Letztes Wiedersehen

Sie liegt da wie früher. Halb auf der Seite, halb auf dem Bauch. Das rechte Bein gestreckt, die linke Fußsohle fest an die rechte Wade gepresst. Der Gesicht liegt auf dem einen Arm, der andere umschließt den Kopf. Die Brise, die durch den offenen Spalt der Terrassentür weht, bewegt den Vorhang. Sonnenstrahlen fallen auf ihren Körper und das Muster im Stoff malt Flecken auf ihre Haut. Dann dreht sie sich um. Immer noch diese sehr helle Haut, immer noch die Pigmentflecken. Er sieht die dritte Zitze in der Falte unter ihrer rechte Brust. Das Schamhaar nicht mehr dicht wie damals, nicht mehr so strahlend rot. Der Spalt scheint durch, aber am oberen Rand immer noch die kecke Locke. Sie hatten sich über dreißig Jahre aus den Augen verloren. Dann schrieb sie ihm eines Tages eine Mail: Ich komme in die Stadt, treffen wir uns? Beide nervös im Café. Dann den großen Spaziergang mit dem Hund durch den Park. Und dann waren sie wieder wie das Paar, das sich mit dreizehn, vierzehn Jahren jeden Tag gesehen hat, jeden Tag miteinander geredet hat, alles gemeinsam, blindes Verständnis. Und natürlich gingen sie dann zusammen, so nannte man das damals.

Er erkennt sie am Gang. Wie sie bei jedem Schritt das Becken ein wenig voran schiebt und die Schulter eine Gegenbewegung ausführt, die Arme leicht geöffnet. Dabei hebt sie das Kinn an und hält den Kopf sehr gerade. Als sie nebeneinander über die große Wiese gingen, sah er sich selbst und sie von vorne, eine Zeitlupe, und es war, als seien keine vierzig Jahre vergangen seitdem sie zusammen über Wiesen gingen. Seine Freunde beneideten ihn um die feste Freundin. Und einer war so verliebt in sie, dass er alles versuchte, das Paar auseinander zu bringen. Aber es gab zu viel, was sie miteinander verschweißte. Sie mochten dieselben Bücher, dieselben Künstler und dieselbe Musik. Stundenlang konnten sie nach dem Besuch einer Ausstellung diskutieren, und wenn sie ein Buch ausgelesen hatte, das ihr gefallen hatte, dann schwärmte sie ihm davon vor, begeistert, mit glühenden Wangen und diesem Blick.

Warum bist du hier? hatte er sie im Café gefragt. Zahnarzt, sagte sie, ich hab einen Termin bei meinem Zahnarzt. Willst du mir allen Ernstes erzählen, dass du hundert Kilometer mit dem Auto fährst, um einen bestimmten Dentisten an dein Gebiss zu lassen? Sie lacht: Ja, mach ich schon seitdem ich wieder im Lande bin. Und hast dich nie gemeldet… Ging ja nicht, hatte keine Adresse von dir, keine Telefonnummer. Aber vor ein paar Wochen habe ich dich im Internet gefunden, samt Mailadresse. Das klingt plausibel. Er musste sich eingestehen, dass er die Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit, an die kurze Ehe und die schlimme Trennung ganz verdrängt hatte. Sie war für ihn nur noch ein Name, bestenfalls eine Station in seinem Lebenslauf.

Sie kam nun öfter. Nicht mehr nur für Zahnarztbesuche. Fand immer wieder Gründe. Und er verliebte sich in sie. Kann doch nicht sein, dachte er dann, dass ich mich mit sechzig Jahren in die Frau verliebe, mit der ich zum ersten Mal Sex hatte. Das ist verrückt. Er glaubte sich selbst nicht und konnte nicht einmal seinem besten Freund davon erzählen. Zwei Jahre später war seine Beziehung mit der Frau, die er über eine Partnerbörse im Internet kennengelernt hatte, zerbrochen. Und er richtete sich im Leben als Single ein. Anfang März rief sie an: Wollen wir mal zusammen was unternehmen? Einen Ausflug? Was wird dein Mann dazu sagen? fragte er. Hat sich was mit meinem Mann, der ist weg, hat mich sitzen lassen, natürlich wegen einer anderen, einer jungen Kollegin. In den Osterferien verbrachte sie ein paar Tage am Meer. Schon beim dritten oder vierten Treffen hatten sie sich zur Begrüßung umarmt und geküsst. Dann dieser kalte Tag.

Er entfachte ein Feuer im Kaminofen. Sie saßen auf dem Boden davor und wärmten sich. Er legte seinen Arm um sie. Dann lagen sie nebeneinander, dicht an dicht. Lange Küsse. Sie schmeckte nach Lakritz. Wie alt sind wir eigentlich? fragte sie, und er wusste keine Antwort. Schliefen dann aber doch in separaten Räumen, in getrennten Betten. Und er begann von ihr zu träumen, beinahe jede Nacht. Träume, in denen sie immer beide nackt waren, gemeinsam an wechselnden Orten. An Stränden, auf Wiesen, unter Bäumen, an Seen, auf Terrassen, in verschiedenen Häusern und Wohnungen. Immer versuchte er, sie zu verführen. Immer wich sie aus. Manchmal lief sie einfach davon. In diesen Träumen waren sie nicht mehr siebzehn, aber auch nicht einundsechzig. Irgendwas dazwischen, in der Blüte ihrer Leben.

Mitte April rief sie ihn an und weinte am Telefon. Sie habe große Sorgen um ihre Tochter. Du hast eine Tochter? Ja, sagte sie, habe ich dir nie von Rosa erzählt? Nein, hast du nicht – wie alt ist sie denn? Und sie berichtete davon, dass die Ehe mit dem Mann, wegen dem sie ihn damals verlassen hatte, nach wenigen Jahren unerträglich wurde, dass dieser Typ sich nicht entwickelt hatte, dass er im Zustand eines achtzehn-, neunzehnjährigen Jünglings verharrte, dass er sich nur für seine Hobbys interessierte und immer öfter mit seinen Kumpels um die Häuser zog. Insgeheim bewarb sie sich um eine andere Stelle, man stimmte der Versetzung zu, und sie landete in einer Kleinstadt, nicht weit weg von der Stadt, in der sie als Kinder gelebt hatten. Und eines Tages sei er ihr über den Weg gelaufen, der alte Schulfreund, der so sehr um sie geworben hatte. Und mit dem sei sie im Bett gelandet und gleich schwanger geworden. Und, hast du ihn geheiratet? Nein, der war auch nicht lebensfähig. Ich beschloss, mein Kind allein aufzuziehen. Hochbegabt sei Rosa, schwierig, mitten in der Pubertät mit allen möglichen Problemen, und jetzt habe ihr die Tochter eröffnet, sie werde wegziehen, sich selbstständig machen und den Kontakt vorerst einstellen. Hat sie wirklich „vorerst“gesagt? fragte er.

Er hörte ihr zu, er machte kleine tröstende Bemerkungen, und am Ende des Gespräch waren sie ganz woanders, diskutierten über diesen Film, der in jenen Tagen die Leute bewegte. Du gefällst mir immer noch, sagte sie zum Abschied. Du mir auch, antwortete er. Und von diesem Moment an war ihm klar, dass sie wieder ein Paar werden würden, dass sie wieder miteinander schlafen würden, vielleicht nicht zusammenleben, aber sehr eng miteinander sein.

Ist sie alt geworden? Natürlich hat sie Falten, und ihr Körper ist nicht mehr straff wie bei einer jungen Frau. Sie hat rundum Polster angesetzt, und die Haut fühlt sich ganz anders an. Aber er findet sie immer noch und wieder attraktiver als andere. Wo sie nun schlafend da liegt und er sie betrachtet, vergleicht er sie mit all den Frauen, mit denen er in den vergangenen dreißig Jahren Sex hatte. Und wie er es auch dreht und wendet, sie steht für ihn weit oben in der Liste. Und hofft, ihr geht es genauso. Sex war für beide immer wichtig. Sie hatten mit dem begonnen, was man damals Petting nannte. Wildes Knutschen, Streicheln, Hantieren an den Genitalien ohne ein Kleidungsstück abzulegen, alles, nur nicht das, was die Erwachsenen Geschlechtsverkehr nannten.

Er bewohnte damals das Mansardenzimmer eine Etage über der Wohnung der Eltern. Eine sturmfreie Bude, und seine Mutter und sein Vater hatten großes Vertrauen zu ihm. An vielen Sonntagen kam sie morgens zu ihm, wenn sie ihren Eltern vorgelogen hatte, sie ginge zur Kirche. Zog sich aus bis auf die Unterwäsche und kroch zu ihm unter die Decke. Das Gefühl, wenn das kalte Stück Haut zwischen ihrem Schlüpfer und dem oberen Rand der mit Haltern befestigten Strümpfe ihn berührte, hat er nie vergessen. Wenn sie den BH ablegte und er ihre festen Brüste mit den rosenfarbenen Spitzen in den Händen hielt. Wenn sie ausgegangen waren, blieben sie vor dem Nachhausegehen im dunklen Treppenhaus und befriedigten sich gegenseitig. Nie wurden sie erwischt. Im Sommer, in dem sie siebzehn wurde, ließ sie sich die Pille verschreiben. Und an einem heißen Augusttag fanden sie ganz zueinander. Gemeinsam entdeckten sie die Möglichkeiten.

Heute Nacht, hatte sie am Vortag gesagt, bleibe ich bei dir. Sie hatten zusammen gebadet, Wein getrunken bei Kerzenschein, und waren auf dem Teppich im Wohnzimmer zum ersten Mal zusammengekommen. Sie wacht auf mit einem Lächeln, wie sie früher schon fast immer mit einem Lächeln aufgewacht ist. Schön, dass du bei mir bis, sagt sie. Weißt ja, die Fünf war immer unsere Zahl. Er mag nicht antworten, sondern schaut sie nur an, den Arm aufgestützt, das Kinn in der Hand. Sie steht auf, geht duschen. Er kocht Kaffee und stellt das Frühstück auf der Terrasse bereit. Ein heller Tag mit sanfter Brise, nicht zu heiß. Sie reden nicht mehr viel an diesem Morgen. Dann macht sie sich zurecht und zieht sich an. Setzt sich noch einmal zu ihm an den Tisch und schaut schweigend zu wie er eine Zigarette raucht. Dir ist klar, dass unsere Geschichte hier endet? sagt sie. Es trifft ihn nicht unerwartet. Was soll aus uns werden? hatte er sich gefragt. Weißt du, setzt sie fort, ganz kurz, ganz, ganz kurz habe ich gedacht, dies könne etwas Neues werden. Aber schon seit unseren Tagen an der See habe ich geahnt, dass diese ganze merkwürdige Geschichte nicht mehr ist als ein Experiment.

Ein gelungenes Experiment, übrigens. Jeder Tag mit dir in den letzten zwei Jahren war wunderschön. Ich habe mich immer wohlgefühlt mir dir, habe mich geliebt gefühlt und begehrt. Das hat mir sehr gut getan. Es wirkt wie eine Kur, wie eine Therapie. Sie nimmt seine Kaffeetasse und trinkt einen Schluck. Er schaut ihr in die Augen, in diese Augen mit der unbestimmbaren Farbe irgendwo zwischen Blau, Grün und Grau. Den gesenkten Blick, die halb geschlossenen Lider. Trug sie das Haar damals irgendwann auch so kurz? überlegt er. Ist es für dich nicht auch dasselbe? fragt sie. Was bleibt ihm übrig als zu nicken.

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