Es war Robby, der mich überredet hat, das hier aufzuschreiben, in unserem Stammlokal nach seiner Rückkehr von einer großen Reise einschließlich Transatlantik. Er hatte sich inzwischen auf mittelalte Passagierinnen spezialisiert, allein reisende, nicht zu attraktive. Eine davon eine Niederländerin namens Nele, die er fotografieren durfte. Am zweiten Tag der Atlantiküberquerung erotisch, am fünften dann pornografisch. Er zeigte mir die Bilder und meinte: Na, sieht doch aus wie Marianne. Da er Marianne nie persönlich kennengelernt hatte, das wurde mir klar, hatte er eine Vorstellung von ihr, die aus meinen vielen Erzählungen über sie und mein Leben mit ihr stammte. So groß war aber die Ähnlichkeit eigentlich nicht. Wenn ich mir allerdings Neles Gesicht wegdachte, was mir auf den späteren Fotos nicht schwerfiel, weil der Fokus auf anderen Regionen lag, dann sah ich Mariannes Körper wie ich mir vorstellte, dass er inzwischen aussah.
Wann hast du sie zuletzt gesehen? fragte Robby. Flüchtig begegnet waren wir uns vier, fünf Jahre zuvor auf dem Weihnachtsmarkt, wo sie an einem Waffelstand arbeitete. Aber da stand sie blöd uniformiert mit einer noch blöderen Haube im Fettdunst und hätte eine beliebige Schwarzhaarige Ende Vierzig sein können. Mehr als Wie geht‘s? tauschten wir nicht aus. Das heißt aber, dass ich Marianne tatsächlich vor fast zehn Jahren zuletzt gesehen hatte. Und nicht nur gesehen: Wir hatten uns in der Weinbar am W.-Platz für viel Geld betrunken, waren dann in meinem Appartement gelandet und hatten in der Nacht ziemlich wild gevögelt. Da war sie noch ganz sie.
Klar, sagte Robby, dass ihr eigentlich dauernd gefickt habt, weiß ich ja aus deinen Berichten über die Zeit mit Marianne. Da erinnert man sich natürlich nicht an Details. Wie seid ihr überhaupt ein Paar geworden? Der Rand vom Bierdeckel bot kaum noch Platz für sechs, sieben Striche, ich war müde und hatte große Erinnerungslücken. Erzähl ich ein anderes Mal, antwortete ich. Nein, nein, mein Lieber, das machst du anders: Schreib die Geschichte von Marianne und dir doch einfach auf. Du bist doch so ein Schreiberling…
Zum Glück hatte ich ein paar Tage frei, musste weder über irgendwelche Fußballspiele, noch öde Kulturveranstaltungen oder sterbenslangweilige Gesellschaftsereignisse berichten. Außerdem war Chandra bei Freunden in München, und ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Im Keller fand ich die Kiste mit Fotos, Filmen und Videos aus jener Zeit erst nach intensiver Suche. Da ich weder einen Filmprojektor besitze, noch ein Gerät zum Abspielen der altmodischen Kassetten, nahm ich mir zuerst die Fotos vor. Am Montag wollte ich Gregor bitten, die Videos zu digitalisieren. Ich wusste, dass er die entsprechenden Geräte und Programme besaß.
Im Umzugskarton hatte ich gut zwei Dutzend Kartons und Schachteln unterschiedlicher Größe gestapelt. Manche trugen eine Jahreszahl, andere den Namen eines Urlaubsziels. Ich breitete die Behälter auf dem großen Arbeitstisch aus und suchte nach 1977. Fehlanzeige. Dafür fand ich einen kleinen Karton, auf dem ich damals mit Bleistift PARIS geschrieben hatte, das Ziel unserer ersten gemeinsamen Reise im Spätwinter 1978, als wir nicht nur vor dem Karneval geflüchtet waren, sondern sie mir die Stadt zeigen wollte, in der sie zweieinhalb Jahre als Au-pair-Mädchen verbracht hatte.
Mir fiel als erstes ein Bild in die Hände, auf dem sie in einer stillen Straße vor einem eher unscheinbaren Haus steht. Sie trägt eine viel zu dünne, hellbraune Lederjacke und eine helle, karierte Hose, die sie in ihre hohen Stiefel gesteckt hat. Dazu einen selbstgestrickten Schal in Rosé. Großgewachsen und dünn steht sie da mit einem unsicheren Lächeln. Blickt direkt in die Kamera. Kuhaugen machen, nannte sie diesen Blick. Hier, erzählte sie, habe sie allein mit der Concierge und dem fünfjährigen Sohn den Winter 1973/74 verbracht, während die Eltern – der Vater Insasse einer schwerreichen Familie – Skiurlaub machten und sich zu Weihnachten und Silvester mit Freunden in den glamourösen Wintersportorten trafen.
Im Sommer habe sich der ganze Clan dann in einer Villa bei Beziérs getroffen und habe die berühmten zwei Monate dort und am Meer, wo man ein zweites Haus besaß, verbracht. Da fahren wir dann auch noch gemeinsam hin, mein Lieber, hatte sie in Paris angekündigt. Aber dazu kam es nie.
Ich fand noch ein paar Fotos, auf denen sie irgendwo in der Stadt der Liebe vor einem Gebäude stand oder saß. Manchmal so gekleidet wie vor diesem Haus, manchmal trägt sie einen dunkelblauen Wollmantel. Dann eine Aufnahme, die ich in ihrem Lieblingsrestaurant gemacht hatte, einem auf Cous-cous spezialisierten Laden im Souterrain in einer Seitenstraße des Boulevard St. Michel. Ihr Gesicht über einem breiten Rollkragen im Halbprofil. Die große Nase und die aufgeworfenen Lippen. Natürlich ungeschminkt. Das hatte man damals so.
Es gab ein Schwarzweißfoto, auf dem sie nackt und rücklings auf dem Hotelbeet liegt, lächelnd, die Hände hinter dem Kopf. Ich weiß noch, dass wir es kurz zu vor besonders intensiv getrieben hatten. Was machst du? hatte sie gefragt als ich aufsprang und die Kamera holte. Festhalten, hatte ich geantwortet. Über die Jahre habe ich sicher mehrere Hundert Aktaufnahmen von ihr gemacht. Manchmal, weil sie es so wollte. Manchmal, weil einfach die Umstände, der Ort oder das Licht gerade richtig war. Ein paar Male haben wir uns gemeinsam und mit dem Fernauslöser so fotografiert.
Auf eine Schachtel hatte sie mit Lippenstift 1978 geschrieben und zwei Strichmännchen gemalt. Es war eines unserer glücklichsten Jahre. Sie war im November achtundzwanzig geworden, ich kurz davor fünfundzwanzig. Sie hatte sich bei einer Zeitarbeitsfirma verdingt und verdiente richtig gut, weil es außer ihr kaum eine Kollegin gab, die viersprachig Steno und Schreibmaschine beherrschte. Die einzelnen Jobs dauerten nie sehr lange, sodass sie zwischendurch viel freie Zeit hatte. Ich studierte noch vor mich hin, jobbte aber regelmäßig. Wir hatten ausreichend Geld und Zeit und bewohnten eine Zwanzigquadratmeterwohnung mit zwei winzigen Zimmern, einer Wohnküche und einem Bad mit Sitzbadewanne unter dem Dach eines hässlichen Fünfzigerjahrehauses.