Liebe Dreizehn

Als meine Tochter am frühen Abend weinend heimkam, war sie dreizehn Jahre, drei Monate und elf Tage alt. Ich habe das später nachgerechnet. Und ich ahnte, was geschehen war. Dass es mit diesem großgewachsenen, hübschen Burschen zu tun hatte, war mir auch klar. Denn nicht nur Leonie war verliebt in ihn, ich, wenn auch auf eine andere Art, auch. Wie kann auch ein junger Mann von knapp siebzehn Jahren auch so attraktiv sein und so viel Charisma haben? Singah war Teil dieser Hippie-Familie, wie sie in der Nachbarschaft genannt wurde, eine reine Frauen-WG mit seiner Mutter, dem kleinen Bruder Asim, der Oma, zwei Tanten und drei mittelalten Damen, die vermutlich nicht mit dem Rest verwandt waren. Sie lebten in einer riesigen, verwinkelten Wohnung über zwei Etagen mit zwei separaten Mansarden oben unter dem Dach einen Häuserblock weiter. Ich weiß es, weil ich Leonie ein paar Tage später dort herausholte.

Nach außen erschien die WG als fröhlicher, friedlicher Haufen, dessen Mitglieder vor allem durch bunte, ungewöhnliche Kleidung und verrückte Frisuren auffiel. Aber hinter vorgehaltener Hand sprachen die Leute in der Straße darüber, dass es sich um eine schlimme Bande handelte, die mit den damals noch wenig bekannten Chemodrogen dealte, geschützt von einer persönlichen Leibgarde brutaler Kerle, die man aber nie zu Gesicht bekam. So ist es doch auch nicht, sagte Leonie als ich sie darauf ansprach, die nehmen alle Drogen, aber nichts Hartes, nichts Gefährliches. Bis auf die eine Tante, die ist ein Junkie, die spritzt sich irgendwelches Zeug. Und die Jungs? hakte ich nach. Ach, die ziehen höchstens mal an nem Joint, versuchte sie mich zu beruhigen.

Einmal hatte sie Singah und Asim mitgebracht zum Essen. Eingeladen hatte ich die beiden nicht, aber meine Tochter hatte gebettelt und gesagt, die beiden hätten seit Tagen nichts Anständiges mehr gegessen. Der Ältere, ein für sein Alter ungewöhnlich großer Junge, sehr blond mit einem Schopf verfilzter Locken, sagte kein Wort zur Begrüßung und nickte mir nur zu. Schon nach ein paar Minuten ging mir seine überhebliche Visage auf die Nerven. Der Kleine war dagegen nett, höflich und versuchte, mit mir ins Gespräch zu kommen. Könnte ich bitte noch ein Glas Saft haben? sagte der, während Singah wortlos seinen Teller rüberschob und Leonie bedeutete, ihm noch etwas aufzutun. Sein starrer Blick fiel mir auf, und hätte ich von der Dealerei seiner Verwandten gewusst, hätte ich angenommen, er stünde unter Drogen.

Tatsächlich hatte er sich diese Attitüde bei irgendeinem Filmstar abgeschaut, von dem ich nie gehört hatte, und trainiert, möglichst wenig mit den Augenlidern zu zwinkern. Er schien mir sehr glattrasiert, und bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass sein Haar gefärbt war. Dieses Blond hätte auch nicht zu seinen dunkelbraunen, fast schwarzen Augen gepasst. Dann standen die Kinder auf, um in Leonies Zimmer zu gehen. Singah hatte diesen Gang drauf wie ihn eine gewisse Art Männer im Süden praktiziert, ich nenne es Tigerschleichen. Es wirkte gleichzeitig lässig, provokant und angestrengt. Als die Beiden wieder gegangen waren, fragte ich meine Tochter: Bist du in Singah verliebt? Mama! sagte sie, du bist so peinlich! Das ist einer meiner Freunde, mehr nicht. Und ich wusste, dass sie log. Leonie war so verknallt, dass ihre Gedanken ganz offensichtlich nur um diesen Kerl kreisten, was er über sie dachte, was er tat, mit wem er umging und wem nicht.

Damals hatte sich ein Kreis von Jungen und Mädchen zusammengefunden, die sich teils aus der Schule kannten, teils aber schon von frühester Kindheit an gemeinsam in der Nachbarschaft lebten. Sie trafen sich beinahe jeden Tag nachmittags auf dem angeranzten Spielplatz drei Straßen weiter am Rande des Gewerbegebiets, den sie nach dem Namen der Straße den „Burger“ nannten. Um Leonie zu ärgern sprach ich immer davon, sie sei ja Teil der Burger-Bande, und das machte sie wütend. Asim war wie Karo, Harun, Jonas, Bille, Samy und Pamela Teil der Gruppe, die auf der Kante des Sandkastens hockte, lustlos wippte oder schaukelte und sich gegenseitig Kassetten mit der neusten Musik vorspielte. Singah, das wusste ich von anderen Müttern, kam nur gelegentlich vorbei, setzte sich dazu und sprach zu niemandem außer seinem kleinen Bruder.

Geht Singah eigentlich zur Schule, fragte ich Leonie eines Tages. Sie schüttelte den Kopf: Der ist nie auf eine Schule gegangen, dem hat alles seine Großmutter beigebracht. Kann er denn lesen und schreiben? Mama! Was denkst du denn? Natürlich kann er das. Und auch Mathe, Geo, Physik, Chemie und so’n Zeug. Außerdem spricht der fünf Sprachen fließend… Wenn er denn mal spricht, merkte ich an. Der hat schon überall auf der Welt gelebt: In Goa, auf Sansibar, Ibiza, Fuerteventura, Italien und sogar auf einer Karibikinsel. Ja, hakte ich nach, und was macht er den ganzen Tag? Du, der ist sowas von fleißig, der arbeitet als Anstreicher. Fast jeden Tag und manchmal auch am Wochenende. Und wenn er gebraucht wird, dann fährt der auch mal paar Tage irgendwo hin um zu arbeiten. Na, sagte ich, da bin ich ja beruhigt.

Töchter in diesem Alter erzählen ihren Müttern ja nicht viel, eigentlich gar nichts. Man muss als Erziehungsberechtigte schon das Gesamtbild deuten, den Mix aus dem, was die Tochter nicht erzählt, aus ihren An- und Abwesenheiten, den Gewohnheiten, den Schulnoten und allen Lebensäußerungen, derer man habhaft werden kann. Mir fiel im Frühjahr auf, dass Leonie nicht mehr vom „Burger“ sprach und dass – wenn sie mal etwas berichtete – ihre alten Freunde kaum noch vorkamen. Auch verließ sie das Haus nicht mehr sofort nach dem Mittagessen, sondern machte erst brav ihre Hausaufgaben, um dann zwischen vier und fünf zu sagen: Ich geh nochmal raus. Ein paar Tage nach ihrem dreizehnten Geburtstag kam sie zum ersten Mal erst nach Acht heim, und ich machte ihr einen Riesenärger. Aber der prallte an ihr ab wie fast alles, was ich an erzieherischen Maßnahmen an ihr ausprobierte, an ihr abprallte. Sie war mit allen Gedanken ganz woanders.

Heute weiß ich, dass sie nur noch mit Singah herumzog, mit ihm abhing, dass sie zusammen mit dem Rad in die Stadt fuhren, dass sie einen geheimen Platz am Fluss hatten, dass er sie einlud zum Eisessen, auf eine Portion Pommes, dass er das Wasser, dass er immer in einer Feldflasche bei sich hatte, mit ihr teilte, dass er sehr nett zu ihr war, dass er ihr manchmal stundelang Geschichten aus seinem Leben, von seinen Vätern und aus anderen Ländern erzählte. Ich weiß inzwischen, dass dies seine Bewerbungsphase war. Eines Abends kam sie nachhause, strahlend, glühend, aufgekratzt, und ich wusste, er hatte sie wohl zum ersten Mal geküsst. Da kannte ich Singah noch nicht und machte mir keine größeren Sorgen, zumal ihre schulischen Leistungen zum Ende des Schuljahrs sogar noch besser geworden waren.

Als meine Tochter Leonie gut drei Monate später weinend heimkam, wusste ich, was geschehen war. Ich wusste, dass sie zum ersten Mal Sex gehabt hatte, dass es dieser schöne, böse Junge war, der als Erster mit ihr geschlafen und danach sofort Schluss mit ihr gemacht hatte. Denn er hatte sein Ziel erreicht, und sie war für ihn nichts mehr wert.

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