohnten eine Zwanzigquadratmeterwohnung mit zwei winzigen Zimmern, einer Wohnküche und einem Bad mit Sitzbadewanne unter dem Dach eines hässlichen Fünfzigerjahrehauses.

Ich weiß es noch genau: Die Miete betrug ohne Nebenkosten 99 DM. Geheizt haben wir mit einem Elektroradiator, den wir jeweils in das Zimmer mitnahmen, in dem wir uns aufhielten. Ein Telefon gab es nicht, wir besaßen keinen Fernseher mehr, und das Bett war schmal. Genau genommen war es meine Wohnung. Und eine Katze hatte ich auch. Die war bei der Auflösung unserer WG auf dem Land übriggeblieben. Genau wie der Hund, den aber Bernd mitnahm. Die Wohnung hatte ich von Ellen übernommen, die zu Willi gezogen war, einem Mitglied der Wohngemeinschaft. So fügte sich alles ganz harmonisch.

Zum 1. Dezember 1977 war ich eingezogen, am 5. gab ich eine Einweihungsparty, die ziemlich aus dem Ruder lief. Jedenfalls verbrachte ich den Sonntag und den Montag mit Aufräumen und Putzen und genoss ab Dienstag die Ruhe des Alleinseins. Zum ersten Mal in meinem Leben. Hatte ich doch mit achtzehn meine liebste Schulfreundin, ein stilles Mädchen namens Renate, geheiratet, um mit ihr zusammenzuleben. Nach der schnellen Trennung dann in eine chaotische, linksradikale WG. Und weiter aufs Land in dieses unförmige Einfamilienhaus, in dem vorher ein lokaler Unternehmer mit Gattin und sieben Kindern gewohnt hatte.

Eher zufällig hatte ich mich auf Büroarbeiten qualifiziert und fand so auch immer ziemlich gute, ordentlich bezahlte Jobs. Zum Beispiel bei einer Beratungsfirma, die für einen Großkonzern die Dokumentation von Bauprojekten übernahm. Da musste für jedes Detail eine Bedienungsanleitung verfasst und vervielfältigt werden. Ich galt als Rastelli am Fotokopierer. Manchmal arbeitete ich an allen drei Maschinen im Bürohaus am Boulevard gleichzeitig, hatte im Gefühl, wann wo welcher Auftrag durch war und lief so treppauf, treppab, um die Vorlagen auszuwechseln und die Kopien einzusammeln. Alle anderen Mitarbeiter nutzten die Kopierer höchstens, um mal ein, zwei Blätter zu vervielfältigen. So hatte ich freie Bahn.

Ein paar Wochen vor Weihnachten hatte ich einen besonders eiligen Auftrag zu erledigen. Mein Chef, ein feiner Herr mittleren Alters, den man nie für einen Ingenieur hielt, hatte mich auf äußerste Pünktlichkeit eingeschworen. Also setzte ich morgens alle drei Maschinen in Gang. Gegen zehn kam ich in den zweiten Stock. Am Kopierer eine große, dünne Frau mit Afrokrause und einer großen Brille, wie man sie damals hatte. Sie drückte ziellos Tasten, und ich sah, dass sie meine Originale einfach aus dem Vorlagengeber entfernt hatte. Moment, sagte ich, so geht’s aber nicht. Ich muss bis… Weiter kam ich nicht, denn ich bemerkte, dass sie Tränen in den Augen hatte. Ihre Unterlippe zitterte. Bitte helfen Sie mir. Es stellte sich heraus, dass ihr Chef irgendein Dokument in verkleinerter Form kopiert haben wollte, sie aber nicht die geringste Ahnung hatte, wie man das hinbekam. Für mich ein Klacks. Und als ihre Kopien fertig waren, strahlte sich mich an und sagte Dankeschön.

Natürlich ist Robby scharf auf den pornografischen Anteil an meiner Geschichte mit Marianne. Er ist ohnehin nur an diesem Einen interessiert. Aus sportlichen Gründen, wie er manchmal sagt. Dafür saufe ich nicht so viel, lautet seine andere Entschuldigung. Ich weiß auch, dass er einen kaum zu stillenden Hunger nach entsprechenden Geschichten, Bildern und Videos hat. Am liebsten aus dem Amateurbereich, noch lieber mit Akteuren, die er persönlich kennt. Aber ich werde ihm diesen Gefallen nicht tun.

Dabei hat Sex in unserem gemeinsamen Leben eine große Rolle gespielt. Eine sehr große sogar. Wir haben über die Jahre einiges ausprobiert, aber nichts, was wir selbst für pervers hielten. Nach wenigen Monaten waren wir ein gut eingespieltes Team – und wurden über die Jahre immer besser. Sie brauchte eindeutig öfter Sex als ich, aber wir fanden das Maß, mit dem wir beide gut zurechtkamen. Beim Vögeln gab es keine Hierarchie. Keiner von uns gab den Ton an. So tanzten wir auch: Ohne dass einer von uns führen musste. Es ging einfach so.

Am Freitag vor Weihnachten, so hatte es mein Chef vorgeschlagen, sollte es eine kleine Feier geben. Damals bestand das Team im Souterrain der Gründerzeitvilla am Boulevard aus fünf Personen: Herr König, unser Chef, die Herren Doleszal und Mirk aus Wien, Susanne, die Aushilfe, und ich. Feiern hieß für die altgedienten Ingenieure vor allem Saufen und Fressen. Fräulen Gerlach, so die Anweisung, besorgen sie ein paar kalte Platten bei der Metzgerei Schubert. Mirk und Doleszal waren für den Alkohol zuständig, ich für die Musik. Aber nichts mit Weihnachten! hatte Herr König angeordnet, denn er hatte es nicht so mit dem Christfest und bezeichnete sich selbst immer als Buddhist. Deshalb gab’s in unserem Büro an jenem Abend auch keinerlei Tannengrün, weder mit, noch ohne Kugeln und Lametta. Dafür aber jede Menge Kerzen für gemütliches Licht. Es gibt ein paar verwackelte Fotos vom Büro und sogar vom Abend dieser Weihnachtsfeier. Keiner der Herren ist zu erkennen, nur Susanne mit ihrer spitzen Nase grinst beim Aufdecken der Schnittchen frech in die Kamera.

Und obwohl Herr König raffinierte Drinks mixte, die Schnittchen prima schmeckten und mein Musikprogramm gut ankam, wollte keine richtige Stimmung aufkommen. Herr Mirk baggerte ununterbrochen an Susanne herum, der das wie immer auf die Nerven ging. Uns Männern ging der Gesprächsstoff aus. Da nahm mich der Chef beiseite und sagte: Schauen Sie doch mal, ob noch Damen im Haus sind. Und wenn ja, dann laden Sie die doch einfach ein.

Das war lange nach Feierabend an einem Tag, an dem ohnehin die meisten Angestellten schon gegen Mittag nach Hause gegangen waren. Ich schlenderte durch die Gänge, aber alle Büros waren dunkel. Kehrte zurück zum Eingangsbereich, und dann standen sie. Wieder zitterte ihre Unterlippe, wieder waren ihre Augen mit Tränen gefüllt. Während die eine Kollegin wütend gegen die Tür der Pförtnerloge schlug und die andere versuchte, das Schloss der Haustür mit einer Haarnadel zu öffnen. Man hatte sie und uns also eingeschlossen. Ich wusste aber, dass sich Herr König einen Generalschlüssel besorgt hatte. Aber das verriet ich nicht, sondern schlug den drei Frauen vor, mit uns zu feiern, während jemand versuchte, den Pförtner telefonisch zu erreichen.

Es ging sich ganz gut aus – so hätten meine österreichischen Kollegen die Situation vermutlich kommentiert. Nachdem die kleine Blonde Gefallen an Herrn Doleszal gefunden hatte und Herr Mirk bei der älteren Kollegin landen konnte, hatte Susanne endlich Herrn König für sich gewinnen können. Marianne und ich saßen nebeneinander auf einem Schreibtisch, tranken Whisky-Cola und baumelten mit den Beinen. Auch davon existiert ein Bild, das uns von hinten zeigt.

Später habe ich oft darüber nachgedacht, ob ich überhaupt je in sie verliebt war. Oder ob es überhaupt nur deshalb zu einer Beziehung mit Marianne kam, weil wir sofort Sex miteinander hatten. Nach der Trennung von Renate hatte ich nur einmal mit einer Frau geschlafen. Und die war dabei zu besoffen, um irgendetwas zu merken. Ich war sexuell ausgehungert, aber Frauen gegenüber zu schüchtern. Ich fand die lange Dünne neben mir nett. Vor allem hatte sie denselben Humor wie ich, war offensichtlich völlig unverklemmt und für meine Begriffe ziemlich erwachsen. Eine Frau eben, kein Mädchen wie die meisten anderen Sekretärinnen und weiblichen Aushilfen im Haus.

Als Herr König verraten hatte, dass er einen Schlüssel besaß, und zudem die Feier für beendet erklärte, löste sich die Gesellschaft schnell und paarweise auf. Es war mittlerweile Heiligabend, eine extrem kalte Nacht. Der Graben der Allee war zugefroren, an den Ästen der Bäume hingen Eiszapfen. Marianne und ich gingen einfach los, sie hatte sich bei mir eingehakt. Ich hatte eine halbe Flasche Jack Daniels in der Manteltasche, sie eine große Flasche Cola. Und dann fiel der schlimmste Satz, der in solchen Situationen fallen kann: Gehen wir zu dir oder zu mir? fragte sie. Aber plötzlich hört sich das einfach nur sachlich und vernünftig an. Wo wohnst du denn? gab ich zurück. Sie nannte eine Straße in einem anderen Stadtteil, und ich sagte bloß: Dann ist es zu mir weniger weit.

Um auf das Thema, das Robby am meisten interessiert, zurückzukommen: Ihr war kaum eine Praktik fremd und es gab nur wenige Dinge, die sie beim Sex nicht mochte. In all den Jahren hat sie mir nie erlaubt, in ihrem Mund zu kommen. Es war mir nie wichtig genug, darauf zu bestehen. Wir hatten ein Standardprogramm, das uns beiden guttat, und das ungefähr Dreiviertel der Geschlechtsakte ausmachte. Sie mochte es, auf der Bettkante zu knien, sodass ich es ihr von hinten besorgen konnte. Wenn sie auf mir ritt, dann tat sie es langsam und so, dass ich möglichst tief eindringen konnte.

In meiner kleinen Wohnung unter dem Dach ging sie erst einmal auf und ab und inspizierte die Räume mit allen Ecken und Winkeln. Und wo schläfst du? fragte sie. Ich deutete auf das Klappsofa. Dann mach mal das Bett, während ich mich im Bad zurechtmache. Ich tat, was sie mir befohlen hatte, setzte mich auf den Stuhl am Tisch und wartete auf sie. Sie kam nackt ins Zimmer. Das Bild hat sich mir tief eingebrannt. Die langen sehnigen Beine mit dem tiefschwarzen dicken Haarbusch oben. Ein konkaver Bauch und darüber zwei flache Brüste mit kaum sichtbaren Warzen. Ausgeprägte Schlüsselbeine und ein recht langer Hals. Von der Seite sah man sanfte Vertiefungen zwischen den Muskelsträngen ihrer Oberschenkel. Ihr Hintern war straff und so klein, dass er kaum mehr als eine Hand füllte.

Was ist? sagte sie und schlüpfte unter die Bettdecke. Ich zog mich aus und kam zu ihr. Hier, sagte sie und drückte mir etwas in die Hand, kannst du mir mal bitte das Schaumzäpfchen einführen? Verhütung, verstehst du? Ich verstand nicht, und ich konnte es auch nicht. Ganz nüchtern erläuterte sie, dass das Ding etwa so lange brauchte, sich aufzulösen, wie ein übliches Vorspiel dauerte. Ich hatte noch nie von so etwas gehört. Renate hatte von Anfang an die Pille genommen; Verhütung war deshalb bei uns kein Thema. Routiniert griff sie dann nach meinem Schwanz, machte ein bisschen daran rum, um sich anschließend auf mich zu setzen und loszulegen. Der Schaum brannte wie Feuer an meiner Eichel.

Später tranken wir wieder Whisky-Cola, und irgendwann schliefen wir einfach ein. Als ich wach wurde, war es wieder hell. Ein strahlend sonniger Tag, dieser Samstag vor Weihnachten. Ich lag allein im Bett, hörte aber die Klospülung. Dann kam sie ins Zimmer, ausgehfertig, beugte sich zu mir, gab mir einen langen Kuss und sagte: Bin spät dran. Mein Zug geht in einer Stunde Minuten. Fahre über Weihnachten zu meiner Mutter. Muss vorher noch nach Hause und packen. Mach’s gut. Und tschüss. Weg war sie. In diesem Moment war ich vollkommen sicher, sie nie wieder zu sehen. Oder höchstens einmal zufällig am Kopierer in der zweiten Etage. Aber das war mir erst einmal egal. Ich drehte mich um und schlief wieder ein.

War es das, was ich aufschreiben sollte? Wie wir uns kennengelernt hatten? Vermutlich nicht. Denn Robby hatte ja auch die vielen anderen Geschichten über Marianne und mich gehört. Zum Beispiel über unseren Sommer in Spanien. Nachdem wir am Rosenmontag aus Paris zurückgekehrt waren, beschlossen wir einen gemeinsamen Urlaub. Den ganzen Sommer lang, sagte sie. Ich stimmte zu. Mitte Juni wollten wir los und erst im August wiederkommen. Wir nahmen uns also vor, bis dahin so viel Geld wie möglich zu verdienen, damit wir uns acht Wochen Ferien würden leisten können.
Für Sie war das nicht schwer. Sie musste nur durchgehend die gutbezahlten Angebote der Zeitarbeitsfirma annehmen. Ich konnte noch bis zum März Überstunden am Kopierer schieben. Danach schuftete ich sechs Wochen im Akkord in der Glashütte. Wir waren ein Trupp Studenten, dessen Aufgabe es war, in regelmäßigen Abständen in eine Fabrikationshalle zu gehen und die glühend heißen Maschinen zu ölen. Wir wurden pro Dreistundenschicht bezahlt, und ich schob sechs Tage die Woche jeweils vier solcher Schichten.

Je nach Einteilung kam ich mitten in der Nacht nach Hause oder am späten Vormittag. Wir sahen uns nur noch sonntags, und unser Sexleben trocknete aus. Aber ich verdiente jeden Tag 120 Mark! Und hatte Glück danach bei einer Orga-Firma zu landen, wo es darum ging, alte Akten aus einem muffigen Keller zu holen. Eine Brigade heftete die Dokumente in Mappen ab, die wir dann in moderne Regale brachten. Wir wurden pro Hundert Akten bezahlt. Irgendjemand hatte sich schwer verkalkuliert, denn wir schafften zu dritt problemlos fünfzig Stück in drei Stunden und kamen so auf Stundenlöhne von Facharbeitern.

Anstrengend war die Arbeit schon, aber wir hatten genug Zeit, ausgiebige Pausen einzulegen. Und um sechs war Feierabend. Marianne und mir ging es wieder gut. Wir fanden ein Stundencafé in der Nähe, das wir zu unserer Stammkneipe machten und in dem wir jeden zweiten Abend aßen. Und trotzdem hatten wir Anfang Juni fast 4000 Mark gespart. Das sollte für den angestrebten Urlaub reichen. Wir waren jung und vor allem naiv. Also kauften wir einen dunkelgrünen Ford 17m für 1000 Mark, weil der eine durchgehende vordere Sitzbank hatte, 95 PS und noch fast sieben Monate TÜV. Notfalls, so überlegten wir, könnten wir auf den Liegesitzen schlafen, wenn wir keine Pension und kein Hotel fanden. Wir schafften Schlafsäcke an und gingen gemeinsam Sommerkleidung kaufen. Unter anderem Sportschuhe im Partnerlook.

An einem verregneten Junimorgen gegen acht Uhr fuhren wir los. Marianne hatte eine Flasche Sekt mitgenommen, und wir tranken abwechselnd. Im Saarland blieben wir liegen. Der Dauerregen hatte die Elektrik lahmgelegt, und der Mechaniker in der Werkstatt in Saarlouis meinte, es sei eine größere Reparatur fällig. Das ginge nicht, wandte ich ein, wir müssten rasch weiter. Er dachte eine Weile nach, griff dann zum Telefon und redete eine Weile in seinem merkwürdigen Dialekt. Also, sagte er, ich kann euch einen Diplomat V8 besorgen, könnt ihr gleich haben. Dafür nehm ich den Ford, und ihr legt 1200 Mark drauf.

Das war die erste Konfrontation mit ihrem Leichtsinn. Klar, sagte sie, und schlug ein. Ich protestierte, weil ich an unsere Reisekasse dachte. Stell dich nicht so an, so kommen wir weiter, und sparen können wir an anderen Sachen. Der große Opel war ein wunderbares Auto: goldfarben mit dunkelbraunem Vinyldach. Am nächsten Tag meldeten wir den Wagen um und fuhren weiter. Leider hatten wir nicht nur mehr als 1000 Mark weniger für unsere Riese; der riesige Motor verbrauchte auch noch deutlich über zwanzig Liter auf einhundert Kilometer. Dazu einen halben Liter Öl.

Im Elsass stiegen wir in einem Gasthof ab und aßen im zugehörigen Sternerestaurant. Bei Beaune war es eine umgebaute Mühle, in der wir ein herrliches, rundes Zimmer mit einem luxuriösen Bad hatten. Bei Montpellier fanden wir ein Schlösschen, in dem man kleine Wohnungen mieten konnten, und blieben drei Nächte. Als wir bei Saint Jean die Grenze überquerten, hatte ich noch knapp achthundert Mark im Brustbeutel. Dann eben anders, meinte sie. Wir übernachteten nur noch im Auto und kauften die billigsten Lebensmittel und den billigsten Wein.

Es gibt einen Karton mit ungefähr zweihundert Polaroids, die sie alle auf dieser Reise geknipst hat. Denn eine Sofortbildkamera hatte sie vor der Abfahrt angeschafft und eine ganze Menge Filme. Man kann nicht sagen, dass das Fotografieren einer ihrer Stärken war. Die meisten Aufnahmen sind belanglos, aber ein gutes Dutzend gibt zumindest mich so wieder, dass ich mich an meine Gefühlswelt in jenen Wochen erinnern kann, eine Mischung aus völliger Losgelöstheit und einer unbestimmten Furcht. War ja ohnehin eher der Sorgenmensch, auf jeden Fall im Vergleich zu ihr, die vor nichts Angst hatte und der Zukunft mit fatalistischem Optimismus entgegensah.

Obwohl sie einen Führerschein hatte, überließ sie das Fahren meistens mir; einige Polaroids zeigen mich im Profil am Lenkrad. Und während ich den schweren Wagen über die dreispurigen Fernstraßen lenkte, erzählte sie mir aus ihrem Leben. Bisher kannte ich nur ihre Erlebnisse in den Jahren als Au-pair und ein bisschen etwas über ihre Familie. Eine ihrer Geschichten kreiste um den Typ, den sie die Liebe ihres Lebens nannte, einen gewissen Christoph, den sie während der Schulzeit kennengelernt hatte. Während er das Jungengymnasium besuchte, war sie an einer katholischen Mädchenschule in der nächstgelegenen Stadt. Jeden Morgen musste sie mit dem Bus ins benachbarte Kaff, dann mit dem Bummelzug in die Stadt und dort wieder mit dem Bus bis zur Schule. Jeden Morgen eine Stunde vierzig Minuten unterwegs. Jeden Morgen pünktlich um zehn nach sechs an der Haltstelle sein. Jeden Morgen um kurz nach fünf aufstehen. Im Sommer wie im Winter.

Christoph bewohnte dagegen ein komfortables Appartement gleich neben dem Gymnasium, also um die Ecke der Nonnenschule. Seine Eltern waren wohlhabend, hatten ihn aber verdonnert, nun endlich sein Abitur zu machen. Sie stellten ihm die Wohnung und ein mehr als angemessenes Taschengeld, drohten aber damit, ihn zu enterben, sollte er die Reifeprüfung nicht schaffen. Sie trafen sich in der Teestube der katholischen Jungen Gemeinde, und sie verliebte sich auf der Stelle. Nach zwei Wochen zog sie zu ihm und sparte sich die fürchterliche Pendelei am Morgen. Sie lebten zusammen wie Mann und Frau. Bis er ihr nach etwa einem Jahr eröffnete, seine Pläne hätten sich geändert. Er wolle nun zur See fahren, habe schon einen Platz in der Marineschule, und in drei Tagen würde er abreisen. Sie könne aber gern wohnen bleiben.

Sie weinte während sie das erzählte. Ich konnte nichts dazu sagen, hatte keine Ahnung, ob und wie ich sie trösten könnte. Jedenfalls schockierte sie dieser Vorfall, sie war damals siebzehn Jahre alt, so sehr, dass sie beschloss, nie wieder irgendwo Wurzeln zu schlagen. Sie brach die Schule ab und trampte in den Süden. Kam bis nach Ibiza, wo sie ein knappes Jahr mit den Hippies in den Höhlen lebte. Ein Foto von Christoph in der Uniform eines Offiziers der Handelsmarine trug sie immer bei sich – ein attraktiver Mann mit einem gewinnenden Lächeln, das auf mich aber immer falsch wirkte.

Wie gesagt: Ich hatte nicht damit gerechnet, Marianne nach dieser einen Nacht kurz vor Weihnachten 1977 wiederzusehen. Am Sonntag ging es mir noch gut, aber schon am Montag vermisste ich sie. Ich kannte nicht einmal ihren Nachnamen, wusste nicht, wohin sie gefahren war. Am Dienstag ging es mir schlecht. Und am Heiligen Abend legte ich nacheinander alle sentimentalen und melancholischen Platten auf und betrank mich fürchterlich. Den ersten Feiertag verlebte ich im Dämmerzustand. Am zweiten Feiertag kompensierte ich mein Leid und brachte die Bude auf Vordermann. Am Freitag ging ich einkaufen.

Um von der Straße zur Wohnungstür zu kommen, waren exakt achtundachtzig Stufen zu überwinden. Ich trug drei Plastiktüten, eine davon gefüllt mit Bierflaschen und einer Pulle vom billigen Wodka. Ich erreichte das vorletzte Podest und ließ ausgerechnet die Tüte mit dem Alkohol fallen. Sie saß auf der obersten Stufe und grinste mich an: Was machst du denn für eine Schweinerei? Vor der Tür standen ein altmodischer Koffer und eine Reisetasche. Da bin ich, sagte sie, ich ziehe jetzt zu dir. Freust du dich?

Wir landeten zuerst auf dem kratzenden Sisalteppich und vögelten, während die Wohnungstür noch offenstand. Dann im Bad im Stehen. Schließlich auf dem Bettsofa. Ohne mir etwas anzuziehen schlich ich ins Treppenhaus und rettete so viel Bier wie möglich. Auch die Schnapsflasche hatte den Sturz aufs Steinholz überlebt. Später holte sie den Rest rein, und ich kochte uns aus allem, was da war, ein mehrgängiges Menü. Zum Schluss aßen wir Götterspeise, für die ich Wodka anstelle von Wasser verwendet hatte. Und, fragte sie noch einmal, freust du dich?

Ja, ich freute mich wahnsinnig, sie wiederzusehen. Ich genoss es, mit ihr Sex zu haben. Und hatte dabei ihre Aussage verdrängt, sie würde nun bei mir einziehen. Hör zu, sagte sie, ich habe in den letzten fünf Tagen meinen Lebensplan geändert. Du wusstest ja gar nicht, dass ich meinen Job zum Ende des Jahres gekündigt habe und meine Wohnung auch. Ich hatte auch gar nicht vor, zurück zu kommen. Wollte bei meiner Mutter bleiben, der es wieder nicht so gut geht. Am Sonntag war noch alles okay. Meine Schwestern kamen mit ihren Männern. Wir hatten einen lustigen Abend. Am Montag begann ich, dich zu vermissen. Am Dienstag ging es mir schlecht. Und am Heiligen Abend betrank ich mich nach dem Gänseessen fürchterlich mit Korn und Bier. Den ersten Feiertag verbrachte ich im Bett mit einem gewaltigen Kater. Und am zweiten Feiertag wurde mir klar, dass ich zu dir wollte. Hier bin ich.

Eigentlich hätten wir beide zwischen den Jahren arbeiten müssen. Aber schon am Montag rief ich ihre Abteilung an und meldete sie krank. Umgekehrt sagte sie Herrn König Bescheid, dass ich krankheitsbedingt nicht kommen könnte. Wir blieben fünf Tage im Bett und erlebten den Jahreswechsel mitten in einem wunderbaren Fick. Zweimal rannte ich rüber zum Supermarkt, mitten im Winter barfuß in Turnhose und mit einem dünnen T-Shirt, ich kaufte dicke Steaks, ein bisschen Salat und vor allem Bier und Schnaps.

Am 2. Januar brachen wir in ihre ehemalige Wohnung ein, um ihre restlichen Sachen zu retten, die wir im Taxi zu mir transportierten. Wir hatten nicht gebadet oder geduscht und uns nur notdürftig gewaschen. Wir waren verklebt von Schweiß und anderen Säften und stanken meilenweit gegen den Wind nach Sex. Das, glaube ich, war die Geschichte, die sich Robby von mir gewünscht hatte. Natürlich mit mehr Einzelheiten. Aber die müsste ich mir ausdenken, denn die insgesamt sieben Tage nach ihrer Rückkehr sind in meiner Erinnerung ein einziger Film bestehend aus kurzen Blitzaufnahmen ihres Körpers und seiner Details. Alles aufgenommen mit der subjektiven Kamera.

Tatsächlich fand ich gar nicht viele Fotos aus jener Zeit in der Dachwohnung. Ich hatte ja seit Jahren die Manie, Filme grundsätzlich selbst zu entwickeln und auch Abzüge selbst anzufertigen – alles in Schwarzweiß, natürlich. Im Kühlschrank lagerten immer einige Ilford FP4 und HP5. Und mehrere Dutzend belichteter Filme in ihren Döschen. Nur zum Entwickeln kam ich seit dem Umzug nicht mehr. Also existieren nur exakt zweiundsiebzig gerahmte Dias, die ich bei einer Session mit ihr aufgenommen hatte. Über all die folgenden Jahre hinweg würden wir solche Fotoaktionen abhalten. Marianne liebte es sich zu verkleiden, sich verrückt zu schminken und Perücken zu tragen. Meist mit dem Ziel, sich im Laufe der Sitzung zu entkleiden und abzuschminken. Die Dias zeigen sie als billige Nutte mit rötlicher Frisur im engen Korsett, die auf den ersten Bildern am Tisch sitzt, Bier trinkt und Gewürzgurken isst. Später sitzt sie auf der Toilette, und zwischendurch reckt sie den nackten Hintern in die Optik.

In Paris fragte ich sie am ersten Tag, ob sie schon mit vielen Kerlen Sex gehabt habe. Willst du das wissen? fragte sie. Ja, sagte ich. Und sie begann mir von jedem ihrer zwanzig, dreißig Liebhaber eine erotische Geschichte zu erzählen. Vermutlich habe ich aus ihren Berichten mehr über Sex gelernt als aus allen Aufklärungsfilmen und aus Büchern zuvor. Sie hatte sich in ihrer Zeit in Paris und Beziér systematisch durch die Nationalitäten geschlafen und wusste über jede Besonderheit der männlichen Anatomie und der erotischen Verhaltensweisen einer ethnischen Gruppe detailliert zu berichten – vor allem über Vietnamesen, Chilenen und Russen, die hatten es ihr besonders angetan.

Das alles hörte ich nicht nur von ihr, ich lernte von Marianne alles über Sex. Und das war erleuchtend, denn Renate und ich waren nie weiter gekommen als bis zum klassischen Geschlechtsverkehr mit minimalem Vorspiel. Schließlich hatten wir beide vor dem ersten Fick nie Sex mit irgendjemand anderem gehabt. Bis dahin hatte es auch ziemlich lange gedauert. Immerhin hatten wir ohne Anregung von außen das entdeckt, was man damals Petting nannte, und waren gut darin, uns gegenseitig manuell zu befriedigen. Das taten wir oft und gern im dunklen Treppenhaus. Manchmal kam sie sonntags morgens zu mir, wenn ihre Eltern glaubten, sie ginge zur Kirche. Ich hatte ein Zimmer unterm Dach mit separatem Eingang. Sie kam aus der Kälte und kroch unter meine Decke ohne sich zu entkleiden. Die Haut an ihren Oberschenkeln zwischen den Strümpfen und der Unterhose gab mir einen Eindruck von der Außentemperatur.

Die Tage in Paris waren weniger touristischer Natur, sondern ein intensives, ehrliches und insgesamt fröhliches Kennenlernen. Das Wetter war kalt und feucht. Na irgendwelchen berühmten Orten vorbei zu schlendern, machte keinen Spaß. An Kunstmuseen war sie nicht interessiert. Also saßen wir meist in einem Café oder Bistro herum, tranken etwas und redeten. Unser Hotel lag in der Nähe der Madeleine. Das Zimmer war winzig, die Dusche stand in einer Ecke, das Fenster ging hinaus auf einen schmalen Innenhof. Wir frühstückten im Bett, nachdem einer von uns Croissants geholt hatte. Zur Ausstattung gehörte ein Tauchsieder und zwei Boulés in denen wir Nescafé mit Milch kochten.

Nach der Rückkehr entstand etwas Ähnliches wie Alltag. Sie fand eine Stelle bei einem Import-Export-Betrüger, der sein Wohnzimmer zum Büro gemacht hatte und oft unterwegs war. Er hatte sie wegen ihrer Spanischkenntnisse ausgewählt und war meistens unterwegs. Ich hatte Ende Februar Herrn König besucht, der sich sehr freute und mich vom Fleck weg engagierte. Susanne und Herr Doleszal waren nun ein Paar und Herrn Mirk hatte man zu einer Baustelle in Nigeria abgestellt. Ein brandneuer Rank-Xerox-Kopierer stand im Büro, und ich konnte nun ungestört Unterlagen vervielfältigen. Um fünf hatten Marianne und ich Feierabend trafen uns meistens im Stammcafé, wo wir zu Abend aßen, wenn wir hungrig waren, oder einfach nur den Tag ausklingen ließen.

Wir stritten uns nie. Über alles, was unser unerwartetes gemeinsames Leben anging, waren wir uns vollkommen und bis ins Detail einig. Der Haushalt machte wenig Mühe. Wir hatten keine Verpflichtungen und auch keine bedeutenden sozialen Kontakte. Zweimal fuhr Marianne aufs Land zu ihrer Mutter. Sie fragte mich nicht, ob ich sie begleiten wollte. Und auch das war gut so. Ab April begannen wir, jede Woche zweimal ins Kino zu gehen. Entdeckten unseren gemeinsamen cineastischen Geschmack fernab von Hollywood und dem üblichen Mainstream. Manchmal sahen wir einen ganzen Abend lang fern, aber meistens blieb der Fernseher tagelang aus. Im Mai reifte der Plan für den freien Sommer. Und ich suchte mit lukrativere Jobs, was Herr König sehr bedauerte. Ich würde sie auch fest einstellen, meinte er zum Abschied; sie könnten bei uns Karriere machen. Ich fragte: Als was? Darauf hatte er keine Antwort.

Marianne hatte sich kurz vor unserer Reise die Haare raspelkurz schneiden lassen. Ich hatte weiße Malerlatzhosen und blaue Overalls angeschafft. Wir waren ein auffälliges Paar, über das nicht nur im Stammcafé allerlei Gerüchte kursierten. Das befriedigte unsere Eitelkeit.

Vielleicht ist Robby auch so fasziniert von meiner Geschichte mit Marianne, weil sie so lange ging und so stabil war. Möglicherweise will er ein Geheimnis lüften, lernen wie das geht. Wie Beziehung funktionieren kann. Denn er hat in den vierzig Jahren, die ich ihn jetzt kenne, nie auch nur annähernd eine ähnliche Erfahrung mit einer Frau gemacht. Ich bin auch nicht sicher, ob er es je versucht hat. Mag an seiner Familiengeschichte liegen. Dass er mit vierzehn erfuhr, dass der Mann, den er Onkel nannte, in Wahrheit sein leiblicher Vater war. Oder vermutlich der Erzeuger war, weil seine Mutter in den Wochen rund um seine mutmaßliche Zeugung mit mindestens fünf verschiedenen Männern geschlafen hatte.

So wuchs er mit seinem sechs Jahre jüngeren Bruder, der von einem weiteren Mann gezeugt worden war, ohne Familie bei der Mutter auf, die jung genug war, ein aufregendes Leben führen zu wollen, das sich vor allem darin zeigte, dass sie ständig Affären hatte. Zudem arbeitete sie als Garderobiere an der Oper, hatte also meist nachts Dienst, sodass die Söhne sich weitestgehend selbst überlassen waren. Mit dreizehn, vierzehn war ich unheilbar verliebt in Inge, so ihr Name. Für mich war sie die schönste aller Frauen und Inhalt vieler Träume. Ich ahnte, dass sie mich mehr mochte als ihre eigenen Kinder und dass es nicht nur Sympathie war, die sie dazu brachte, mich ernstzunehmen wie einen Erwachsenen. Sie war damals gerade über Dreißig; für uns natürlich eine ältere Frau, aber für mich vom Alter her nicht so weit weg, dass sie nach einem besonderen Ereignis nicht für lange Zeit im Zentrum meiner Fantasien stand.

Es wird in dem Sommer gewesen sein, bevor ich fünfzehn wurde. Mein Vater war gestorben, meine Mutter mit der Situation nach seinem Tod völlig überfordert. Da bot Inge ihr an, mich mit in die Ferien zu nehmen. Sie würde drei Wochen lang mit ihren Söhnen auf Borkum Urlaub machen, in der Pension einer ehemaligen Kollegin, sodass für mich praktisch nur Fahrtkosten und ein wenig Taschengeld anfielen. Wir fuhren mit einem Ferienzug nach Emden und setzten auf die Insel über. In der Pension belegten wir zwei Zimmer: eines davon teilte ich mir mit Robby, im anderen schliefen Inge und ihr jüngerer Sohn. Außerdem gab es auf derselben Etage noch ein weiteres Elternschlafzimmer und einen größeren Raum, in dem Rita, die in unserem Alter war, mit ihren fünf kleineren Geschwistern nächtigte.

Ich bin nicht sicher, ob ich Robby diese Geschichte erzählen sollte. Bisher habe ich es jedenfalls nicht getan, und Marianne ist tatsächlich der einzige Mensch, der von dieser Begebenheit weiß. Rita war ein freches Mädchen aus Gelsenkirchen, die schon ab der zweiten Nacht heimlich zu uns schlich. Wir rauchten zu dritt am offenen Fenster und tranken Martini, den wir in die Pension geschmuggelt hatte. Manchmal ließ sie zu, dass einer von uns mit ihr ins Bett ging, zum Knutschen, wie sie es nannte. Dann löschten wir das Licht, und derjenigen von uns, der gerade nicht dran war, verzog sich in eine andere Zimmerecke. Sie ließ sich gern anfassen und sie fasste gern unsere Schwänze ab. Mehr nicht. Nach einer solchen Sitzung rannte der jeweilige Patient rasch auf die Gemeinschaftstoilette, um den Druck loszuwerden und zu onanieren.

So wie in dieser windstillen, wolkigen Nacht bei Neumond. Im Flur zwischen den Zimmern war es stockdunkel, also tastete ich mich vorwärts. Fand die Toilettentür und schlüpfte hinein, ohne den Lichtschalter zu betätigen. Halt, sagte eine Stimme, nicht erschrecken, ich sitz gerade auf dem Klo. Natürlich erkannte ich diese Stimme, einen sanften Alt, den ich später bei Marianne wieder hören würde. Natürlich erschrak ich und wollte flüchten. Warte, sagte sie, bin fertig. Ich hörte sie am Toilettenpapier hantieren und dann abziehen. Sie stand auf, wir stießen leicht zusammen, und natürlich bemerkte sie meine Erektion. Psst, machte sie. Griff nach meinem Schwanz und bewegte ihre Hand mit festem Griff drei-, viermal, sodass es mir kam. Erst jetzt spürte ich, dass sie nackt war. Sie nahm meine Rechte und legte sie auf ihre linke Brust. Dann ergriff sie meine Linke und führte sie an ihr Schamdreieck. Sofort wurde mein Penis wieder hart. Siehste, sagt sie, so geht das; kann das kleine Pipimädchen natürlich nicht wissen.

Nach dieser Nacht hatte ich nur noch den dringenden Wunsch, sie nackt zu sehen, mit ihr im Bett zu liegen, mit ihr das zu machen, was ich für Ficken hielt. Gesprochen haben wir über die nächtliche Begegnung nie. Robby wird davon nichts wissen, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Mutter ihm je davon erzählt hat.

Mit einigem Glück war ich an einen Transit geraten, den der Vorbesitzer mehr oder weniger geschickt ausgebaut hatte, um darin übernachten zu können. Mehr als eine Liegefläche, die mit einer fleckigen Matratze belegt war, und diversen Einbauschränken gab es nicht, aber das würde uns reichen. Wir hatten beschlossen, über Jugoslawien, Griechenland und die Türkei bis nach Israel zu kommen. Aus irgendeinem Grund, der mir nicht in Erinnerung geblieben ist, war dies das Land unserer Träume geworden. Mag sein, dass uns ein Kollege von Marianne, der ständig vom Kibbuz schwärmte, uns angesteckt hatte. Wir kannten nicht einen Israeli und wussten nicht von der Geschichte des Judenstaates.

In der Woche vor dem Start hatten wir den Transporter renoviert und vor allem eine neue Matratze besorgt. Außerdem kümmerten wir uns um die Ausrüstung, um nicht wieder ein solches Desaster wie ein Jahr zuvor in Nordspanien zu erleben. Leider hatte uns die Guardia erwischt, als wir mit nur einem intakten Scheinwerfer am Rand von Bilbao über eine breite Straße gondelten, und weil wir kein Geld mehr hatten, mussten wir drei Nächte getrennt im Knast verbringen. Man beschlagnahmte das Auto und schob uns über die Grenze ab. Die Fahrkarten für den Zug nachhause mussten wir allerdings nicht selbst bezahlen. Im Vergleich dazu waren die Bedingungen für die nächsten drei, vier Monate absolut professionell.

Keine Ahnung, ob es heute noch so ist, aber Marianne und ich wurden nicht nur dadurch immer mehr zu einem Paar, dass wir uns besser kennenlernten und einen gemeinsamen Haushalt führten, sondern dadurch, dass wir so etwas wie eine gemeinsame Kultur entwickelten. Also gemeinsame Abneigungen und Vorlieben entdeckten oder auch entwickelten, wenn der jeweils andere zu einem Thema keine Meinung hatte. Das wird Robby nicht verstehen, wie wichtig es ist, in einer Beziehung über einen gemeinsamen Vorrat an solchen Positionen zu haben. Nein, die Insassen der Beziehung müssen nicht zu allem dieselbe Meinung haben oder sich ständig einig sein. Aber es muss eine Art Wertesystem, einen Kodex geben, den beide ernstnehmen, einen gemeinsamen Glauben an etwas.

Wir hatten uns aufeinander zu bewegt. Ich aus meiner tendenziell spießigen Ecke in Richtung ihrer Hippie-Freiheit. Und sie von der völligen Beliebig- und Zwanglosigkeit zu klaren Haltungen. Man kann es am besten an den jeweiligen Vorlieben in Sachen Musik ablesen. Marianne hatte vorher nicht den geringsten Bezug zum Jazz. Ich dagegen war mit jeder Form Jazz großgeworden. Andererseits war mir die klassische Musik völlig fremd, während sie ja durch ihren Onkel, einen Kirchenorganisten von klein auf an Bach, Händel und die anderen Klassiker gewöhnt war. Das alles ergänzte sich so weit, dass wir einen gemeinsamen Geschmack aufbauten, der um die Begriffe „authentisch“ und „kräftig“ kreiste.

Dort hinein passten dann auch gemeinsame Entdeckungen: Tom Waits, Ian Dury, Police und was sonst noch so an Musik herauskam, die man nicht dem Mainstream zuordnen konnte. Die weit entfernen Pole in allen kulturellen Dingen sorgten aber auch für eine ungeheure Breite an Ergebnissen schöpferischen Tuns, für die wir uns begeistern konnte. Über viele Jahre gehörten Sätze wie „Hast du das schon gehört, gesehen, gelesen…“ zu unserem Repertoire. Und dann machte sie mich oder ich sie auf einen Maler, eine Autorin, einen Schauspieler oder eine Sängerin aufmerksam.
In einem alten Pappkoffer begleiteten uns deshalb beinahe dreihundert Musikkassetten. Wir hörten Soul in Italien, Singer-Songwriter in Österreich, Kraftwerk in Jugoslawien, Bach quer durch die Türkei, Reggae im Libanon und den Blues überall. Außerdem gab es nur wenige Meilen auf der Reise, die wir nicht mehr oder weniger bekifft hinter uns brachten. Jede Nacht vögelten wir zweimal bevor wir einschliefen.

Ich ahne, was er vorhat. Ständig will Robby wissen, ob und wie wir es oral oder anal getrieben haben, welche Spielchen wir gespielt haben, welches die extremste, wie er es nennt, Perversion war, die wir je angerichtet haben. Aber ich werden den Teufel tun, diesem Soziopathen mein Leben als Wichsvorlage zu präsentieren. Zumal ich mich gerade an unser Geschlechtsleben nur sehr verschwommen erinnere. Es war nicht der Kern unsere Beziehung, unserer Liebe. Es gehörte dazu und erfüllte verschiedene Aufgaben: wärmen, verbinden, entspannen, trösten, anregen, genießen. Und manchmal war es nur Routine täglich mindestens einmal Sex miteinander zu haben – auch und gerade auf unserer Reise. Sicher, wir liebten uns so oft es ging unter freiem Himmel, gern am Meer oder an Flüssen, Bächen und Seen. Nie gingen wir dabei bewusst das Risiko ein, erwischt zu werden. Auch weil wir wussten, dass uns in den meisten Ländern, die wir durchquerten, Knast eintragen würde.

Es ging um etwas anderes. Etwas, das Robby nie verstehen würde. Nämlich ein gemeinsames Ziel zu haben und es zu erreichen. Dass es sich in unserem Fall um einen Ort handelte, entsprach dem Zeitgeist. Tausende Menschen in unserem Alter reisten in den Siebzigerjahren durch die Welt auf der Suche nach einem Platz, der ihnen das Paradies sein sollte. Und weil es davon nur eine begrenzte Anzahl gibt, wurden solche Ziele als Geheimtipps gehandelt und verloren ihre Unschuld. Bis zur Grenze zwischen der Türkei und Syrien, ein paar Kilometer südlich von Antakya, begegneten wir ständig irgendwelchen VW-Bussen oder anderen Autos, die man zum Schlafen umgebaut hatte. Wir lernten unterwegs vor allem Pärchen kennen, aus Skandinavien vor allem, Großbritannien und den Niederlanden. Der Austausch mit ihnen war nicht sehr interessant. Jeder erzählte von seiner Reise, und die Geschichten ähnelten sich sehr.

Quer durch den Libanon trafen wir dann auf keinen einzigen Wagen mit europäischem Kennzeichen. Wo wir aber Station machten, um Proviant einzukaufen oder zu tanken, wurden wir mit großer Herzlichkeit und Gastfreundschaft behandelt. Wir gewöhnten uns allerdings schnell ab, den freundlichen Menschen unser Ziel zu verraten. In beiden Fällen, in denen wir das taten, verflog die gute Laune der Leute und schlug in Hass und Bedrohung um. Natürlich hatten wir uns keinerlei Gedanken darüber gemacht, ob und wie wir mit dem Transit nach Israel kommen könnten. Es stellte sich heraus, dass das im Jahre 1980 völlig unmöglich war. Schließlich gelang es uns, den Wagen in Tarablus zu einem ordentlichen Preis zu verkaufen. Wir investierten den Erlös in eine komplizierte Flugroute, die uns über Beirut nach Istanbul und von dort nach Amman führte.

Wir hatten nur noch unsere großen Rucksäcke, selbst die Schlafsäcke und die Musikkassetten hatten wir im Wohnbus zurückgelassen. Ein Schleuser, der fließend und fast akzentfrei Deutsch sprach, brachte uns für fünfzig amerikanische Dollar bei Hazeva über die Grenze. Wir waren im gelobten Land. Illegal, weil ohne Visa, mit leichtem Gepäck und insgesamt rund eintausendfünfhundert Dollar in der Kasse.

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