Wietten und die Tilde (Schluss)

Gerti wollte nachholen. Wollte alles und das sofort. Und vor allem ein Kind von ihm. Denn sie war schon beinahe fünfzig und zählte die Tage bis zum Ende ihrer Fruchtbarkeit. Jensen hat drei oder vier Kinder. Zwei aus der ersten Ehe, eins aus der zweiten. Die Große dürfte inzwischen auch schon gut fünfzig Jahre alt sein. Er hat keinen Kontakt mit ihr und den beiden anderen Töchtern auch nicht. Sie haben nie nach ihm gesucht, er nicht nach ihnen. Ob der Sohn, den Renate vor dreißig Jahren geboren hat, von ihm war, stand nicht fest. Er hatte zwanzig Jahre lang ungefragt und freiwillig Unterhalt gezahlt, lehnte es aber ab, dem Jungen ein Vater zu sein. Und mit Mitte Sechzig wollte er schon gar nicht noch einmal mit Nachwuchs konfrontiert sein. Gerti nahm ihm das übel. Wie sie ihm auch übel nahm, dass er sie nicht auf jede seiner vielen beruflichen Reisen mitnahm. Sie fand dann nach ein paar Jahren, dass Alkohol doch eine Lösung sein könnte. Die Psychosen kamen schleichend, und Jensen merkte nur, dass irgendetwas nicht mehr in Ordnung war. Sie schrie ihn nun beinahe jedes Mal an, wenn er daheim war. Weinte und kreischte und warf mit Gegenständen.

Das bezeugten die Nachbarn, nachdem man sie im Park gegenüber erwürgt aufgefunden hatte. Wietten hatte kein Alibi, aber nach Ansicht des zuständigen Kripobeamten und des Staatsanwaltes genug Gründe. Weil er so viel auf Reisen war, hielt man das Risiko für groß, er könne flüchten, und nahm ihn in Untersuchungshaft. Er beschloss, keinerlei Aussagen zu machen und vertraute die Verteidigung seinem Freund Dieter an, einem Rechtsanwalt, der eher im Wirtschaftsrecht zuhause war, aber alles daran setzte, ihn aus dem Gefängnis zu holen und einen Prozess zu verhindern. Acht Monate verbrachte Jensen in Haft. Die meiste Zeit in einer Zwei-Mann-Zelle zusammen mit Peter, einem Engländer, dem man vorwarf, sich in den Server einer Investmentbank gehackt zu haben, um dort ein paar Millionen auf sein Konto auf den Caymans umzuleiten. Sie befreundeten sich sehr miteinander, und Peter schlug ihm vor, ebenfalls ins IT-Geschäft einzusteigen.

Es war schwierig mit Gerti, beantwortete er also ihre Frage. Sie hatten die Schnellstraße nach Süden erreicht und O. beinahe schon passiert. Kannst du mich am Flughafen absetzen, fragte sie. Sie habe genug vom Autofahren und wolle lieber nach K. fliegen. Dort könnten sie sich ja treffen. Wietten stimmte zu und brachte sie zum Airport. Er parkte in der Nähe vom internationalen Terminal und versuchte, einen Abschied zu finden. Sie kam ihm zuvor.

„Du könntest mich jetzt aufhalten, mein Lieber. Denn auf diesem USB-Stick ist der Code, mit dem Peter und du euer Geld verdient. War nicht schwer, den zu kopieren. Ja, ich höre jetzt auf mit den albernen und riskanten Überfällen. Ich mach es jetzt wie ihr. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder unsere Wege trennen sich jetzt hier. Oder wir betreiben das Geschäft ab sofort zu dritt. Ihr habt die Wahl. Am besten rufst du Peter jetzt sofort an und erklärst ihm die Situation. Und, nein, versuch nicht, mir das Ding wegzunehmen. Ich habe unterwegs gut ein Dutzend Versionen in die Cloud hochgeladen. Schau, ich lass den Stick sogar hier und gehe einfach so rüber, um mir ein Ticket zu besorgen. Wenn ich zurückkomme, habt ihr ja vermutlich eure Entscheidung gefällt. Dann sehen wir weiter.“

Moment, sagte er, ist es wirklich so, dass du mich nur deshalb kennenlernen wolltest? Tilde zögerte eine Weile. Drehte sich zu ihm um, sah ihm direkt ins Gesicht und sagte:

„Ja, aber die Dinge ändern sich. Die Dinge haben sich geändert. Im Rahmen der Emotionen, zu denen ich wirklich in der Lage bin, habe ich mich in dich verliebt. Und wenn ich es mir aussuchen könnte, dann würde ich gern mit dir bis zu deinem Tod zusammenleben. An einem festen Ort, der Heimat werden könnte. Einer normalen Wohnung an einem normalen Ort. Ich würde einen normalen Job annehmen, aber wir hätten natürlich unsere Zusatzeinnahmen. Wir könnten glücklich werden und zufrieden.“

Über ihr Gesicht zogen Wolken, dann schien die Sonne. Ihre Mundwinkel und Brauen waren in Bewegung. Manchmal lachten ihre Augen, und dann schienen sie mit Tränen gefüllt. Jensen dachte nach. Den Rest seiner Zeit mir ihr zuverbringen, schien ihm ein gutes Ende. Jetzt wo er wusste, woran er mit ihr war. Auch die Aussicht auf ein Heim und ein beruhigtes Leben gefiel ihm. Er lebte danach noch zwölf Jahre. Sie hatten eine barrierefreie Dachgeschosswohnung in D, gekauft, sehr zentral mit Aussicht auf den großen Park. Mit achtzig stürzte er und brach sich beide Hüften. Tilde pflegte ihn und schob seinen Rollstuhl, nachdem er zu schwach geworden war. Bis zu seinem letzten Tag funktionierte sein Gehirn perfekt, keine Spur von Demenz. Pie-Peter war zwei Jahre zuvor tödlich verunglückt. Sie betrieben ihr Geschäft nur noch zu zweit, und Tilde war es, die alle Aktionen vom Rechner aus steuerte. Als Jensen Wietten an einem nebligen Novembermorgen nicht mehr aufwachte, war sie reich.

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