Mit nem Ei im Mund

Mit nem Ei im Mund
„Mit nem Ei im Mund um den Block rennen! Wetten, ich kann das?“
„Klar kannste das.“
„Wetten? Wetten?“ Siggi hüpft vor Horsti auf und ab.
„Warum soll das nicht klappen?“ sagt Horsti mit schiefem Gesicht.
„Mensch! Mit nem Ei im Mund! Was wettest du?“ [Lesezeit ca. 44 min]

Ganz aufgeregt ist Siggi. „Fünf Runden mit nem Ei im Mund um den Block. Da würd ich wetten.“
„Zwei?“
„Einverstanden. Zwei Runden mit nem Ei im Mund um den Block. Das schaffste nicht.“ Horsti ist sich sicher.
„Und worum wetten wir? Eine Mark?“
Horsti tippt sich an die Stirn: „Wohl blöd. Sagen wir: Sechzig Pfennig.“
Siggi ist einverstanden.

„Und wo kriegen wir nen Ei her?“
Renate weiß es: „Wir leihen uns eins bei Oma Müsch!“
Au ja, grölen die sieben Kinder von der Hildebrandtstraße und rennen um die Ecke zu Oma Müschs Bäckerei.

Zu einem Drittel Bäckerei, zu zwei Dritteln Kramladen und Büdchen, das ist Oma Müschs Bäckerei auf der Oberbilker Allee. Grad hat Rolf Brücks frisches Brot gebracht, das einen seltenen Duft in den Laden bringt, der sonst nach den sauren Gurken riecht, die Oma Müsch in großen offenen Gläsern anbietet.

Marie ist als erste im Laden: „Oma Müsch, Oma Müsch…“
„Halt, ihr Tungusen!“ brüllt Oma Müsch in breitem ostpreußischem Tonfall und streckt der hereinstürmenden Bande beide Hände über der Ladentheke entgegen.

Jetzt sind alle Sieben drin und reden durcheinander.
„Nur einer spricht. Verstanden!“ und zeigt auf Renate, die größte und älteste in der Runde, die bei Bedarf einen vernünftigen Eindruck machen kann. „Was sollt ihr dieses Mal klauen?

„Nix klauen, Oma Müsch. Wir wollten uns bei dir ein Ei leihen.“
„Ein Ei? Seid ihr denn jetzt ganz und gar verrückt geworden?“ Oma Müsch stemmt die Fäuste in die Hüften, die so breit sind, dass sie damit notfalls die Ladentür versperren und flüchtige Diebe einfangen kann.

„Nein, Oma Müsch“, mischt sich Siggi ein, „es geht um eine Wette zwischen mir und Horsti.“
„Und wenn das Ei kaputt geht? Wer von euch Schlawinern zahlt es?“

Ein guter Einwand. Sechs der sieben Kinder denken nach. Nur Klein-Elke mit dem schimmeligen Stoffhasen im Arm weint ein bisschen vor sich hin, weil sie viel lieber an der Düssel Stichlinge gucken wollte und für das anschließende Quengeln von ihrer Schwester Marie eine Ohrfeige bekommen hatte.

„Wir lassen ein Pfand da“, sagt Marie und entreißt Klein-Elke das Knuddeltier, um es auf die Ladentheke zu legen. Klein-Elke schreit auf und fängt nun ein lautes Heulkonzert an.

„Du kriegst das Viech ja wieder“, brüllt Oma Müsch gegen Klein-Elkes Weinkrampf an. Aber das beruhigt Maries Schwester nicht.

„Da habt ihr das Ei. Aber wehe…“

Und schon sind die Kinder aus dem Laden gestürmt; Marie mit Klein-Elke im Schlepptau, die beim Rennen mit Weinen aufhört, weil sie sonst keine Luft be-kommen würde.
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Der Unimog mit den Bundesbahn-Transportwagen poltert über die Oberbilker Allee. Sieben eisenbereifte Anhänger schlingern über die Fahrbahn. Dahinter ein Mann mit Hut im Opel Kapitän, der das Fenster runterkurbelt, die Zigarre aus dem Mund nimmt und laut flucht. Wachtmeister Blümchen steht an der Ecke Corneliusstraße und überlegt, ob er dem Opelfahrer einen Strafzettel verpassen soll. Aber da ist der Unimog mit seinen Anhängern schon in die Hildebrandtstraße eingebogen, und der Mann im Opel Kapitän kann wieder Gas geben.

Auch vor der Einfahrt des Waschmaschinenlagers steht so ein Transportanhänger. Aus Holz, das wie bei einem Fass mit starken Eisenbändern zusammengehalten wird. Je zwei Kanteisen von Ecke zu Ecke überkreuz befestigt. Eine Metallgitter hält den Lieferschein. Die Deichsel dient gleichzeitig als Bremse; ist sie hochgeklappt, werden an zweien der Eisenrädern Brems¬backen angezogen. Zieht man die Deichsel wieder in die Waagerechte, lösen sich die Bremsen. Diese Konstruktion wird von einem Federmechanismus unterstützt, der die Deichsel mit Schwung an den Behälter zieht, wenn man sie über einen bestimmten Punkt hinaus aufwärtsbewegt.

Horsti hatte vor ein paar Wochen beim Spielen mit einem Behälter drei Fingernägel eingebüßt, als er seine linke Hand an der Wagenrückseite aufstützte, während Ebse gerade die Bremse feststellen wollte. Die Deichsel sauste, durch Federkraft beschleunigt, hoch und erwischte grad noch Horstis Fingerspitzen. Natürlich wurden die Nägel sofort blau und später schwarz, und Horstis Vater fuhr nachmittags mit ihm in der Linie 8 zum Martinus-Kranken-haus, wo man ihm die betroffenen Fingernägel entfernte.

Horsti trägt immer noch einen dicken Verband an der linken Hand. Und hatte niemandem erzählt, dass er schon beim Ziehen des ersten Nagels ohnmächtig geworden war und nach dem Aufwachen fünf Stunden lang ununterbrochen ge¬heult hatte. Wer wollte das schon wissen? Ein Junge von elf Jahren weint nicht. Schon gar nicht vor Schmerzen. Obwohl: Auf die Frage, ob es noch weh tue, sagte Horsti immer „Es schmerzt!“ Was die Freunde zu Lachstürmen hinriss.
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Micha hat die Start-und-Ziellinie schon mit Kreide auf den Bürgersteig gemalt. Direkt an der Ecke, wo eben noch der klappernde Unimog-Zug eingebogen ist.

„Geht´s jetzt endlich los?“ fragt Marie ungeduldig und guckt Klein-Elke böse an, weil die immer noch nicht still ist.
Ebse stellt sich breitbeinig über die Linie und streckt beide Arme rechtwinklig nach rechts und links aus: „Achtung!“
„Stopp, ruft Horsti, das Ei! Wer hat das Ei?“

Die Kinder schauen sich gegenseitig an: Horsti guckt Siggi an, der blickt sich zu Ebse um, der wiederum Renate mustert, die Marie fragend ansieht. „Klar, ich hab´s.“
Zerrt an der kleinen Schwester und sagt: „Hätt ich vor lauter Heulerei beinahe vergessen.“
Und legt Siggi das Ei in die Hand.

Der nimmt eine Zirkuspose ein, wirft den Kopf in den Nacken, sperrt den Mund weit auf und legt das glatte weiße Ei mit der Rechten in den Mund. Die Bande applaudiert.

Siggi kauert sich nieder wie Armin Harry beim Hundertmeterlauf und richtet seinen Blick auf einen unsichtbaren Horizont.
„Zweimal um den Block, Siggi, zweimal!“ ruft im Horsti noch zu.

Ebse, der die ganze Zeit in seiner Haltung als Starter verharrt, hebt die Arme ein wenig an, dreht die Handflächen dabei nach oben: „Fertig.“
Siggi hebt den Hintern hoch und senkt den Blick.
Die Hände klatschen über Ebses Kopf zusammen: „Los!“ Siggi macht einen Blitzstart und verfällt dann in einen strammen Trab.
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Zwei Runden um den Block, das ist eine ganz schöne Strecke. Das Ei kullert in seinem Mund. Es schmeckt eigentlich nach nichts. Aber der Gegenstand im Mund regt Siggis Spucke an. Er schluckt alle paar Schritte. Und langsam bildet sich ein leichter Geschmack wie eine sehr dünne, fade Hühnersuppe. Ob wohl ein Küken im Ei ist? fragt sich Siggi. Ob dem Küken jetzt schlecht wird von der Schaukelei?

Da ist er auch schon am Werkstor der Bonbonfabrik in der Hildebrandtstraße. Ein starke Wolke Lakritzgeruch weht auf den Bürgersteig. Genau, denkt Siggi, von meinem Wettgewinn hol ich mir nachher beim Pförtner ne Tüte Waffelbruch für nen Groschen. Oder für fünf Pfennig gemischte Lakritzreste. Oder beides. Oder dazu noch einen Beutel misslungene Gummibärchen. Auch für nen Groschen. Bleiben immer noch fünfunddreißig Pfennig übrig. Da krieg ich bei Oma Müsch auch noch ein Sigurd-Heftchen.

Der Unimog hat seine Wagen im Hof der Lakritzfabrik abgestellt und kommt aus der Einfahrt. Als der Trecker an Siggi vorbeifährt, schaut er, ob vielleicht Erwin Schönerstedt am Steuer sitzt. Der ist nämlich Bahnbeamter im Güterverkehr und wohnt bei seinen Eltern. Im Haus neben dem von Siggi.

Erwin hatte ihn schon ein paar Mal mitgenommen zum Bahnhof. Er saß dann im Stellwerk des Derendorfer Güterbahnhofs, schaute auf das Gewirr der Gleise, beobachtete die Männer, die mit den Bremsklötzen hantierten, versuchte bei jedem Waggon, der den Ablaufberg herunterrollte, vorherzusagen, welchen Gleisweg er nehmen würde, und aß ansonsten Butterbrote, die ihm Erwins Kollegen schenkten.

Auch mit Edgar, Erwins Bruder war er schon mitgefahren. Der arbeitet als Fahrer für die Keksfabrik Xox. Ware ausliefern, nannte er seine Tätigkeit. Siggi saß auf dem Beifahrersitz im VW-Transporter, der genauso lackiert war wie die berühmten Xox-Keksdosen, von denen eine auch bei Frau Jäger stand, die er manchmal mit seinen Eltern besuchen musste. Leider bewahrte die alte Dame, von der seine Mutter manchmal geheimnisvoll sagte, dass es bei der reichlich zu erben gäbe, darin selbstgebackene Plätzchen auf, die es mit den wunderbar knackigen Xox-Waffeln mit Kakao-Füllung nun wirklich nicht aufnehmen konnten.

Edgars Keksdosen-Bulli strahlte in kräftigem Rot, das mit lebensecht wirkenden Keksen, Waffeln und Käsegebäck bemalt war. Dazu natürlich der Xox-Schriftzug, dessen Buchstaben aussahen wie aus Salzstangen geformt.

Siggi hatte oft überlegt, ob er nicht auch Maler werden sollte. Aber dann einer, der die Sachen ganz so malen konnte, wie sie in Wirklichkeit aussahen. Natürlich würde er dann nicht nur Autos bemalen. Sondern auch die Plakatwände an den Kinos. Er stellte sich vor, wie er auf einem Gerüst hoch über dem Eingang des Kristallpalastes das Plakat für seinen Lieblingsfilm malen würde. Wie er die verschiedenen Gelbs des Wüstensandes erfinden würde und das Gesicht des Lawrence von Arabien mit den strahlend blauen Augen so lebensecht gestalten, dass die Leute schon massenweise vor dem Kino stehen blieben, bevor auch nur das Plakat fertig wäre, geschweige denn der Vorverkauf begonnen hätte.

Als Beifahrer im Xox-Lieferwagen fühlte sich Siggi schon wichtig genug. Er spürte, dass auch das eine Aufgabe sein könnte, Waren aus Fabriken in die Läden zu bringen, wo jedermann sie kaufen könnte. Außerdem hatte Edgar immer reichlich Xox-Salzstangen im Handschuhfach.
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Langsam geht ihm der Atem aus, mit dem Ei im Mund. Siggi beschließt, sich eine Pause zu gönnen. Davon war ja nicht die Rede gewesen, dass er keine Pause machen sollte. Aber, ob er das Ei dabei rausnehmen dürfte? Wahrscheinlich hätte er die Wette dann verloren. Also heimlich. Siggi bleibt vor dem dunklen Fenster des Geigenbauers stehen. Schaut sich um. Niemand ist ihm gefolgt. Nimmt das Ei aus dem Mund und atmet kräftig durch.

Das Haus, in dem der Geigenbauer Laden und Werkstatt eingerichtet hat, ist das schmalste auf der Hildebrandtstraße. Horsti hatte, in der Zeit als er alle Häuser, Einfahrten und Höfe vermessen wollte, die Breite abgeschritten und ein Maß von nur drei Meter zwanzig herausbekommen. Neben Schaufenster und Ladentür geht es gleich ins Treppenhaus. Das Haus ist zwar schmal, reicht aber bis fast an den Bahndamm heran. Die Treppe führt deshalb wie ein schmaler schräger Gang ohne Absatz bis in die erste Etage. Der Keller ist nur durch den Hof zu erreichen.

Jedenfalls nimmt das Schaufenster gut zwei Drittel der Breite ein. Keines der Kinder hatte je herausfinden können, ob das Fensterglas schmutzigbraun war oder ob die vielen holzfarbenen Sachen im Laden den Eindruck machten, man blicke in ein braunes Loch. Nur Marie. Sagte Renate, die es von Maries Bruder Micha hatte.

Der hatte erzählt, eines Tages sei Marie am Geigenladen vorbeigegangen als der Geigenbauer auf die Straße getreten sei. Sie hätte sich ein bisschen erschrocken, weil sie, wie die anderen Kinder, den Geigenbauer zuvor noch nie gesehen hatte. Aber er wäre ihr ganz freundlich vorgekommen mit seinem runden Gesicht, mit kleinen, dunklen Schweinsaugen hinter einer noch kleineren, randlosen Brille und der Stupsnase, die in seinem dichten Vollbart fast verschwand. Einen grauen Kittel habe er getragen, einen Seemannspullover mit Rollkragen darunter und nackte Füße in Holzpantinen.

Er habe sie gefragt, ob sie einmal den Laden sehen wolle. Und ob sie Durst hätte. Sie sei mit ihm hineingegangen und habe dort eine lauwarme Sinalco ge¬trunken, während der Geigenbauer ununterbrochen von den Violinen (Micha sagte: Fiolinen, mit Betonung auf der ersten Silbe), Bratschen, Celli (Micha sagte: Schälli) und Kontrabässen erzählt und behauptet habe, früher sei er selbst ein Virtuose (Micha sagte: Fürtohose) gewesen, aber bei einem Autounfall habe sich den linken Arm so schwer verletzt, dass er nicht mehr in der Lage wäre, ein Instrument (Micha sagte: Inschtrument, mit Betonung auf der ersten Silbe) zu halten.

Marie habe sich die Geigen angesehen und gefragt, ob er auch wirklich manch¬mal, welche baue, weil alle Leute im Häuserblock behaupteten, niemals habe jemand bei ihm eine Geige bauen lassen. Worauf der Geigenbauer sagte, dass er Instrumente für die besten Orchester (Micha sagte: Orschester) der Welt baue und diese versende. Alle sechs Wochen brächte die Bahn einen Transportwagen, den er mit fertigen Instrumenten fülle, und den dann der Unimog abholen käme. Und weil sich das alle im Hof abspiele, hätte noch kein Nachbar dies je beob¬achtet. Außerdem würden manchmal Kunden kommen, Saiten zu kaufen, und die eine oder andere Reparatur führe er auch aus. Aber am liebsten baue er Geigen und Celli. Er nähme sich viel Zeit mit den Entwürfen. Ob sie auch seine Werkstatt sehen wollen. Marie bejahte.
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Siggi hat den Eindruck, die Pause müsste jetzt zu Ende sein, schiebt sich das Ei in die rechte Backentasche – er hat herausgefunden, dass er dann besser atmen kann, als wenn das Ei auf seiner Zunge liegt – und läuft los.

Und in diesem Moment bricht eine Hölle los. Um die Häuserecke bläst eine schwarze Wolke auf ihn zu. Begleitet von einem Lärm, als ob Millionen Kieselsteine über ein gigantisches Waschbrett rollten. Siggi nimmt eine Nase voll Kohlenstaub und muss heftig husten. Rasch spuckt er das Ei in die Hand und hustet hemmungslos.

Natürlich ist er stehengeblieben und beendet den Anfall mit vorgebeugtem Oberkörper. Um die Ecke kommt der Kohlenhändler.

Ein Mann von über zwei Metern Länge und dick wie der Elefant im Wuppertaler Zoo, vor dem sich Siggi bei einem Besuch vor Jahre so geängstigt hatte. Schwarz von oben bis unten. Schwere Stiefel mit Metallbeschlägen an der Spitze und an der Hacke. Eine Manchesterhose mit weitem Schlag. Aufgehängt an Hosenträgern, die sich über ein pralles, dunkelgrau-schwarz-gestreiftes Hemd ohne Kragen spannen. Vom Kohlenstaub geschwärztes, kantiges Gesicht, schwarzes Kraushaar, das in dicken Koteletten ausläuft, die unter einer schwarzblauen Mütze hervorquellen.

Der Kohlenhändler hat eine Flasche Bier in der Hand, blinzelt ein bisschen in Siggis Richtung und sagt: „Hasse sisch verschrocke, wa?“
Lässt den Bierflaschenverschluss mit Plopp aufspringen und zischt den Inhalt in einem Zug in seinen dicken Hals. Rülpst. „Eene Schüttung, eene Flesch!“
Und verschwindet wieder um die Ecke.

Gut, dass ich das Ei noch ausgespuckt hab, denkt Siggi. Sonst wär‘s mir rausgeflogen vor Husten. Schon mal hatte er sich furchtbar erschrocken als im Kohlenhof eine Ladung Koks aus dem ersten Stock des Lagers über die Rutsche auf die eisenbeschlagene Ladefläche des Pferdewagens gepoltert war. Auch damals war der Kohlenhändler aus dem Hof gekommen und hatte Bier getrunken. Siggi hatte sich damals zum ersten Mal getraut, in den Hof des Kohlenhändlers zu gucken.

Der dreieckige Kohlenhof wird begrenzt vom Haus des Kohlenhändlers, das von vorne strahlend sauber gehalten, von hinten aber schwarz-braun-gesprenkelt ist, dem Anbau des Hauses, in dem der Geigenbauer seinen Laden hat, und dem Bahndamm, der an dieser Stelle dem Kohlenhändler dazu dient, seine Halden aufzuschütten. Siggi war damals wirklich in den Hof geschlichen, aber der Kohlenhändler hatte ihn erwischt und ohne viel Federlesens seine Hand ge¬nommen und einmal rund um den Hof gezerrt.

„Un dat sin Eierkohle. Und dat is Koks usse Hütte für zum Verfeure in Zentralhiezong. Un dat sin Briketts uss Eschweiler.“ Und jeden Haufen erklärt.
Schließlich schob er Siggi wieder auf den Bürgersteig, drehte ihn so, dass sich die beiden in die Augen sehen konnte, zumal der Kohlenriese sich in die Hocke begeben hatte, und sagte: „Aber nit hier in minge Hof rumspiniere. Klar?“
Siggi hatte heftig genickt, sich losgerissen und war weggelaufen.
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“Siegfried! Siegfried!“ Seine Mutter winkt von der anderen Straßenseite aus. „Komm mal rüber!“
Siggi wollte sowieso auf den anderen Bürgersteig. Das Ei hat er noch in der Hand. Seine Mutter steht mit der Einkaufstasche vor der Einfahrt zum Bierverlag Treukens. Siggi findet, sie guckt komisch. Außerdem sind ihre Haare zerzaust. Na ja, wäre nicht das erste Mal, dass Mutti nach dem Einkaufen bei Dieter im Getränkelager vorbeischaut.

„Was ist denn?“
„Zum Essen bist du aber zuhause, Siegfried, dass das klar ist!“
„Wann gibts denn Abendbrot?“
„Wenn Vati zuhause ist. So um halb sieben.“
„Und wann ist halb sieben? Ich hab doch keine Uhr.“
„Dann fragst du eben jemand. Und wehe du kommst zu spät. Dann gibts Stubenarrest.“
„Tschö, Mutti. Ich muss dann wieder. Ne Wette!“ ruft Siggi und sprintet los.
Unterwegs schiebt er sich das Ei wieder in den Mund.

Er biegt in die Corneliusstraße, wo gerade die 4 vorbeirumpelt. Siggi freut sich: Die alten Straßenbahnwaggons mit den offenen Perrons sieht er nur noch selten. Wo der Schaffner noch mit einem Geldbehälter vor dem Bauch herumläuft und Sonst noch jemand zugestiegen? ruft. Den Fahrschein von einem Block abreißt, der auf einem Holzbrett an der Geldtasche befestigt ist. Die Münzen mit einem Blick taxiert und sortiert in die Schächte des Behälters schiebt. Für jede Münze gibt es einen Schacht, der mit kleinen Schlitzen versehen ist, durch die man sehen kann, wieviel Münzen in der Röhre sind. Das Wechselgeld gibt der Schaffner durch den Druck auf einen am Hebel am unteren Ende der Röhre frei und lässt es in die Handfläche fallen. Das alles beherrscht der Schaffner mit großer Präzision und Geschwindigkeit.

Wenn Siggi und seine Freunde mit der Bahn ins Schwimmbad an der Kettwiger Straße fahren, warten sie manchmal an der Haltestelle, bis ein Zug aus alten Waggons kommt. Sie mögen die neuen Wagen nicht, bei denen man nur durch die hinterste Tür einsteigen darf, weil dort der Schaffner erhöht hinter einem Schalter sitzt, an dem vorbei muss, wer mitfahren will.

Im Sitzen sind die Schaffner viel strenger. Will Siggi mit fünf Fünfpfennig-Stücken bezahlen, wird er angeschnauzt. Das passiert bei den Schaffnern in den alten Waggons nie. Vielleicht, denkt Siggi, weil fünf Pfennige früher als die alten Waggons modern waren, noch einen Wert darstellten. Und die Schaffner in den neuen Waggons sich daran nicht mehr erinnern konnten. Waren auch meist die älteren Schaffner, die in den alten Waggons mitfuhren.

Allerdings sorgten die dafür, dass Kinder wie Siggi und seine Freunde aufstanden, um älteren Damen oder Kriegsversehrten einen Sitzplatz freizugeben. Dabei waren sie auch ziemlich kaputt, wenn sie vom Schwimmen kamen und hatten einen Sitzplatz genauso nötig wie alte Frauen oder die Männer, die in dunkelgrauen langen Loden- oder Kleppermänteln mit grauen Käppis und dun¬klen Brillen zustiegen, und ein Recht auf den Sitzplatz hatten, weil sie im Krieg gewesen waren.

Siggis Vater war auch im Krieg gewesen. Aber deswegen trug er noch lange keinen Gummimantel oder eine blöde Mütze oder eine Sonnenbrille. Und ein Sitzplatz wurde Siggis Vater vom Schaffner auch nie freigemacht. Sicher, der einbeinige Mann von der Heresbachstraße, der sollte schon sitzen. Konnte ja auf dem Bürgersteig kaum stehen, wie dann erst in der wackeligen Straßenbahn. Für ihn standen alle Kinder auf. Auch, weil er ziemlich schlecht roch (Der hat immer ne Fahne, sagte Siggis Vater). Und weil er die Jungens immer anfassen wollte.

Außerdem murmelte er fortwährend vor sich hin, und Ebse behauptete, der Mann wäre bei den Negern in Gefangenschaft gewesen und habe dort geheime Verhexungssprüche gelernt, mit den er Menschen zu seinen willenlosen Werk-zeuge machen können – zumindest auf längere Zeit gesehen. Als Preis dafür, dass die Neger ihm ihre Geheimnisse verraten hatten, habe er sein Bein geopfert, das die Neger ihm abgeschnitten, gekocht und verspeist hätten.

Während die Mädchen Ebse diese Geschichte schon glauben wollten, sagte Horsti nur „Du spinnst. Wenn der so mächtig ist, warum ist er dann nicht reich? Warum muss er Straßenbahn fahrn? Warum hat er nur einen Mantel? Warum ist er überhaupt hier und nicht in Amerika?“
Ziemlich unwiderlegbare Einwände, fand Siggi.

Beide Waggons der Bahn, die nun an der Haltestelle zum Stehen kommt, sind leer. Der Schaffner lehnt sich aus der Plattform des vorderen Wagens, um zu prüfen, ob irgendwelche Fahrgäste zusteigen wollen und zieht schließlich an der Lederschnur über der Plattformöffnung. Es klingelt, der Fahrer dreht an der Kurbel, und die Straßenbahn setzt sich wieder in Bewegung.
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Siggi trabt weiter. Ein Zweitaktmotor knattert. Das Torpedo-Dreirad des Negers fährt an ihm vorbei und biegt ein paar Meter weiter in eine Einfahrt, bleibt aber so stehen, dass der Lieferwagen den Gehweg versperrt. Der Neger steigt aus. Siggi sieht den schwarzen Kopf mit den krausen, grauen Haaren über dem Fahrer¬häuschen. Ehe ihn der Neger noch bemerken kann, drückt sich Siggi in den nächsten Hauseingang.

Der Neger ist ein alter Mann. Sagt Micha. Das habe ihm Dieter erzählt. Der hat ja schon graue Haare, habe Dieter gesagt. Wieso? Warste denn schon mal so dicht dran? habe dann Renate gefragt. Dieter habe nur gelacht und gesagt: Ich hab in Amerika mehr Neger gesehen als ihr jemals in eurem ganzen Leben sehen werdet. Ich kenne die Neger gut. War mit einem sogar befreundet. Sugar Ray (Micha sagt: Schugga Reh) habe der geheißen und sei später ein berühmter Boxer geworden. Ja, und mein Onkel ist Papst, habe Renate geantwortet.

Siggi ist im letzten Sommer mal zu Dieter in den Getränkehandel gegangen, weil er mehr über den Neger wissen wollte.

Wenn man durch die Einfahrt des Bierverlages geht, kommt man am Ende auf einen winzigen quadratischen Hof, der so klein ist, dass man kaum ein Fahrrad darin wenden kann. An der rechten Seite ist ein Stahltor, das fast die ganze Wand einnimmt. Im Tor ist eine Tür eingelassen, durch die man in den Kühlraum des Bierverlags kommt.

Hier stehen meterhoch die Bierkästen und Kästen mit Sinalco-Limonade und Afri-Cola. Auf einer Seite steht ein deckenhohes Metallregal, auf dem die Bier¬fässer gelagert werden. Eine Hälfte des Regals ist rotlackiert, die andere blau. In der roten Hälfte stehen die vollen Fässer, in der blauen die leeren.

An der Decke des Raums ist eine Schiene befestigt, die parallel zum Regal ver¬läuft. Daran ist ein Flaschenzug mit zwei Haken angebracht.

Wenn Dieter eine Lieferung von der Brauerei bekommt, werden die Fässer auf der Straße vom Brauereilaster auf einen schweren Handwagen umgeladen. Dann macht Dieter das Tor zum Kühlraum auf, zieht den Handwagen rein und schließt das Tor schnell wieder, damit nicht zu viel Wärme eindringt.

Der Wagen mit den Fässern wird dann vor das Regal bugsiert. Nun holt Dieter den Flaschenzug heran und lässt die Haken auf die Höhe der Ladefläche herunter. Er legt ein Fass auf die Seite, hakt die Greifer an den Rändern des Fasses ein und zieht den Flaschenzug an. Er bewegt den Kran so, dass das Fass am zukünftigen Lagerplatz am Regal auspendelt.

Nun muss er die Leiter heranholen, zum Fass hochsteigen und es mit den Händen oder einem Metallhaken, den er am Gürtel trägt, ins Regal befördern und die Greifer lösen. Die Regalböden sind gewellt, sodass die Fässer waagerecht liegen¬bleiben, ohne hin und her zu rollen.

Auch die Sinalco- und Cola-Kästen und die Kästen mit Flaschenbier hievt Dieter mit einem Flaschenzug an ihren Platz. Der zweite Flaschenzug hängt an einem Kranausleger, der direkt neben dem Tor an der Wand befestigt ist. Damit baut Dieter Türme aus sieben, acht oder gar zehn übereinanderstehenden Kästen.

Nicht erst diese anstrengende Arbeit hat Dieter zu einem echten Muskelprotz, das findet Siggi jedenfalls, gemacht. Mutti sagt, Dieter war schon immer ein starker Mann.

Dieter ist Muttis Schwager. Oder Schwippschwager. Oder so was. Er ist mit Muttis Schwester, der Tante Ingeborg, verheiratet gewesen. Dieter hat sich mit knapp siebzehn freiwillig gemeldet und ist bei seinem ersten Einsatz am Monte Cassino in Italien direkt in amerikanische Gefangenschaft geraten. Drei Jahre war er in den Staaten – wie er immer sagt. Und wäre nach der Entlassung aus dem Lager in Oklahoma gerne dortgeblieben. Aber das haben die Amis nicht erlaubt.
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Dieser Sommertag war der heißeste Tag, an den sich Siggi erinnern konnte. „Heut springt das Quecksilber aussem Thermometer“, hatte Vati schon morgens gesagt, „ihr werdet sehen.“

Gegen Mittag hatte jeglicher Verkehr auf der Corneliusstraße aufgehört vor Hitze. Die Bande lungerte im Hof von Siggis Haus herum, denn der lag den ganzen Tag im Schatten, da konnte man es aushalten. Frau Knorrek aus Parterre, die ganz allein in der Zweieinhalbzimmerwohnung lebte, in die sie schon vor dreißig Jahren mit Mann und drei Kindern eingezogen war, hatte ein Kanne kühler Buttermilch vom Milchgeschäft Nassenstein geholt und bewirtete die Sieben durchs Küchenfenster, das auf den Hof hinausging.

Siggi mochte keine Buttermilch. Sicher würde er bei Dieter eine Flasche Sinalco abstauben können, denn was zu Trinken gabs beim Onkel immer. Also schlich Siggi matt durch den Hausflur auf die Straße. Als er die letzte Stufe, die noch im Schatten lag, verließ und den ersten Schritt auf den Gehsteig machten, schien es ihm, als stiege er in einen Teller Suppe. Warme Luft strich ihm um die nackten Beine, setzte sich zwischen den bloßen Zehen in den Sandalen ab, kroch ihm sogar durch den Latz der Lederhose. Ganz dicht an der Hauswand entlang stol¬perte er zur Straßenecke.

Die Hildebrandtstraße lag voll in der Mittagssonne. Kein Schatten, nicht einmal an den Hauswänden, die im Gegenteil Hitze abstrahlten wie Muttis Bügeleisen, wenn sie es senkrecht auf die Ablage des Bügelbrettes stellte.

Rasch in die Einfahrt zum Bierverlag Treukens. An der Tür klopfen und gleich die Klinke drücken. Reingehn in die Kühle. Da saß Dieter in langen Hosen und im Pullover. Siggi war von der Kälte benommen und setzte sich rasch auf einen Stapel leerer Bierkästen.

„Na, Kleiner.“
„Tach, Dieter.“
„Willste ne Sinalco? Cola kriegste nicht, hab ich deiner Mutter versprochen.“
„Gerne.“
Dieter suchte in dem Kasten herum.
„Sollst ja keine ganz kalte trinken. Kriegste Läuse im Bauch von.“

Fand eine Flasche, deren Temperatur ihm richtig vorkam. Sprengte den Kron-korken an einer Strebe des Metallregals ab. Die Kohlensäure drückte ein bisschen süße Limo aus der Flasche. Es spritzte auf den Boden, der von den Bierresten aus den leeren Fässern im Regal ganz klebrig war. Der Geruch von schalem Bier war stark. Aber Siggi nahm auch den Duft der Holzfässer wahr, in denen sich die Essenzen von Hopfen und Malz fangen. Siggi trank die Sinalco-Flasche in einem Zug aus.

„Noch eine?“ fragte Dieter und reichte ihm gleich eine zweite, schon vorsorglich geöffnete Flasche.
„Und? Was gibts?“
„Du, Dieter, ich wollt dich mal was wegen dem Neger fragen.“
„Wieso fragst du mich?“
„Na ja, weil Micha gesagt hat, du hast Renate erzählt, du hättest einen Neger als Freund gehabt in Amerika.“
„Stimmt. Und?“
„Also kennst du dich doch mit Negern aus, oder?“
„Ja, ich denke schon.“
„Weißt du, Dieter, der Vater von Ebse hat gesagt, der Neger mit dem Schrotthandel muss weg.“
„Und wieso meint Eberhards Vater, dass der Neger wegmuss?“
Siggi überlegte, ob er vielleicht mit dem nächsten Satz ein Geheimnis verraten würde. Zögerte.
„Weil: Ebses Vater sagt, der Neger hat einen Mädchenhandel.“
Dieter lachte.
„Einen was?“
„Mädchenhandel. Weiß auch nicht.“
Und schämte sich jetzt doch, davon gesprochen zu haben.

„Ebses Vater sagt auch, dass der Neger ein Verbrecher ist, wie alle Neger und dass die Neger nach Afrika gehören. So wie die Schlitzaugen nach China, die feigen Itaker nach Italien und der Iwan nach Russland. Und die blöden Bayern hinter die Alpen, sagt er auch noch.“
„Erstens leben Neger nicht nur in Afrika, sondern überall auf der Welt. Und zweitens heißt unser Schrotthändler Willi Scholten, ist nur zur Hälfte Neger, hier in Düsseldorf geboren und hat seinen Schrotthof schon vor dem Krieg gehabt. Ich kannte den schon als Kind. Da hat er seinen Schrott noch mit einem Handwagen vom Karolinger Platz bis zur Corneliusstraße geschoben.“
Siggi war unsicher. Wenn der nur ein halber Neger ist, ist er dann nur ein Halbverbrecher?

Dieter war aufgestanden.
„Alles Quatsch, was der Vater von Eberhard, der komische Herr Lütges, da erzählt. Neger sind genauso viel und genauso wenig Verbrecher wie wir Weißen. Vielleicht sogar eher weniger, wenn ich daran denken, was Lütges vor dem Krieg so alles gemacht hat. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören! Kapiert?“
„Ja, Dieter.“
Siggi schwieg. Trank den Rest Limo.
„Dieter. Ich muss dir was verraten. Das mit dem Wagen von dem Schrotthändler, das waren wir. Ich meine: Horsti, Ebse und ich.“
„Was meinst du: Das mit dem Wagen?“
„Im April war doch die Polizei bei dem Neger, ich meine: bei Herrn Scholten. Weißt du doch, oder?“
„Ja, haben ja alle von gesprochen.“
„Hinterher hat Herr Lütges behauptet, das wäre ne Hausdurchsuchung gewesen. Wegen geklauter Sachen und so.“
„Haben auch die anderen Leute gesagt.“
„Der Neger hatte aber die Polizei gerufen, weil er ne Anzeige aufgeben wollte.“
„Wieso? Wen wollte er anzeigen und warum?“
„Einbrecher. Sein Lieferwagen war aufgebrochen worden.“
„Und?“
„Das waren wir.“

Pause. Siggi spürte etwas Saures die Speiseröhre hochkriechen.
„Was ward ihr? Habt ihr den Wagen aufgebrochen?“
Siggi nickte schwach. Dieter wand sich ab und stierte auf das Fassregal.
„Und warum habt ihr das gemacht?“
„Na, weil Ebses Vater doch gesagt hatte, dass der Neger ein Verbrecher ist. Und wir hatten doch einen Detektivklub gegründet. Und wir wollten Beweise finden und der Polizei Bescheid sagen, dass der Neger ein Verbrecher und Klauer ist.“
„Was genau habt ihr angestellt.“
„Der Neger, ich meine: der Schrotthändler, der macht doch immer um zwölf Mittagspause. Genau um zwölf. Wir hatten Osterferien. Und da sind wir um zwölf auf seinen Hof. Dann haben wir in der Bude, wo der Herr Scholten sein Büro hat, durchs Fenster geguckt. Da lag der Neger und hat geschlafen. Und geschnarcht. Da stand sein Torpedo. Weißt ja, dass man die Türen mit nem Schraubenzieher aufkriegt. Wir haben die Beifahrertür aufgebrochen. Und innen drin alles durchwühlt. Da war ganz viel Papierkram. Im Handschuhfach, auf dem Beifahrersitz. Das haben wir alles fein säuberlich in Fetzen gerissen. Dann hat der Ebse mit dem Schraubenzieher die Sitze aufgeschlitzt und mit dem Griff von dem Schraubenzieher das Glas am Tacho eingeschlagen. Und da hat er auch die Fahrertür von innen aufgemacht, ist rausgeklettert und hat in das Fahrerhaus gepinkelt. Und das haben wir beiden auch gemacht. Und dann sind wir abge¬hauen.“

Dieter war aufgestanden.
„Und wer weiß noch davon?“
„Niemand. Nur wir drei und du.“
„Ihr geht noch heute zur Polizei und meldet das.“
Siggi hatte angefangen zu weinen. Die Limo kollerte in seinem Bauch und ihm wurde schlecht.
„Und falls ihr das nicht tut, werde ich mit Herrn Scholten reden und ihm die Sache erzählen. Was wollt ihr lieber?“
Aber Siggi antwortete nicht.
„Komm, hau ab. So einem Blödmann geb ich so schnell keine Sinalco mehr aus. Mit der Mutter red ich auf jeden Fall.“

Dieter hatte Siggi an den Hosenträgern hochgezerrt, mit der einen Hand die Tür geöffnet und den Jungen mit der anderen Hand in den kleinen Hof geschoben. Siggi wollte losrennen, aber seine Beine waren schwach. Mühsam und schwankend stolperte er durch die Einfahrt. Als er aus dem Schatten in das heiße Sonnenlicht trat, kamen ihm die zwei Flaschen Limonade hoch, und er kotzte die Flüssigkeit und auch das Frühstück mitten auf den Gehweg.

Abends hatte Siggi dann alles seinem Vater gebeichtet. Dafür bezog er eine ziemlich derbe Tracht Prügel; Horsti fing sich ebenfalls eine Menge Ohrfeigen vom Lebensgefährten seiner Mutter ein. Nur Ebse wurde daheim nicht bestraft. Siggis Vater besuchte die Eltern der beiden anderen und schlug vor, Herrn Scholten den Schaden zu bezahlen und ihm klarzumachen, dass ein paar Rotzbengel sich nur einen dummen Scherz erlaubt hätten. Herr Lütges war erst bereit, dreißig Mark beizusteuern, als Siggis Vater drohte, die Polizei einzuschalten.

Siggis Vater erzählte ihm ein paar Jahre später, dass Herr Scholten gelacht habe. Dann habe er gesagt, dass alles nicht so schlimm sei, und dass er die Polizei nur wegen der Versicherung gerufen habe. Die Papiere seine sowieso unwichtig gewesen und neue Sitzbezüge hätte sein Torpedo damals grad gut vertragen können. Siggis Vater hatte den Neger dann noch auf ein Bier ins Café Friedchen einladen wollen, aber der habe abgelehnt. In Kneipen fühle ich mich nicht wohl, habe er gesagt, da werde ich angestarrt und wenn ich zurückstarre, kriegen die Leute Angst.

Im Jahr nach dem Überfall auf den Lieferwagen des Negers war Frau Kranz mit ihren elf Kindern (Elf Kinder von fünf verschiedenen Männern, hatte Siggis Mutter einmal gesagt) aus Siggis Haus in die Wohnung von Herrn Scholten ge¬zogen.
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Aber Siggi hatte immer noch Angst vor dem Neger. Der weiß doch, dass wir es waren, hatte er einmal zu Horsti gesagt. Klar, dass der nur darauf wartet, sich zu rächen. Horsti hatte ihm einen Vogel gezeigt. Aber Siggi sagte nur: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

Siggi linst um die Ecke des Hauseingangs. Jetzt öffnet Herr Scholten das Tor. Jetzt steigt er wieder in den dreirädrigen Lieferwagen. Jetzt fährt er rein.

Siggi will wieder loslaufen. Bekommt aber ein Stubser von hinten in die Rippen.
„Heh, du Schlafmütz, kreischt Renate, wo bleibst du denn? Bist schon ne halbe Stunde weg. Das war nicht ausgemacht!“
Siggi spuckt, mittlerweile routiniert, das Ei in die Hand.
„Ich musste hier warten, weil grad der Neger kam.“
„Alles Ausreden, du Feigling. Ich soll mit dir laufen und kontrollieren, ob du auch nicht das Ei rausnimmst. Haste aber schon. Wette verloren.“

Renate grinst, so dass Siggi die breite Lücke zwischen ihren oberen Schneide-zähnen sehen kann. Er mag besonders ihren Silberblick. Und dass sie oft wie eine Taube mit dem Kopf vor und zurück ruckt, weil sie so schlecht gucken kann und damit die Dinge schärfer sieht. Wenn sie ruckt, wippen ihre dicken Zöpfe vor und zurück. Und das mag Siggi ganz besonders. Außerdem ist Renate das einzige Mädchen, das genauso schnell rennen kann wie Ebse. Und der ist immerhin im Leichtathletikverein und trainiert im Sommer zweimal in der Woche.

Sicher, Renate ist ja auch schon zwölf. Und ein Jahr älter zu sein, heißt für die Jungs, fast erwachsen zu sein. Horsti ist auch schon fast zwölf, und er hatte Siggi vor ein paar Wochen gesagt, er sei in Renate verknallt.
„Was heißt das?“ hatte Siggi gefragt.
„Na, ich bin verliebt“, antwortete Horsti.
„Und?“ wollte Siggi wissen.
„Nix, und.“
Damit ließ Horsti ihn stehen.

Vielleicht bin ich auch in Renate verknallt, denkt Siggi jetzt, während Renate weiter grinst oder eher lächelt. Vielleicht heißt verliebt ja, dass ich mit ihr mal ins Lager bei Klever gehen kann. Knutschen hat ja was mit verknallt zu tun. Knutschen, weiß Siggi von Horsti, ist, wenn man sich küsst. Aber ganz hart und sich dabei umarmt oder sogar streichelt. Also nicht wie Eltern das mit ihren Kindern machen. Und Horsti hatte gesagt, sein großer Bruder habe ihm gesagt, das Beste wäre ein Zungenkuss, wo der Mann seine Zunge beim Küssen in den Mund der Frau steckt. Das fand Siggi ekelhaft.
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„Los, Mensch.“
Renate stubst ihn wieder in die Rippen. Siggi steckt das Ei in den Mund und setzt sich in Bewegung. Renate trabt neben ihm. Sie kommen an der Einfahrt der Schlosserei Klever vorbei.

Seit Herr Klever auf der Kreuzung von einem Schwerlaster überfahren worden ist, hält Frau Klever nur noch den Laden offen. Sie hat die Gesellen entlassen, Werkstatt und Lager sind geschlossen. Bei Frau Klever kann man Eisenwaren kaufen: Nägel, Schrauben, Schlösser, Scharnieren, Beschläge. Auch Werkzeug gibt es da. Schließlich kann man Schlüssel bei Frau Klever nachmachen lassen. Das erledigt sie selbst.

Früher war Frau Klever immer ziemlich lustig und entließ keinen Kunden ohne witzige Bemerkung. Auch die Gesellen in der Werkstatt freuten sich immer, wenn die Meisterin mit einem Korb belegter Brötchen kam und jeden mit einem derben Scherz bedachte.

Als Witwe war Frau Klever schweigsam und mürrisch geworden. Viele Kunden blieben weg und ließen ihre Schlüssel beim Schlüsseldienst auf der Jahnstraße machen. Das war zwar weiter weg und sogar ein bisschen teurer, aber man nahm das in Kauf, um nicht von der Schwermut der Frau Klever angesteckt zu werden.

Das Lager der Kleverschen Werkstatt ist ein Ort zum Verstecken. Ist man einmal in dem Schuppen am hintersten Ende des Innenhofs, kann man die Tür von innen verbarrikadieren und ist ungestört. Natürlich gibt es keinen Strom im Lager. Hinter den hintersten Regalen hatten sich die Gesellen aber noch zu Herrn Klevers Zeiten eine gemütliche Ecke eingerichtet, in der sie sich, wenn der Chef nicht da war, gerne ein bisschen aufs Ohr legten. Dort gab es eine abgenutzte Chaiselongue, deren ehemals weinroter Brokatbezug sich durch die öligen Blaumänner der Schlossergesellen in einen lederähnliche, harten Belag ver¬wandelt hatte, der immerhin die Ratten davon abgehalten hatte, sich von oben in das Möbel hineinzufressen.

Darauf, dass sich die Nager allerdings von unten durch Holzwolle und Rosshaar gefressen und Gänge und Nester angelegt hatten, ließen die vielfältigen Geräusche schließen, die man hören konnte, wenn man ganz still auf dem Sofa lag.

Neben der Liege gab es noch ein ehemaliges Aktenregal, darauf einen altmodi¬schen Kerzenleuchter aus Messing. Siggi und Horsti hatten dieses Refugium bei ihren Expeditionen durch die Höfe entdeckt und gleich mit Kerzen, Streichhölzer und einem Vorrat an Sigurd-, Akkim- und Tarzan-Heftchen gemütlich ausgestattet.
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Aber jetzt sind Siggi und Renate auch schon auf Höhe des Milchgeschäfts Nassenstein. Hier wird die Milch gekauft. Auch Siggis Mutter schickt ihn beinahe jeden Tag mit der Blechkanne los, einen Liter Milch zu holen. Siggi darf inzwischen selber pumpen, ein Privileg, das Frau Nassenstein Kindern einräumt, die regelmäßig kommen und artig sind – wie sie es nennt.

An der linken Wand des Ladens stehen drei glänzende eckige Behälter. Die metallische Oberfläche ist mit einem muschelförmigen Muster angeschliffen, das je nach dem Blickwinkel das Licht anders reflektiert. Ein Tank enthält Vollmilch, der zweite entrahmte Milch, und im dritten Behälter ist die Buttermilch. Auf jedem Metallbehälter ist ein gläserner Kolben angebracht, der von verchromten Streben gehalten wird. Feine blaue Striche im Glas teilen den Kolben in Abschnitte ein, von denen jeder einen Viertelliter fasst. Acht solcher Abschnitte gibt es, zwei Liter Milch können als auf einmal gezapft werden. Da, wo die Fassung des Kolbens in den Tank hineinführt, ist ein gut armlanger Hebel, ebenfalls verchromt, über eine Art Walze mit einem einfachen Mechanismus verbunden. Zieht man den Hebel aus seiner senkrechten Ausgangsposition ganz nach unten, strömt die Milch in den Glaskolben. Lässt man den Pumpenarm, der am Ende mit einer blauen Kugel, die Siggi gerne geklaut hätte, los, bewegt sich der Hebel langsam wieder nach oben.

Jeder Pumpvorgang bringt genau einen Viertelliter Milch in den Kolben, der mit einem Zapfhahn wie an einem Bierfass versehen ist. Hat Siggi einen Liter ge¬pumpt (Seine Mutter sagte immer: Lieber zweimal am Tag nur einen Liter holen als saure Milch im Pudding), ruft er Frau Nassenstein Einen voll! zu, worauf diese den Preis für einen Liter Vollmilch in die Registrierkasse tippt und an der Kurbel dreht. Siggi hängt die Milchkanne am Zapfhahn auf und öffnet das Ventil. Die Milch strömt aus dem Glaskolben in die Kanne. Schließlich reicht er der immer freundlichen, aber schweigsamen Frau Nassenstein das abgezählte Geld und geht.

Siggi und Renate gucken durch die Schaufensterscheibe ins Milchgeschäft. Da steht Frau Nassenstein gerade an den Milchtanks und reinigt einen der Glaskolben. Sie hat wie immer ein weißes Häubchen auf dem Kopf und eine weiße Schürze mit Spitzenbesatz umgebunden. Ihr enormer Busen steckt in einem himmelblauen Angorapullover.

Siggi will Renate was fragen, aber bevor er losredet fällt ihm das Ei in seinem Mund ein. Mädchen kriegen einen Busen, wenn sie erwachsen werden. Denkt er. Ob Renate auch einen so großen Busen kriegt wie Frau Nassenstein. Hätte er sie gerne gefragt. Geht aber nicht.
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Ein lautes Knattern springt von hinten durch die Corneliusstraße. Siggi dreht sich um und sieht das schwere Motorrad mit Beiwagen, das gerade durch die Unterführung braust. Der hat sicher sechzig Sachen drauf. Denkt Siggi. Das Motorrad hat nun Renate und Siggi überholt und vor dem Café Friedchen ange¬halten. Der Fahrer stellt das Gespann an der Bordsteinkante ab und klettert vom Sitz. Im Beiwagen hockt ein großer schwarzer Schäferhund.

Der Mann trägt einen bodenlangen Ledermantel und eine Ledermütze. Jetzt schiebt er die Schutzbrille hoch und schaut sich um. „Komm, Hasso“, ruft er, und der Hund springt aus dem Beiboot auf den Bürgersteig.

Renate bleibt abrupt stehen, und auch Siggi hält an. Der größte Schäferhund, den sie je gesehen haben. Schwarz wie ein Rabe. Schüttelt sich und bellt plötzlich laut. Der Mann lacht, der Hund springt an ihm hoch. „Platz, Hasso.“ Der Hund gehorcht.

Der Mann zieht Mantel, Mütze und Brille aus und wirft alles in den Beiwagen. Er trägt einen recht eleganten hellgrauen Anzug. Dazu ein schwarzes Hemd und eine schmale, gelbe Krawatte. Er greift den Hund am Halsband. Der Hund ist so groß, dass sich sein Besitzer nicht einmal bücken muss, als er das Tier zur Tür des Cafés zieht.

Renate starrt hinter Hund und Herrchen hinterher. Siggi sieht ihre Angst. Schweißperlen auf ihrer Oberlippe. Rote Flecken auf den Wangen. Sie zittert sogar ein bisschen.

Mit einer Kopfbewegung zeigt er ihr, dass es weitergeht.
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Wachtmeister Blümchen steht immer noch an der Ecke. Genau vor dem Eingang dieses Hauses. Ein hässliches Haus. Pissgelb. Nennt Dieter die Farbe der glatten Fassade. Fünf Stockwerke. In jeder Etage je fünf Fenster auf der Seite, die zur Corneliusstraße zeigt, und je vier Fenster auf der zur Oberbilker Allee liegenden Seite. Alle Fenster gleich groß und mit dem gleichen Abstand voneinander. In jedem Fenster rote Vorhänge. Manche Vorhänge sind zugezogen, manche nicht. Einige Fenster stehen offen, und in den Fenstern, die Arme im Rahmen abge¬stützt, liegen Frauen und schauen auf die Straße.

Die eigentliche Häuserecke ist im Erdgeschoß schräg abgeschnitten, die so ent¬standene Wand mit einer Doppeltür versehen, deren beide Flügel geöffnet sind. Dahinter sieht man den schweren, weinroten Vorhang.

Renate hält an und fasst Siggis Arm, so dass er auch zum Stehen kommt. „Komm. Spionieren.“

Siggi lässt sich mitziehen. Beide huschen in den Eingang. Nähern sich dem Schlitz im Vorhang. Im Halbdunkel sehen sie: Alles rot. Dunkelroter Teppich-boden und dunkelroter Bespannung an den Wänden. Lampen mit rotem Licht geben ein bisschen Helligkeit. Rechts eine gepolsterte Bank. Darauf sitzen vier Frauen in Unterwäsche. Eine Frau blättert in einer Illustrierten, die anderen drei rauchen und reden halblaut miteinander.

Renate und Siggi spüren je eine Hand auf ihren Schultern.
„Neugierige Katzen kriegen was auf die Nase, nicht wahr.“
Sie drehen sich um und schauen ins Gesicht von Wachtmeister Blümchen, der sie sanft an den Schultern gefasst hat und sie an sich vorbei aus dem Eingang schiebt. „Studieren ist besser als Spionieren, nicht wahr. Und nun ab durch die Mitte. Geht spielen.“

Die Beiden laufen los. Bei Oma Müsch vorbei, die Ziellinie schon in Sichtweite. Die anderen kommen ihnen entgegengelaufen. Nur Klein-Elke nicht. Die hat jetzt einen Lutscher, sitzt auf der Eingangsstufe im Eckhaus zur Hildebrandtstraße und guckt sich die Sache aus verweinten Augen an.

„Woher hast du den Lutscher?” fragt Renate ihre kleine Schwester, aus deren Mund der grüne Stil der Zuckerkirsche rausschaut.
Sie zieht den Lutscher raus, zeigt auf das große Mädchen, das mit zwei anderen Hüpfkästchen spielt und sagt: „Von Inge.“
Die dreht sich um und kommt die drei Schritte rüber. Renate sagt: „Warste wieder bei Überseekaffee klauen?“
„Muss man nicht klauen, kriegste doch geschenkt.“
„Ja, aber immer nur einen. Und ihr habt doch alle welche…“
nge hebt die Hand: „Du kriegst gleich eine!“
Sie ist das Größte aller Kinder, aber nicht die Älteste. Ihr Bruder Wolfgang ist zum Beispiel älter, aber der spielt ja auch nicht mehr auf der Straße.

Höchstens Fußball – auf der Fahrbahn der Zimmerstraße, direkt vor der Einfahrt zur Kaffeefabrik Bommer. Da dürfen Siggi, Horsti und Ebse bloß zugucken, die großen Jungs lassen sie natürlich nicht mitspielen. Obwohl Ebse wirklich prima kicken kann. Als die Cornelius-Jungs im Sommer gegen die Hildebrandt-Truppe auf der Ballonwiese im Volksgarten ein Entscheidungsspiel gewonnen hatten, da hat Ebse vier der acht Tore geschossen. Da durfte er mitmachen. Ungerecht ist das, fanden die drei Freunde.

Siggi verschluckt sich dauernd an seiner Spucke.
„Komm, nimm das Ding ruhig mal aus dem Mund“, sagt Renate, „gilded trotzdem.“
Er spuckt das Ei in die Hand und betrachtet es ganz genau. Könnte sein, denkt er, dass sich die Schale schon auflöst.
„Guck mal“, sagt er zu Renate, „löst sich schon auf.“
Die Vorstellung, das rohe Eiweiß könne sich in seinen Rachen ergießen, lässt ihn erschaudern.
„Quatsch“, sagt die Freundin bloß, „ist doch aus Kalk. So wie der Speis von den Maurern. Da kannste Häuser mit bauen.“

Vorhin haben sie noch gesehen, wie die Männer den Mörtel auf der Baustelle an der großen Kreuzung hochgetragen haben. Einer steht immer an der Mischmaschine und gibt Kalk und Kies und Wasser hinein. Irgendwann dreht er den Behälter um und lässt den fertigen Speis in eine Blechwanne fließen. Wenn die Arbeiter kommen, stellen sie ihre Tragebehälter ab, und der Mann an der Maschine füllt sie auf. Dann nehmen sie die Dinger, die aussehen wie Formen für den Marmorkuchen, den die Mutter oft backt, auf die Schultern. Vorne ist ein Griff, und mit der rechten Hand halten sie so den Behälter in der Waage. Sie haben einen Weg aus Brettern angelegt. Der führt vom Mischer quer über das Chaos der Steine und Geräte ins Haus hinein, von dem jetzt schon zwei Geschosse stehen. Hinten geht’s aufs Gerüst, wo die Maurer schon warten. Ab und an holt dann einer von denen neue Ziegelsteine. Die kommen auf ein Brett und werden dort mit einem Stück Seil gesichert.

„Altmodischer Kram“, sagt Siggis Vater immer, der ja Maurerpolier ist, aber eine Ausbildung als Betonbauer gemacht hat.
„Beton hat Zukunft“, hat er neulich beim Frühschoppen zu Herrn Schulz gesagt.
Aber der hat widersprochen: „Stein auf Stein ist solider.“
Vater hat nur gelacht und Herrn Schulz einen Doppelkorn ausgegeben. So oft nimmt er seinen Jüngsten am Sonntag nicht mit in die Kneipe, wo er hingeht, während die meisten anderen Männer in der Kirche sind. Aberglaube nennt er das, und Weihnachten wird in Siggis Familie nur gefeiert, weil die Mutter darauf besteht. Dann gehen sie auch alle in die evangelische Kirche an der Friedenstraße, die mitten zwischen den Wohnhäusern leicht nach hinten versetzt steht. Siggi friert da immer und langweilt sich, aber Mutti ist dann immer ganz gefühlig und weint sogar ein bisschen. „Um die verlorene Heimat“, sagt sie dann.

Sein Vater leitet gerade das Gießen der Decken eines Neubaus an der Oststraße. Siggi hat ihn da auch schon besucht, durfte aber nicht mit hoch: „Zu gefährlich“, hat der Vater gesagt und ihm dann genau erklärt, wie das geht.
Dass da zuerst die Eisenflechter kommen und die Moniereisen an die richtige Stelle und in die richtige Form bringen. Dass anschließend die Kanten durch Bretter angelegt werden. Dann kommt der Betonmischer.
„Da trägt aber keiner das Zeug auf dem Buckel hoch“, hat Vati ergänzt.
An der Baustelle hat man einen Kran aufgebaut. Der hat einen speziellen Behälter für den Beton am Haken.
„Passen genau zweieinhalb Kubikmeter rein“, hat Siggi gelernt.
Und wenn der Eimer – so nennt Vati das Ding – oben ist, öffnet der Vorarbeiter den Verschluss, und der Zement fließt zwischen die Eisen.
„Muss schnell gehen. Und man muss genau arbeiten“, hat der Vater betont, und Siggi hat gemerkt, dass er sehr stolz auf seine Arbeit ist.
„Wir Arbeiter bauen die Stadt wieder auf“, sagt er oft. Und Siggi findet, das stimmt.

Er findet komisch, dass die Spucke am Ei ziemlich schnell trocknet. Dann fühlt sich die Schale auch wieder ganz hart an. Vielleicht hätte er das Ei abwaschen sollen, bevor er es in den Mund nimmt. Aber das ist jetzt auch egal.
„Weiter?“ fragt er Renate, die ihn ja begleitet.
„Gut, auf zur zweiten Runde“, sagt die Freundin, und Klein-Elke fängt sofort wieder an zu flennen.


Marie guckt ganz sauer. Wahrscheinlich weil Renate mit Siggi läuft. Vielleicht ist sie eifersüchtig, denkt Siggi unterwegs. Wenn die Mutter in zum Einholen schickt, dann klingelt er immer bei Schulzens, ob Marie da ist und mitkommen mag. Dann schlendern sie gemeinsam die Corneliusstraße entlang, überqueren die große Kreuzung auf der Seite, wo die Morsestraße abzweigt und klappern die Geschäfte ab. Er kann sich gut mit ihr unterhalten, besser als mit Renate. Also ist Marie die bessere Freundin. Aber an Renate gefällt ihm was anderes, er weiß nicht so genau was.

„Erni, das heißt nicht Einholen“, sagt Herr Hinz immer, wenn die Mutter ihn losschickt, „man kann etwas einkaufen oder holen, aber doch bitte nicht diese Wörter vermischen.“
„Ach, Kurt“, antwortet Mutti, „das ist doch egal.“
Und Vati meint, der Herr Hinz sei ein Klugscheißer.
„Bitte, Männe“, kriegt er dann von Mutter zu hören, „das sagt man nicht! Ein Besserwisser ist das.“

Die Familie Hinz besteht aus Herrn und Frau Hinz und dem Sohn Rainer, einem Einzelkind, wie Mutti und auch Tante Ingeborg nicht müde werden zu betonen. Freunde hat der nicht. Auch weil der so gut wie nie auf die Straße zum Spielen durfte. Jetzt ist er eh zu alt dafür, denn er ist im gleichen Jahr geboren wie Siggis großer Bruder, und der spielt auch nicht mehr draußen.

Herr Hinz ist Beamter. „Der schiebt Tag für Tag Akten von links nach rechts und wieder zurück. Und poliert mit seinem Arsch den Bürostuhl“, hat der Vater schon ein paar Mal gesagt.
Die Stellung hatte er gleich nach dem Krieg bekommen, weil es so wenig Männer gab, die nicht belastet waren – so nannte Vati das: „Der war bei den Evangelen. Das fanden die Nazis nicht so gut. Dafür haben sie ihn ins Gefängnis gesteckt.“

Eigentlich hatte Herr Hinz Lehrer werden wollen, aber damit war es wegen seiner Religion ab 1933 Essig. Immerhin musste er nicht zur Wehrmacht. Erst Ende 44 habe man ihn zum Volkssturm eingezogen, hieß es. Und dass er am zweiten Tag desertiert sei und sich zu Fuß bis zu den Amis durchgeschlagen habe. Traut man ihm eigentlich nicht zu, denkt Siggi. Denn der Herr Hinz ist ein eher kleiner, sehr schmaler Mann, der eine dicke Brille trägt. Die steckt in einem dicken, schwarzen Gestell, sodass er immer aussieht wie ein Schweißer. Im Sommer steckt er sehr dunkle Sonnenschutzgläser auf, weil seine Augen so lichtempfindlich sind. Nie hat er die Augen von Herrn Hinz gesehen, und das ist ihm unheimlich.

Manchmal geht er mit seinem Bruder rüber zu Hinzens. Dann lernt er immer was, weil der Herr Hinz in seiner Freizeit Kreuzworträtsel löst und zu jedem gefundenen Wort gleich eine ganze Geschichte zu erzählen hat. Genau wie zu den Stücken in seiner Briefmarkensammlung. Er freut sich immer, wenn ihn Siggi was fragt. Wenn er weiß, dass sie zu Hinzens gehen, überlegt er sich vorher immer zwei, drei Fragen.

Frau Hinz ist ein bisschen größer als ihr Mann, sehr viel breiter und hat einen breiten Mund, der immer lächelt. Zu Wort kommt sie kaum, und wenn, dann sagt sie sinnlose Sachen wie Je, nun… oder Wer weiß, wer weiß…. Die Wohnung, in der die Familie Hinz lebt, ist winzig. Es gibt eine schmale Küche mit einem Sofa hinter dem Esstisch und ein Wohnzimmer mit einem Schrankbett. Rainer muss auf der Couch in der Küche schlafen. Immerhin gibt es einen Balkon, auf dem zwei Leute sitzen können. Das Klo ist eine halbe Treppe tiefer, und einmal in der Woche fahren die Hinzens in die Badeanstalt, um dort ordentlich zu baden.
„Bald ist es so weit“, sagt Herr Hinz manchmal, „dann ziehen wir endlich um.“
Schon seit Jahren hofft er auf eine Neubauwohnung, die ihm als Beamter der mittleren Laufbahn zusteht.

Da haben es Siggi, sein Bruder und die Eltern besser, denn deren Wohnung ist im Vergleich riesig. Das Haus haben Bauarbeiter wieder aufgebaut, die ein Unternehmen mit dem Versprechen in die Stadt gelockt hat, dass jeder für sich und seine Familie eine Wohnung in den ersten Häusern bekäme, die wieder bewohnbar gemacht würden. So landeten sie schon vor Siggis Geburt im Dachgeschoss der Nummer 118. Drei Zimmer gibt es, davon ist eines die Wohnküche, die freitags gleichzeitig als Badezimmer dient. Deshalb hat Vati auch den alten Kohlenherd drin gelassen. Kochen tut die Mutter auf einem modernen Gasherd, aber auf dem alten Ofen kann man prima das Wasser für die Badewanne heiß machen. Siggi und sein Bruder haben ein eigenes Zimmer, während die Eltern im Wohnzimmer schlafen.

Aber lange werden sie hier auch nicht mehr wohnen, und Siggi hat große Angst vor dem Umzug, weil er dann ja woanders wohnt und seine Freunde nicht mehr jeden Tag treffen kann. Der Vater hat nämlich bald eine neue Stelle. Bei einer Brauerei. Dort soll er den Wiederaufbau der Gastwirtschaften organisieren, die Renovierung der Brauereigebäude und den Bau eines neuen Wohnhauses, in dem der Brauereiausschank entstehen wird. Das ist ganz in der Nähe vom Vinzenzkrankenhaus, da wo Tante Ingeborg und Onkel Hans wohnen. Da fährt er manchmal mit den Eltern hin und ziemlich oft mit dem Bruder. Die Haltestellen der 4 kann er auswendig: Morsestraße, Fürstenplatz, Helmholtzstraße, Mintropplatz, Hauptbahnhof, Worringer Platz, Wehrhahn, Adlerstraße, Rochusmarkt, Schlossstraße, Lennéstraße, Sankt-Vinzenzkrankenhaus.

Jetzt sind Siggi und Renate gerade beim Schuster Voscht vorbei, der seinen Arbeitstisch ganz dicht am Schaufenster hat und bei der Arbeit ständig rausguckt. Peter heißt er und hat das Geschäft erst vor zwei Jahren von seinem Großvater übernommen, denn sein Vater ist im Krieg geblieben.

Frau Schulz sagt, der Schuster sei eigentlich ein Halbstarker, man solle sich doch bloß mal seine Frisur angucken. Und was er anhat, wenn er nach Feierabend oder am Wochenende ausgeht. Außerdem fahre der so einen komischen Motorroller, das täten doch nur diese Halbstarken, diese Unruhestifter und Tunichtgute. Da brächte sie ihre Schuhe nicht hin. Da laufe sie lieber ein paar Minuten länger bis zur Hüttenstraße, da gäbe es auch einen Schuhmacher.

Die Kinder mögen den Peter, weil der immer einen guten Spruch auf Lager hat und manchmal, wenn er in seiner Lederschürze und dem dunkelblauen Arbeitshemd vor der Tür steht und raucht, Lakritzschnecken an die Blagen verteilt.
Dann sagt er immer „Tuttifrutti, oldelutti!“ und grinst.

***

Und dann hören sie die Hildebande kommen. Man hört die bösen Jungs auf ihren Rollschuhen nämlich zuerst , wenn sie mit den Stahlrädern über das Pflaster ihres Reviers poltern. Erst dann sieht man sie: vier, fünf große Burschen, die sich Einkaufsnetze als Masken über die Köpfe gezogen haben.

Keiner weiß, wer sich darunter verbirgt. Ebse sagt immer: „Das sind dieselben, die ganz friedlich gegen die Cornelius-Truppe Fußball spielen.“
Siggi glaubt das nicht. Und hat großen Schiss vor den Kerlen, von denen jeder ein kurzes Vierkantholz in der Hand hält. Damit bedrohen sie alle Kinder und auch Jugendlichen, die es wagen, durch die Hildebrandtstraße zu gehen. Manchmal machen sie auch vor Erwachsenen nicht halt.

Allein schon wegen der Rollschuhe erscheinen sie größer als ihre Opfer. Außerdem machen sie merkwürdige dumpfe Geräusche, wie knurrende Rüden. So halten sie auf, wer ihnen in die Quere kommt, und kassieren Zoll. Horsti haben sie vor ein paar Wochen sein ganzes Taschengeld abgenommen.
„Fünf Mark! Futsch!“ hat Horsti gesagt und dann leise ein bisschen geheult.
Wer von den Corneliuskindern sich was Süßes bei Oma Müsch holt, macht deshalb immer sicherheitshalber den Umweg über die Oberbilker Allee.

Auch wenn niemand jemals wirklich von den Mitgliedern der Band geschlagen wurde, haben doch alle Angst, weil es immer wieder Gerüchte gibt.
„Den Wolfgang“, sagt dann wer, „den haben sie ins Krankenhaus geprügelt.“
Bald plappern alle das nach. Dabei ist der Wolfgang mit seiner Familie bloß weggezogen.

Jetzt stehen die Jungs auf den Rollschuhen vor Renate und Siggi. Eigentlich ist es mehr ein Grunzen, denkt sich Siggi und spuckt vorsichtshalber das Ei in die Hand. Im Halbkreis haben sie sich aufgebaut.
Der größte von denen spricht ihn an: „Her damit!“
„Mit was?“ stellt sich Siggi dumm.
„In deiner Hand.“
„Och, das ist bloß ein Ei.“
Die Kerle stecken die Köpfe zusammen. „Dann dein Süßkram!“
Siggi schüttelt den Kopf: „Hab nix, bin pleite.“
Einer mischt sich ein, der ein bisschen lispelt. Der spricht Renate an: „Dann deine Süßigkeiten!“
Die muss grinsen, wie er das Wort Süßigkeiten ausspricht und sagt bloß: „Auch nichts.“
Ein dritter schaltet sich ein, der etwas kleiner ist als die anderen aber doppelt so breit. „Was machst du mit dem Ei?“

„Ist ne Wette“, antwortet Siggi wahrheitsgemäß, „muss zweimal mit dem Ei im Mund um den Block laufen, dann hab ich gewonnen.“
Die Bande schweigt. So etwas Bescheuertes haben sie noch nicht gehört, die wilden Jungs.
„Um was geht’s?“
Siggi guckt Renate an, Renate guckt Siggi an; sie wissen es nicht mehr. „Na, um die Ehre“, antwortet Renate rasch.

Der Typ ganz links macht den Scheibenwischer: „Ihr habt sie doch nicht alle.“
Da guckt Peter gerade aus seiner Werkstatt, erkennt die Situation und kommt angerannt. „Haut bloß ab, ihr Arschgeigen!“ ruft er schon von Weitem.
Die Bande dreht auf den Rollschuhen um und macht sich davon.

„Na, alles im Lack, ihr zwei?“ Renate und Siggi nicken.
„Wir hatten ja nichts für die.“
„Und wenn“, sagt Peter, zieht eine Zigarette hinterm Ohr hervor, zündet sie an und nimmt einen Zug, „und wenn die euch nochmal aufhalten, ruft ihr einfach nach mir. Werdet sehen, wie schnell die abhauen. Miese Bande.“
Siggi überlegt: „Peter, weißt du denn, wer die sind?“
Der Schuster schüttelt den Kopf: „Wohnen wohl im Hinterhof von der Fabrik, da wo die Asozialen hausen. Pack, sag ich, Pack ist das.“
Sie bedanken sich. Siggi legt das Ei wieder in den Mund, und sie rennen weiter.

Einmal waren Siggi, Horsti und Ebse nachmittags in Peters Werkstatt. Der hatte da einen Plattenspieler und hat Rock’n’Roll-Platten aufgelegt und von der Kirmes erzählt. Wie er mit seinen Kumpels auf den Rollern rüber nach Neuss gefahren sind. Gut dreißig Leute seien sie gewesen. Da sei noch eine Rechnung offen gewesen mit so einer Rocker-Bande, alles Motorradfahrer; Ölschweine nannte Peter die.

Die anderen hätten mit ihren Bräuten an der Raupe rumgelungert, und sie hätten Quartier beim Autoscooter bezogen. Erst nach Mitternacht seien sie dann an der Raupe vorbeigezogen und hätten den Neussern Schimpfwörter rübergerufen. Peter hatte alle diese bösen Wörter für sie aufgezählt und so ihren Wortschatz bereichert. Horsti nannte seit dem Tag anderen Jungs im Zorn nicht mehr Blödmann oder Doofkopp oder so, sondern Arschgeige oder Arschgesicht. Jedenfalls habe sich eine prima Klopperei entwickelt. Und natürlich seien die mit viel mehr Mann gewesen, die Rocker. Trotzdem hätten sie die ganz schön fertiggemacht. Bis die Schmiere auftauchte. Blaulicht, Sirene, Trillerpfeifen, Gummiknüppel. Da seien sie aber geflitzt.

Siggi und seine Freunde wollten auch so werden. Auch Lambretta oder Vespa fahren und sich mit anderen Banden prügeln. Obwohl Siggi ja insgeheim Motorräder viel besser fand und diesen Kerl bewunderte, der fast jeden Tag mit seiner Vincent die Oberbilker Allee runtergedonnert kam. Ganz in schwarzem Leder, einen pechschwarzen Helm auf dem Kopf und eine Schutzbrille mit dunklen Gläsern an. Immer wenn er den sah, blieb Siggi stehen und schaute ihm nach.
Bis der Kradfahrer einmal anhielt, die Brille auf den Helm schob und ihm zuwinkte: „Na, mal ne Runde drehen?“
Aber da hatte Siggi natürlich schnell den Kopf geschüttelt, denn Mutti hat ihm eingeschärft, auf keinen Fall mit einem fremden Mann mitzugehen oder mitzufahren.
„Das sind Mitschnacker“, hatte sie gesagt, „die sperren dich ein und machen furchtbare Sachen mit dir.

Überhaupt sollte er im Straßenverkehr immer aufpassen.
„Denk an Hildegard!“ sagte die Mutter bei solchen Gelegenheiten.
Jedes Kind im Viertel kannte die schreckliche Geschichte von Hildegard. Die war eine Klasse über Siggi und hatte – wie sein Vater es ausdrückte – stinkreiche Eltern. Die fuhr nachmittags immer mit dem Bus zum Ballettunterricht, und Frau Krämer, seine Lehrerin hatte mal gesagt, die Hilde, die würde mal Primaballerina. Jedenfalls wohnte die auf der Pionierstraße, wo sie mit den Eltern und ihren vier Geschwistern ein ganzes Haus für sich hatte.

Eines Tages ging sie also zur Bushaltestelle am Fürstenwall und wartete direkt vor der Apotheke da. Plötzlich, so erzählte man sich, sei ein Auto mit hoher Geschwindigkeit die Corneliusstraße hochgerast, der Fahrer habe nach links in den Fürstenwall abbiegen wollen, sei ins Schleudern gekommen und habe Hildegard voll erwischt und gegen die Mauer gequetscht. Da seien ihr beide Beine gebrochen worden, und das linke habe man amputieren müssen. Da sei es mit der Tanzerei vorbei gewesen.

Siggi hat sich immer gefragt, ob es was geändert hätte, wenn Hilde auf die Autos geachtet hätte. Schließlich habe sie doch ganz ordentlich auf dem Bürgersteig gestanden und auf den Bus gewartet. Aber so sind Erwachsene eben: nie finden sie wirklich passende Beispiele, wenn sie einen warnen oder einem was verbieten.

Wobei Marie kürzlich wirklich beinahe unters Auto gekommen wäre. Wie sie so, ohne zu gucken aus der Hildebrandtstraße quer über die Corneliusstraße gerannt war. Genau in dem Moment kam so ein schwerer Wagen von der Erasmusstraße unter der neuen Unterführung durch. Und der musste so scharf bremsen, dass es quietschte und hinterher sogar Qualm aus den Radkästen kam. Siggi und Ebse hatten das genau beobachtet, weil sie auf der anderen Straßenseite bei den Trümmerhäusern standen und Marie zu sich gerufen hatten.

Der Fahrer war ausgestiegen. Ein schwerer Mann im schwarzen Mantel mit einem ungewöhnlich großen Hut. Marie stand ein paar Schritte entfernt auf der Fahrbahn, starr vor Schreck. Da ist der Fahrer zu ihr gegangen und hat sich ganz freundlich um sie gekümmert. Hat ihr sogar noch fünf Mark gegeben, bevor er weitergefahren ist. Fünf Mark! Natürlich hat Marie davon allen was Süßes spendiert. So hatte sich der Schreck am Ende sogar gelohnt.

***

Renate und Siggi haben jetzt auch die gefährliche Hildebrandtstraße hinter sich, und langsam wird’s langweilig. Wahrscheinlich haben die anderen Kinder die Wette längst vergessen. Vermutlich sind sie längst unterwegs in den Volksgarten, um auf der Ballonwiese oder am Weiher zu spielen und Unfug zu treiben. Aber Siggi nimmt die Sache immer noch ernst; schließlich geht es um die Ehre.

Sein Vater sagt immer: „Was man angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen.“
Hat sowieso viele solcher Sprüche auf Lager: „Ehrlich währt am längsten.“, „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er mal die Wahrheit spricht.“ und natürlich auch „Lügen haben kurze Beine.“
Überhaupt: Lügen hasst der Vater mehr als alle anderen Fehler, die Leute so machen.

Das hat Siggis Bruder im vergangenen Sommer hart zu spüren gekriegt. Da war er eines Tages nachhause gekommen und hatte zwei tolle Siku-Autos mit. So richtig aus Metall, ganz naturgetreu: einen 300 SL und einen ziemlich großen Lastwagen. Siggi hatte seine Autos dazu geholt, und dann hatten sie auf dem Boden in ihrem Zimmer gespielt. Natürlich hatte Siggi keine echten Siku-Modelle, bloß so billige Dinger aus Plastik, bei denen man kaum erkennen konnte, welche Wagen sie darstellen sollten. Dann kam der Vater rein, warf einen Blick auf das Verkehrschaos, zeigte auf den Mercedes und fragte meinen Bruder: „Wo hast du den her?“

Siggi wusste es schon, dass sein Bruder die Autos von Gerhard geschenkt bekommen hatte, einem der acht Schulz-Brüder aus dem Erdgeschoss. Die Schulzens bewohnten nicht nur die Parterrewohnung zur Straße hin, sondern auch den Teil im Anbau auf dieser Höhe. Denn zwei der Jungs waren schon erwachsen, brachten Geld mit nachhause und manchmal auch ihre jeweilige Verlobte und hatten natürlich eigene Zimmer. Die drei mittleren, so zwischen vierzehn und siebzehn Jahre alt, waren ziemlich böse Buben.
Kriminelle nannte der Vater die und sagte immer: „Die werden alle später Verbrecher und kommen dann ins Kittchen.“
Gerhard, den alle nur Gerd nannten, war der schlimmste von denen, denn der klaute wie ein Rabe.

Besonders gern und erfolgreich im Spielwarengeschäft Lütgenau auf der Graf-Adolf-Straße und bei Ziem in der Altstadt, wo es nicht nur Märklin-Eisenbahnen gab, sondern auch die schönsten Automodelle von Wiking und Siku und sogar von dieser Marke aus England: Matchbox. Immer hatte Gerd die Taschen voll mit Spielsachen: eben Automodelle, aber auch Cowboy- und Indianer-Figuren, Jojos und was sonst noch klein genug war, um es unauffällig stehlen zu können. Klemmen nannte er diese Tätigkeit.
„Hier, schenk ich dir“, sagte er dann zu den anderen Jungs in seinem Alter, „hab ich beim Defaka geklemmt“.
Durch die Geschenke war er natürlich zum Helden des Hauses und der Straße geworden.

Frau Schulz hatte vier Söhne mit in die Ehe gebracht, die sie von ihrem Mann hatte, der aber in Stalingrad geblieben war. Dann hatte sie Herrn Schulz kennengelernt, einen großen, schweren Mann mit tiefschwarzen Haaren, der nie viel sprach und angeblich über gewaltige Körperkräfte verfügte.
„Der schmeißt das Dreirad vom Neger mit einer Hand um“, hatte Uwe, der sechstälteste, der mit Siggi, Ebse und Horsti in dieselbe Klasse ging, mal gesagt.
Herr Schulz hatte ebenfalls vier Söhne. Die Mutter dieser Jungs, so munkelte man im Haus, sei auf der Flucht vor dem Russen angeschossen worden, habe sich dabei so ein Fieber geholt und sei dran gestorben.

Witzigerweise waren beide Parteien ungefähr im gleichen Alter, sodass es immer zwei Schulz-Jungs einer Größe gab. Aber man konnte leicht unterscheiden, wer von wem war, weil die Söhne von Frau Schulz alle ziemlich blond waren und die anderen schwarze Haare hatten.

Mutti und Vati waren auf diese Bande nicht gut zu sprechen und hatten Siggi und seinem Bruder praktisch verboten, mit denen zu spielen, ja, auch nur zu reden. Aber ein solches Verbot ließ sich kaum kontrollieren. Besonders wenn alle Corneliuskinder sich im Hof trafen. Wenn die ältesten Schulz-Söhne zuhause waren, dann öffneten sie die Fenster zum Hof und machten Quatsch, um die Pänz zu unterhalten. Und Hartmut, der Älteste, hatte immer Süßigkeiten zur Hand, die er großzügig verteilte.

Und jetzt stand Vati vor dem Bruder und schaute ihn böse an.
Der stotterte „Hab ich gefunden…“ und fing sich, zack, eine mächtige Ohrfeige
„Ich weiß genau, wo du die Dinger herhast. Vom Gerhard Schulz. Stimmt’s?“
Siggis großer Bruder konnte gerade noch vermeiden loszuheulen und schüttelte den Kopf. Und, wumms, hatte er eine auf der anderen Backe kleben.
„Du weißt, warum du dir die Maulschellen fängst, oder?“
Jetzt nickte der Delinquent.
„Weil du mich anlügst. Weil du mir frech die Unwahrheit erzählst. Ich frage nochmal: Woher hast du die Spielsachen?“
Siggis Bruder war in die Hocke gegangen, schniefte ein paar Mal und sagte dann ganz leise: „Vom Gerd.“
„Von wem?“ brüllte der Familienvorstand.
„Vom Gerhard Schulz, der hat allen was geschenkt, weil er Geburtstag hatte.“
Was ihm eine Kopfnuss eintrug: „Und warum hat Siggi dann keines von diesen teuren Modellen, wenn alle was gekriegt haben?“
Jetzt flennte der Bruder und stammelte was davon, dass der Gerd so viele Autos gehabt hätte, dass er die gar nicht alle hätte unterbringen können, und der Peter, der Wolfram, der Hans-Josef und der Klaus hätten auch welche gekriegt.

Tja, und dann musste Siggis großer Bruder auf der Stelle mit den Modellen runter gehen zu den Schulzens und sie zurückgeben und sagen, dass er keine geklauten Sachen annehmen dürfe.
Die Botschaft und die Autos nahm Herr Schulz schweigend an der Wohnungstür entgegen, wartete ein paar Sekunden und sagte dann zum Bruder: „Erzähl deinem Vater, dass er sich um seinen eigenen Scheiß kümmern soll. Sonst rummst’s.“
Und knallte Siggis Bruder die Tür vor der Nase zu.

Oben kassierte das Häufchen Elend dann noch eine lange Predigt, und tatsächlich nahm er nie wieder was von Gerd Schulz an. Inzwischen waren die Schulzens auch weggezogen. Nach Erkrath, hieß es, in ein Hochhaus. Und die beiden Ältesten, die seien ganz weggezogen aus der Stadt. Hermann fahre zur See, erzählte man sich, und Manfred sei zur Bundeswehr gegangen und habe sich auf zwölf Jahre verpflichtet.

Sie waren jetzt an der Einmündung zur Corneliusstraße angekommen, am neuen Haus mit der runden Ecke und den winzigen Balkons mit Blick auf die Bahngleise, wo Willi, Jörg und Reinhild wohnten, die gleich, nachdem sie hergezogen waren, Teil der Corneliuskinder geworden waren.
„Ich mach mal Schellemännchen“, krähte Renate und schellte bei den Familien der Spielkameraden.
„Nix wie weg!“ rief sie dann, und beide nahmen Tempo auf.

Gegenüber stand seit Tagen ein riesiger, dunkelblauer Bagger, an dessen Ausleger eine gewaltige Eisenkugel befestigt war. Damit riss der Baggerführer den Rest der Wand eines Hauses ein, dass innen nur noch eine intakte Etagendecke hatte. Der Fahrer hatte zwei Kollegen, von denen der eine mit einem Schlauch Wasser auf die Trümmer spritzte, um den Staub zu binden. Der andere hatte eine Schubkarre und sammelte die Brocken ein, die bis auf die Fahrbahn oder gar die Schienen der Straßenbahn flogen.

„Pünktlich wie die Maurer“, sagte Siggis Mutter immer, weil die drei Arbeiter dreimal am Tag auf die Minute genau Pause machten. Offensichtlich war er Mann im Bagger der Vorarbeiter, denn der zog ungefähr um drei Minuten vor zehn eine Taschenuhr raus und schaute so lange aufs Zifferblatt, bis es zehn war.
Dann stellte er die Maschine ab, rief „Pause!“ und kletterte aus dem Führerstand. Dann hockten die Arbeiter genau zwanzig Minuten lang auf Sägeböcken am Rand der Abrissstelle, aßen Butterbrote und tranken Kaffee aus Thermoskannen. Mittags dann Bier, und Siggi hatten denen schon mal Flaschen aus Dieters Lager gebracht und dafür von jedem einen Groschen gekriegt.

Die großen Jungs fanden schade, dass die beschädigten Häuser jetzt alle abgerissen wurden, weil die Trümmer so viele Möglichkeiten zum Spielen und Blödsinnmachen boten. Jetzt hatten sie sich im großen, grauen Kasten eingenistet, der im Krieg keinen Treffer abbekommen hatte, aber trotzdem abgerissen werden sollte, um Platz für die Verbreiterung der Corneliusstraße zu machen. Nur der Kolonialwarenhändler Lutter war noch drin, weil er mit seinem Laden erst im Winter in einen Neubau am Karolinger Platz würde umziehen können. Die Jungs hatten die Türen der Wohnungen aufgebrochen und Matratzen und kaputte Möbel rein geschleppt, um es sich gemütlich zu machen. Ganz oben hatte sich der Älteste der Familie Niersbach eingenistet. Der hatte einen Plattenspieler in seiner illegalen Wohnung. Und weil Ingo, der Elektriker, für Strom im Haus gesorgt hatte, hörte man nachts oft laute Rock’n’Roll-Musik aus dem Fenster im Dachgeschoss.

***

Wie immer, wenn sie die Corneliusstraße runterlaufen, bleiben sie am Schaufenster von den Griechen stehen, drücken die Nasen ans Glas und beschirmen die Augen mit den Händen. An der Eingangstür klebt ein Schild mit komischen Buchstaben: Καφετέρια. Siggis Vater hat gesagt, das heißt Kafenion, das sei griechisch, und da säßen auch immer nur Griechen drin und tränken Kaffee. Jetzt sitzen an den sechs Tisch gerade einmal zwei Männer, die irgendein Brettspiel spielen.
„So was wie Mensch-ärger-dich-nicht spielen die“, hatte Horsti mal gesagt, aber die anderen konnten nicht glauben, dass erwachsenen Männer den ganzen Tag lang Mensch-ärger-dich-nicht spielen könnten.

Wenn es warm ist, lassen die Griechen die Tür auf, und man hört eine sehr komische Musik aus dem Café. Im vorigen Sommer haben sie auch mal Stühle vors Schaufenster gestellt. Dort haben dann Gäste gesessen und Limonade getrunken, bis Wachmeister Blümchen kam und ihnen das verboten hat.

„Was machen denn die Griechen hier bei uns?“ hatte Siggi den Vater gefragt.
Der hatte ein bisschen rumgedruckst und dann geantwortet: „Weißt du, die konnten nach dem Krieg nicht in Griechenland bleiben, weil die auf unserer Seite gekämpft haben.“

Also waren das keine Gastarbeiter wie die Italiener in Gerresheim. Die hatte man, das wusste Siggi, geholt, weil Italiener gut Glas machen können und die Glashütte dringend Arbeiter brauchte. Ob die Italiener von der Eisdiele an der Helmholtzstraße auch Gastarbeiter waren, wusste er nicht, aber wahrscheinlich schon.

Die Gäste im Kafenion lassen sich von den Kindern nicht stören. Aber mal hineinzugehen und was zu fragen, traut sich keines von den Pänz.
„Man weiß ja nie“, hatte Marie gesagt und eine unsichere Handbewegung gemacht.

Dann kommen sie am Haus vorbei, in dem Siggi wohnt, an der Schlosserei Klever und am Milchgeschäft Nassenstein. Das Café Friedchen hat leider noch zu. Denn da dürfen alle Kinder gern reinschnuppern, und die Wirtin mit den dicken Oberarmen, die gar nicht Friedchen heißt, hat extra ein Bonbonglas neben der Kuchenvitrine, aus dem jeder was kriegt.
Und immer sagt sie dann: „Nu iss aber genug. Jetzt aber raus mit euch.“
Und die Blagen verlassen unter lautem Gebrüll das plüschige Café. Fast alle Väter im Häuserblock sind mit Friedchen befreundet und gehen regelmäßig dahin.
Siggis Mutter hat mal zu Tante Hedwig gesagt, „Mir ist lieber, Martin geht ins Café als zum Saufen in der Kneipe.“
Als ob der Vater bei Friedchen keinen Alkohol trinken würde…

Am tollsten war es für die Jungs als sie mit ihren Vätern ins Café gehen durften, um dort ein Länderspiel im Fernsehen zu gucken. Denn Friedchen war eine der ersten, die sich so eine Flimmerkiste angeschafft hatte. Der stand auf einem Brett über dem Eingang, und wenn man was am Kasten einstellen musste, dann holte sich einer der Männer einen Stuhl, stieg hinauf und drehte an den Knöpfen. Außerdem musste ein Freiwilliger den Fernseher ja auch an- oder ausschalten.

Die Wirtin war zu klein dafür, die kam nicht mal an den Schalter, wenn sie auf einen Stuhl kletterte. Deutschland spielte gegen Österreich, und es ging irgendwie um die Weltmeisterschaft in Chile. Es war für Siggi, Horsti und Ebse das erste Länderspiel, das sie sehen durften. Vorher hatte Siggi ein paar Mal Ausschnitte in der Wochenschau im Ali im Hauptbahnhof gesehen. Während der Weltmeisterschaft in Schweden hörte der Vater alle Übertragungen im Radio, und dabei durfte ihn niemand stören.

Seit Neustem hatte Frau Heisterkamp aus der dritten Etage einen Fernsehapparat. Auch sie war Witwe, hatte keine Kinder und war meistens allein. Nur der Rehpinscher Fido leistete ihr Gesellschaft. Mit dem ging sie immer nur im Dunkeln Gassi, weil der sonst alles ankläffte, was vorbeikam. In der Wohnung war der winzige Rüde still.

Sein Frauchen hatte den Kindern aus dem Haus gesagt, sie könnten gern zu ihr kommen, wenn das Kinderprogramm liefe, und bei Sport, Spiel, Spannung mit Samy Drechsel, Klaus Havenstein und Heinrich Fischer war die Bude immer voll. Siggi war total begeistert von Armin Dahl, diesem Artisten oder Akrobaten, der ganz gefährliche Sachen machte und dabei auch noch lachte. Einmal war der von einem riesigen Kran im Hamburger Hafen uns Wasser gesprungen, aus über dreißig Metern Höhe! Die Mädchen mochten mehr so die Micky-Maus-Filme.

Onkel Hartmut war ganz stolz darauf, dass der Armin Dahl sein Schulfreund aus Stettin war. Und wenn Siggi ihm von dessen neuesten Mutproben berichtete, dann sagte der Onkel immer: „Ja, sieh mal, der Armin. Wer hätte das gedacht…“

So mutig war Siggi nicht. Horsti, dem war so etwas zuzutrauen. Der war sportlich und kletterte im Volksgarten auf die höchsten Bäume.
„Werd doch auch Artist oder Akrobat“, hatte Renate ihm vorgeschlagen, aber Horsti hatte abgewunken und nur geantwortet: „Ne, ich will lieber hundert Jahre alt werden und das Jahr 2000 noch erleben.“
Dass er dafür nur etwas mehr als fünfzig Jahre alt werden müsste, hatte er übersehen. Aber Rechnen war auch nicht so seine Stärke. Irgendwann schaffte sich Onkel Hartmut auch einen Fernseher an, und danach gingen sie nicht mehr zum Fußballgucken ins Café Friedchen.

***

Langsam wird’s langweilig. Fast eine Stunde sind Siggi und Renate jetzt schon unterwegs. Wahrscheinlich hat Horsti längst vergessen, dass sie gewettet haben. Das Ei im Mund wird schwerer und schwerer, Siggis Zunge ist schon ganz lahm, und er hat einen Mordsdurst.
„Pause“, signalisiert er seiner Begleiterin.
Genau an der Ecke Corneliusstraße zur Oberbilker Allee, vor dem Eingang zu dem, was der Vater Freudenhaus nennt, bleiben sie stehen. Siggi nimmt das Ei aus dem Mund und steckt es vorsichtig in die Hosentasche:
„Boah, ich kann nicht mehr.“
Renate grinst: „Schlappschwanz. Die lachen dich aus, wenn ich denen erzähle, dass du aufgeben wolltest.“
„Wer will aufgeben? Ich nicht! Hab bloß Durst.“

Wachtmeister Blümchen, der eigentlich Schumacher heißt, regelt den Verkehr auf der Kreuzung. Immer wenn die 4 von der Cornelius- in die Morsestraße fahren muss, hält er alle Autos und Fußgänger aus allen Richtungen an. Wer nicht sofort stoppt, wird mit der schrillen Trillerpfeife zur Ordnung gerufen.

Warum alle den Schutzmann Blümchen nennen, weiß eigentlich keiner. Angeblich hat ihm Oma Müsch diesen Spitznamen verpasst. Sie streitet das ab und sagt dann: „Wüsste nicht warum.“ Herrn Schumacher ist das egal, solange ihn trotzdem alle im Viertel ernstnehmen. Und das tun die Leute, denn der Wachtmeister ist eine Respektsperson, auf den sogar die Rocker und die Halbstarken hören.

Siggis Vater hat Herrn Fischer mal erzählt, Schumacher sei direkt nach dem Kriegsende zur Polizei gekommen, obwohl er eigentlich Schreiner gelernt hat. Er sei unter Rommel in Afrika gewesen und praktisch sofort nach der Ankunft beim allerersten Gefecht mit den Engländern (Der Vater sagt …mit dem Tommy so wie er auch …gegen den Iwan sagt) in Gefangenschaft geraten. Von Oktober 1940 bis Herbst 1945 sei er in einem Lager in Amerika gewesen, in Oklahoma. Und weil er schon als junger Mann eine Respektsperson war, wurde er dort gleich Barackenältester, also Sprecher seiner Kameraden. Dann sei er Anfang 1946 mehr oder weniger aus Versehen in der Stadt gelandet und habe sich bei den Briten als Polizist beworben. Und die haben ihn genommen.

Beim Verkehrsregeln trägt Wachtmeister Blümchen im Winter einen weißen Mantel, jetzt hat er nur schneeweiße Stulpen und Handschuhe an, damit man seine Armbewegungen schon von Weitem erkennen kann. Die Ecke ist mit Pfählen und Ketten gesichert, damit keiner quer über die Kreuzung rennt. Und an einem Pfahl hat der Polizist immer seine Falsche Sprudelwasser stehen. Die stellen ihm die Leute aus dem Block immer hin, wenn es so warm ist, dass er Durst kriegen könnte.

Heute steht eine halbvolle Flasche da. Siggi würde gern einen Schluck nehmen, aber kann doch keinen Schupo beklauen! Genau in dem Augenblick macht Herr Schumacher Pause und kommt zu ihnen rüber.
„Na, Siggi, alles im Lot?“
Der Junge nickt heftig, und Renate deutet zur Begrüßung einen Knicks an. Wachtmeister Blümchen nimmt einen Schluck aus der Wasserpulle.
„Und, was macht ihr so?“
Da erzählen ihm die Kinder die Geschichte von der Wette. Siggi endet: „Und jetzt hab ich einen Mordsdurst.“
Da hält ihm der Wachtmeister die Flasche hin und sagt: „Hier, trink was.“

Zwei Häuser weiter steht seit Kurzem einen Neubau, in dem noch gar nicht in allen Wohnungen Leute sind. Dafür hat der Laden im Souterrain schon eröffnet. Eigentlich ist das wohl so eine Reparaturwerkstatt für Nähmaschinen, aber Siggis Mutter hat gesagt, dass die wohl auch Gebrauchte für ziemlich wenig Geld anbieten und dass sie da mal reinschnuppern wird, weil sie sich schon lange eine Nähmaschine wünscht.

Der Vater hat kurz gegrunzt, und sie hat noch gesagt: „Denk mal, Männe, was wir sparen, wenn ich selbst die Sachen für die Kinder ändern kann.“
Einmal waren Siggi, Horsti und Ebse drin in der Werkstatt, die im Halbdunkeln liegt, weil das Schaufenster zur Hälfte unterhalb vom Bürgersteig liegt und zudem komplett mit Maschinen vollgestellt ist. Vorne war niemand, und ganz nach hinten hatten sie sich nicht getraut, denn es hieß, der Besitzer sei ein ziemlich böser Mann, der Kinder hasse.

Jetzt sind es nur noch wenige Meter bis zum Laden von Oma Müsch. Dann hat Siggi es geschafft und die Wette gewonnen. Na ja, solange Renate nicht petzt. Als sie an der Ecke ankommen, ist da niemand. Alle Kinder sind weg.
Schnell springen sie ins Geschäft: „Oma Müsch, wo sind die anderen alle?“
Die beugt sich über die Theke und sagt: „Im Park, ihr Tungusen, spielen, was sonst?“
Siggi hält ihr das Ei hin: „Danke fürs Ausleihen.“
Die Ladenbesitzerin kratzt sich am Hinterkopf, guckt auf das Ei, dann auf Siggi: „Glaubst du , das nehm ich zurück? Das ist ja ganz besabbert. Das musst du jetzt kaufen.“
Und grinst dabei wie ein freches Kind. „Acht Pfennige, bitte.“
„Aber ich hab doch kein Geld. Krieg ich doch erst von Horsti.“
Da lacht die alte Frau laut und ruft: „Reingefallen! Ne, ne, ne, kannste behalten, das Ei. Hab ich genug von.“

Schnell rennen sie jetzt die Oberbilker Allee runter, rechts in die Ringelsweide, links an der Düssel entlang, über den Hennekamp und rein in den Volksgarten. Zwischen der Ballonwiese und dem Niemandsland ist gerade ein spannendes Räuber-und-Gendarm-Spiel im Gange, und sie können sogar noch mitmachen. Von der Wette redet an diesem Tag niemand mehr. Nicht einmal als sie alle später am Büdchen an der Emmastraße stehen und sich zwei Flaschen Kugelwasser teilen.

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