Marianne und ich (5)

Am 2. Januar brachen wir in ihre ehemalige Wohnung ein, um ihre restlichen Sachen zu retten, die wir im Taxi zu mir transportierten. Wir hatten nicht gebadet oder geduscht und uns nur notdürftig gewaschen. Wir waren verklebt von Schweiß und anderen Säften und stanken meilenweit gegen den Wind nach Sex. Das, glaube ich, war die Geschichte, die sich Robby von mir gewünscht hatte. Natürlich mit mehr Einzelheiten. Aber die müsste ich mir ausdenken, denn die insgesamt sieben Tage nach ihrer Rückkehr sind in meiner Erinnerung ein einziger Film bestehend aus kurzen Blitzaufnahmen ihres Körpers und seiner Details. Alles aufgenommen mit der subjektiven Kamera.

Tatsächlich fand ich gar nicht viele Fotos aus jener Zeit in der Dachwohnung. Ich hatte ja seit Jahren die Manie, Filme grundsätzlich selbst zu entwickeln und auch Abzüge selbst anzufertigen – alles in Schwarzweiß, natürlich. Im Kühlschrank lagerten immer einige Ilford FP4 und HP5. Und mehrere Dutzend belichteter Filme in ihren Döschen. Nur zum Entwickeln kam ich seit dem Umzug nicht mehr. Also existieren nur exakt zweiundsiebzig gerahmte Dias, die ich bei einer Session mit ihr aufgenommen hatte. Über all die folgenden Jahre hinweg würden wir solche Fotoaktionen abhalten. Marianne liebte es sich zu verkleiden, sich verrückt zu schminken und Perücken zu tragen. Meist mit dem Ziel, sich im Laufe der Sitzung zu entkleiden und abzuschminken. Die Dias zeigen sie als billige Nutte mit rötlicher Frisur im engen Korsett, die auf den ersten Bildern am Tisch sitzt, Bier trinkt und Gewürzgurken isst. Später sitzt sie auf der Toilette, und zwischendurch reckt sie den nackten Hintern in die Optik.

In Paris fragte ich sie am ersten Tag, ob sie schon mit vielen Kerlen Sex gehabt habe. Willst du das wissen? fragte sie. Ja, sagte ich. Und sie begann mir von jedem ihrer zwanzig, dreißig Liebhaber eine erotische Geschichte zu erzählen. Vermutlich habe ich aus ihren Berichten mehr über Sex gelernt als aus allen Aufklärungsfilmen und aus Büchern zuvor. Sie hatte sich in ihrer Zeit in Paris und Beziér systematisch durch die Nationalitäten geschlafen und wusste über jede Besonderheit der männlichen Anatomie und der erotischen Verhaltensweisen einer ethnischen Gruppe detailliert zu berichten – vor allem über Vietnamesen, Chilenen und Russen, die hatten es ihr besonders angetan.

Das alles hörte ich nicht nur von ihr, ich lernte von Marianne alles über Sex. Und das war erleuchtend, denn Renate und ich waren nie weiter gekommen als bis zum klassischen Geschlechtsverkehr mit minimalem Vorspiel. Schließlich hatten wir beide vor dem ersten Fick nie Sex mit irgendjemand anderem gehabt. Bis dahin hatte es auch ziemlich lange gedauert. Immerhin hatten wir ohne Anregung von außen das entdeckt, was man damals Petting nannte, und waren gut darin, uns gegenseitig manuell zu befriedigen. Das taten wir oft und gern im dunklen Treppenhaus. Manchmal kam sie sonntags morgens zu mir, wenn ihre Eltern glaubten, sie ginge zur Kirche. Ich hatte ein Zimmer unterm Dach mit separatem Eingang. Sie kam aus der Kälte und kroch unter meine Decke ohne sich zu entkleiden. Die Haut an ihren Oberschenkeln zwischen den Strümpfen und der Unterhose gab mir einen Eindruck von der Außentemperatur.

Die Tage in Paris waren weniger touristischer Natur, sondern ein intensives, ehrliches und insgesamt fröhliches Kennenlernen. Das Wetter war kalt und feucht. Na irgendwelchen berühmten Orten vorbei zu schlendern, machte keinen Spaß. An Kunstmuseen war sie nicht interessiert. Also saßen wir meist in einem Café oder Bistro herum, tranken etwas und redeten. Unser Hotel lag in der Nähe der Madeleine. Das Zimmer war winzig, die Dusche stand in einer Ecke, das Fenster ging hinaus auf einen schmalen Innenhof. Wir frühstückten im Bett, nachdem einer von uns Croissants geholt hatte. Zur Ausstattung gehörte ein Tauchsieder und zwei Boulés in denen wir Nescafé mit Milch kochten.

Nach der Rückkehr entstand etwas Ähnliches wie Alltag. Sie fand eine Stelle bei einem Import-Export-Betrüger, der sein Wohnzimmer zum Büro gemacht hatte und oft unterwegs war. Er hatte sie wegen ihrer Spanischkenntnisse ausgewählt und war meistens unterwegs. Ich hatte Ende Februar Herrn König besucht, der sich sehr freute und mich vom Fleck weg engagierte. Susanne und Herr Doleszal waren nun ein Paar und Herrn Mirk hatte man zu einer Baustelle in Nigeria abgestellt. Ein brandneuer Rank-Xerox-Kopierer stand im Büro, und ich konnte nun ungestört Unterlagen vervielfältigen. Um fünf hatten Marianne und ich Feierabend trafen uns meistens im Stammcafé, wo wir zu Abend aßen, wenn wir hungrig waren, oder einfach nur den Tag ausklingen ließen.

Wir stritten uns nie. Über alles, was unser unerwartetes gemeinsames Leben anging, waren wir uns vollkommen und bis ins Detail einig. Der Haushalt machte wenig Mühe. Wir hatten keine Verpflichtungen und auch keine bedeutenden sozialen Kontakte. Zweimal fuhr Marianne aufs Land zu ihrer Mutter. Sie fragte mich nicht, ob ich sie begleiten wollte. Und auch das war gut so. Ab April begannen wir, jede Woche zweimal ins Kino zu gehen. Entdeckten unseren gemeinsamen cineastischen Geschmack fernab von Hollywood und dem üblichen Mainstream. Manchmal sahen wir einen ganzen Abend lang fern, aber meistens blieb der Fernseher tagelang aus. Im Mai reifte der Plan für den freien Sommer. Und ich suchte mit lukrativere Jobs, was Herr König sehr bedauerte. Ich würde sie auch fest einstellen, meinte er zum Abschied; sie könnten bei uns Karriere machen. Ich fragte: Als was? Darauf hatte er keine Antwort.

Marianne hatte sich kurz vor unserer Reise die Haare raspelkurz schneiden lassen. Ich hatte weiße Malerlatzhosen und blaue Overalls angeschafft. Wir waren ein auffälliges Paar, über das nicht nur im Stammcafé allerlei Gerüchte kursierten. Das befriedigte unsere Eitelkeit.

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