Stabile Seitenlage

Zwei Drittel meines Blickfelds nimmt ein schillerndes Grau ein. Etwas wie ein rissiger Estrich. Ich liege auf der Seite, der Kopf auf der linken Wange. Oben bewegen sich unscharfe Menschen. Hören kann ich nichts, weil da ein stetiger Pfeifton in meinen Ohren ist. Versuche die Leute zur Hilfe zu rufen. Strenge mich an, aber aus meinem Mund kommt nur ein verschwommenes Raunen. Dann mein linker Arm, steckt unter meinem Körper fest. Ich spüre nichts unterhalb des Ellenbogens. Versuche ihn trotzdem hervorzuziehen. Bin ich gelähmt? Was ist gebrochen? Es riecht nach frischem Blut. Meine Erinnerung: Wie ich unter dem Hallendach über die Streben klettere.

Ein hoher leerer Raum mit lichten Wänden oder geöffneten Schiebetüren. Warum sieht mich keiner? Ich kann mein rechtes Bein bewegen. Schmerz beißt mir in den Unterleib. Es tut gut zu atmen, tief einzuatmen, langsam auszuatmen, die Lunge arbeitet einwandfrei. Finde die Kontrolle über meine rechte Hand zurück, taste mein Gesicht ab. Halte mir die Hand vor die Augen. Alles voller Blut. Wo liegt meine Waffe? Ist die mit mir abgestürzt? Jemand geht vor mir in die Hocke, ein Mann mit blauer Hose. Sein Gesicht erscheint in meinem Blickfeld. Er scheint mich anzusprechen. Ich kann ihn nicht hören und probiere seine Lippenbewegungen zu verstehen.

Plötzlich viele weiße Beine vor mir. Jemand tastet meinen Hinterkopf ab. Jemand spritzt mir eine Flüssigkeit in den Mund. Dann drehen und schieben sie mich. Ich sehe das schwarze Dach, die T-Träger, die Laufstege, die Verstrebungen und die Spanndrähte. Sie kreuzen meine Arme vor der Brust und heben mich an. Man legt mich auf eine Trage. Ein Ruck, sie bewegen mich. Dann der Krankenwagen, die Ärztin. Chrom und Rot und Weiß. Wieder versuche ich etwas zu sagen. Zwei Gesichter über mir. Weit, weit weg das Martinshorn. Und dann schlafe ich ein.

Malia sitzt sehr aufrecht auf einem Stuhl neben meinem Bett und schläft. Sie hat die Handflächen gleichmäßig auf beide Oberschenkel gelegt. Wie immer ist sie ganz in Beige- und Brauntönen gekleidet, eine Sonnenbrille dient als Haarreif. Anscheinend bin ich in einer Maschine untergebracht. Chrom, Glas und Weiß um mich herum, Schläuche, Kabel, Display. Es fiept leise, und ein Gerät schnarcht. An der Tür stehen zwei Security-Typen in Schwarz. Ich schließe die Augen bis auf enge Schlitze, damit sie nicht bemerken, dass ich wach bin. Meine Hände scheinen gefesselt zu sein, meine Beine auch. Man hat meinen Kopf so fixiert, dass ich ihn maximal um fünfzehn Grad in jeder Richtung drehen kann.

An den Fall und den Aufprall kann ich mich nicht erinnern, aber an den Moment davor. Sehr konzentriert war ich auf dem dunkelblau lackierten Stahlrohr vorwärts gekrochen, so wie wir es in der Ausbildung gelernt haben. Dann hatte ich die angestrebte Position erreicht. Hier war das Rohr durch zwei kantigen Träger mit der Deckenkonstruktion verbunden. Ohne hinzuschauen nahm ich die Waffe aus ihrem Köcher auf meinen Rücken und beobachtete dabei die Menschen in der Halle. Und dann traf mein Blick auf ihren Blick. Malia hatte mich entdeckt und fixiert. Ich erschrak, versuchte das Gewehr zu halten, das dabei gegen den Träger schlug. Der Impuls nahm mir das Gleichgewicht.

Meine Hände sind frei, aber unter der festgesteckten Bettdecke gefangen. Wenigstens habe ich in der Rechten genug Kraft, sie langsam hervorzuziehen. Nichts schmerzt, zu wenig tut weh. Was ist mit den Beinen? Ich versuche, die dicken Zehen an beiden Füßen zu bewegen. Auf der linken Seite gelingt es mir nicht. Rechts scheint es zu klappen. Habe ich überhaupt noch ein linkes Bein? In abzählbaren Zeitabständen spüre ich die Wirkung einer Substanz, die man in mich hineinpumpt. Wie heißes Wasser in den Adern. Der eine Wachmann räuspert sich. Ich kann also wieder hören.

Wenn es hoch kommt, habe ich mich in meinem Leben vielleicht dreimal verliebt. Die erste war meine Englischlehrerin auf dem Internat. Gleichzeitig die erste Frau, bei der ich so etwas wie ein Begehren fühlte, körperliches Verlangen. Sie nahm es für die typische Schwärmerei eines Mädchens. Mit vierundzwanzig traf ich Li, und wir wurden ein Paar. Es war diese befürchtete Liebe auf den ersten Blick, bei uns beiden gleichzeitig. Wir sahen uns, und wir wollten einander. Es war immer einzigartig und grandios mit ihr Sex zu haben. Uns war nach wenigen Wochen klar, dass es für keine von uns jemals besser werden würde. Nach weiteren Monaten erkannten wir aber auch, dass ein gemeinsames Leben nicht möglich wäre. Ich erwog kurz, sie zu töten, ließ sie dann aber ziehen – wohin auch immer Li gegangen sein mag.

In meinem Beruf ist es besser, keine tiefergehenden Beziehungen zu anderen Menschen zu haben. Das brachten sie uns bei, das bläuten sie uns ein. Man lehrte uns, Menschen nur zu benutzen, um die eigene Kampfkraft zu erhalten. Mir machte es nicht aus, einsam zu leben. Und wenn das Bedürfnis nach Sex so groß wurde, dass es mich angreifbar machen konnte, dann fand ich immer eine Frau, ein Mädchen, notfalls auch einen Kerl, der es mir besorgte. Schnell, erfolgreich, unwiederholbar.

Der eine Mann hat das Zimmer verlassen, der andere bückt sich, um seine Wasserflasche zu greifen. Mit einem Ruck ziehe ich die rechte Hand hervor und halte sie mir kurz vor die Augen. Keine sichtbare Verletzung. Malia macht ein leises Geräusch und bewegt sich millimeterweise auf der Sitzfläche. Gleich wird sie aufwachen. Sie wird mir helfen, den Wachmann auszuschalten. Sie würde mir in jeder Situation helfen. Sie ist genauso abhängig von mir wie ich von ihr. Auch wenn sie in diesem Fall meine Auftraggeberin ist. Wir begegneten uns bei einem Rockkonzert, bei dem sie so völlig deplatziert wirkte, dass man meinen konnte, sie sei nur anwesend, um den anderen Besuchern ihre Banalität vorzuzeigen. Man trug Jeans und schwarzes Leder mit farbigen Accessoires. Malia hatte ein minimalistisch geschnittenes Kleid an, das ein florales Muster auf einer Art Morgenröte zeigte. Kurz, kaum bis zum halben Oberschenkel. Dazu flache Schuhe im Stil der Fünfzigerjahre und tatsächlich einen strahlend roten Turban.

Um ehrlich zu sein: Auch mein Outfit folgte an jenem Abend nicht dem Dresscode. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte ich mich für einen dunkelblauen Overall entschieden, der zwar aussah wie von einem Automechaniker, aber tatsächlich ein nicht ganz billiges Designerteil war. Wir trafen ganz links außen aufeinander und starrten uns an. Wir konnten die Blicke nicht einmal voneinander lösen als die Band mit ihrem rasend schnellen und scheppernd lauten Hardcore-Lärm begonnen hatte. Mitten im dritten Song drehte sie sich im Gehen halb weg und bedeutete mir mit einer winzigen Bewegung der Hand ihr zu folgen.

Eine Krankenschwester betritt das Zimmer und macht sich an den Maschinen zu schaffen, ohne mich zu beachten. Malia öffnet die Augen und bemerkt sofort, dass ich nicht mehr im Koma liege. Die entscheidende Frage ist: Kann ich auf eigenen Füßen laufen? Falls ja, dann kommen wir auch raus. Natürlich wird sie eine Waffe bei sich haben. Es kommt auf den richtigen Zeitpunkt an. Wie es immer auf den richtigen Zeitpunkt ankommt. Der Tag, an dem sie mir ihren Auftrag erteilte, was aus vielen Gründen nicht der richtige Zeitpunkt, und ich hätte ablehnen sollen. Ihr ging es um das Geld, mir darum, ihr zu gefallen. Aber es wäre auch so gegangen, denn der Mann, der sie aushielt, hätte es auch ertragen, wenn sie ihn mit mir betrogen hätte.

Um die Ecke stand eine ungewöhnliche Limousine, und der Fahrer hielt ihr die Tür auf. Sie wartete auf mich. Das Penthouse schwebte über der funkelnden Stadt. Wir hatten noch kein Wort gewechselt. Sie zog sich aus und presste ihren nackten Leib an die deckenhohe Fensterscheibe. Ihr Haar war kurzgeschnitten und vielfarbig. Ich betaste ihren Rücken, und sie spreizte leicht die Beine. Das Appartement bestand aus einem einzigen großen Raum, in dessen Mitte ein Bett stand. Später schaltete sie alles Licht aus, und nur die Reflexe der Nacht erhellten unsere Körper.

Nie steht sie einfach auf und geht durch ein Zimmer: Malia erhebt sich und schreitet durch den Raum. Dann beugt sie sich hin zum Security-Mann und flüstert ihm etwas zu. Der nickt ein paar Mal und verlässt meine Krankenstation. Sie hilft mir in eine aufrechte Position. Mit der Rechten ziehe ich die Kabel und Schläuche ab, die mich mit der Krankheitsmaschine verbinden. Sie hebt meine Beine und dreht mich, sodass ich auf der Bettkante sitze. Das Gefühl in beiden Beinen ist da. Ich kneife mich in beide Oberschenkel und spüre den Schmerz. Nur die Füße scheinen noch taub zu sein. Malia holt ein Kleidungsstück aus ihrer großen Umhängetasche, die neben dem Stuhl steht. Einen Overall ganz ähnlich wie den von unserer Begegnung. Sie hilft mir, die Klinikkleidung abzulegen und in das dieses Mal hellgraue Teil zu steigen. Dann zieht sie mir leichte Sneakers an. Mit ihrer Hilfe stehe ich auf eigenen Füßen, die mir aber kaum Rückmeldung geben.

Kein Wort haben wir bisher miteinander gewechselt. Mit jedem Schritt erlange ich mehr Kontrolle über meine Beine. Wir sind durch die Tür, und ich sehe gerade noch, dass zwei Wachleute aus der entgegengesetzten Richtung durch den Gang kommen. Wir biegen ab und landen am OP-Aufzug. Was hat sie vor? Wird sie mich in Sicherheit bringen? Oder entführen? Wartet unten ein Fluchtfahrzeug, dass uns zu seinem Helikopter bringt, mit dem wir außer Landes geflogen werden? Hat sie einen Privatjet bereitstellen lassen? Werden wir auf einer kaum bewohnten Insel landen, wo sie ein einsames Haus für uns zwei vorbereitet hat? Ein Liebesnest oberhalb des Strandes auf kühnen Klippen. Sie könnte bereits falsche Papiere bei sich tragen für uns beide. Sie würde meine Haare abschneiden und ihre wachsen lassen, sich schwarz färben und aus mir eine Blondine machen.

Es gäbe eine Ärztin und zwei Krankenschwestern für mich ganz allein. Malia und ihre Helferinnen würden mich gesund pflegen, sodass ich ganz wiederhergestellt sein würde. Ohne Spuren des Sturzes. Ich könnte wieder mit dem Training beginnen und mir nach und nach alle Fertigkeiten zurückholen, die ich durch den Unfall verloren habe. Und dann würde ich mit ihrer Ausbildung beginnen. Ganz langsam und sorgfältig. Würde mit dem mentalen Training beginnen, dann ihre physischen Möglichkeiten aufbauen, ausbauen, erweitern und optimieren. Sie würde das Schießen mit allen möglichen Waffen lernen. Wir würden zu Übungen in die großen Städte reisen. Alles finanziert aus dem Vermögen ihres Gatten. Und dann wären wir das beste Team unserer Branche. Man würde uns nur die besonders schwierigen und gefährlichen Aufträge bieten und enorme Honorare. Die Präsidenten, Minister, Päpste, Führer, Manager und Reichen dieser Erde würden uns fürchten. Und wir blieben ganz cool dabei, außer in den Stunden, wenn wir uns lieben.

Ich sehe die graue Decke des Fahrstuhls mit den quadratischen und vergitterten Leuchtkästen. Ein Warnton schrillt, in der Ferne schreien Menschen. Meine Hände in einem See von Blut. Der Schmerz ist spitz und stark. Die erste Salve trifft Malia, die mich im Fallen zu Boden reißt. Ihr Körper bietet meinem Schutz. Aber sie schießen weiter, immer weiter, und dann dringen die Kugeln durch zu mir. Trefen mich in die Beine, in den Unterleib, in die Brust. Ich werde jetzt auch sterben.

Schreibe einen Kommentar