Marianne und ich (6)

Vielleicht ist Robby auch so fasziniert von meiner Geschichte mit Marianne, weil sie so lange ging und so stabil war. Möglicherweise will er ein Geheimnis lüften, lernen wie das geht. Wie Beziehung funktionieren kann. Denn er hat in den vierzig Jahren, die ich ihn jetzt kenne, nie auch nur annähernd eine ähnliche Erfahrung mit einer Frau gemacht. Ich bin auch nicht sicher, ob er es je versucht hat. Mag an seiner Familiengeschichte liegen. Dass er mit vierzehn erfuhr, dass der Mann, den er Onkel nannte, in Wahrheit sein leiblicher Vater war. Oder vermutlich der Erzeuger war, weil seine Mutter in den Wochen rund um seine mutmaßliche Zeugung mit mindestens fünf verschiedenen Männern geschlafen hatte.

So wuchs er mit seinem sechs Jahre jüngeren Bruder, der von einem weiteren Mann gezeugt worden war, ohne Familie bei der Mutter auf, die jung genug war, ein aufregendes Leben führen zu wollen, das sich vor allem darin zeigte, dass sie ständig Affären hatte. Zudem arbeitete sie als Garderobiere an der Oper, hatte also meist nachts Dienst, sodass die Söhne sich weitestgehend selbst überlassen waren. Mit dreizehn, vierzehn war ich unheilbar verliebt in Inge, so ihr Name. Für mich war sie die schönste aller Frauen und Inhalt vieler Träume. Ich ahnte, dass sie mich mehr mochte als ihre eigenen Kinder und dass es nicht nur Sympathie war, die sie dazu brachte, mich ernstzunehmen wie einen Erwachsenen. Sie war damals gerade über Dreißig; für uns natürlich eine ältere Frau, aber für mich vom Alter her nicht so weit weg, dass sie nach einem besonderen Ereignis nicht für lange Zeit im Zentrum meiner Fantasien stand.

Es wird in dem Sommer gewesen sein, bevor ich fünfzehn wurde. Mein Vater war gestorben, meine Mutter mit der Situation nach seinem Tod völlig überfordert. Da bot Inge ihr an, mich mit in die Ferien zu nehmen. Sie würde drei Wochen lang mit ihren Söhnen auf Borkum Urlaub machen, in der Pension einer ehemaligen Kollegin, sodass für mich praktisch nur Fahrtkosten und ein wenig Taschengeld anfielen. Wir fuhren mit einem Ferienzug nach Emden und setzten auf die Insel über. In der Pension belegten wir zwei Zimmer: eines davon teilte ich mir mit Robby, im anderen schliefen Inge und ihr jüngerer Sohn. Außerdem gab es auf derselben Etage noch ein weiteres Elternschlafzimmer und einen größeren Raum, in dem Rita, die in unserem Alter war, mit ihren fünf kleineren Geschwistern nächtigte.

Ich bin nicht sicher, ob ich Robby diese Geschichte erzählen sollte. Bisher habe ich es jedenfalls nicht getan, und Marianne ist tatsächlich der einzige Mensch, der von dieser Begebenheit weiß. Rita war ein freches Mädchen aus Gelsenkirchen, die schon ab der zweiten Nacht heimlich zu uns schlich. Wir rauchten zu dritt am offenen Fenster und tranken Martini, den wir in die Pension geschmuggelt hatte. Manchmal ließ sie zu, dass einer von uns mit ihr ins Bett ging, zum Knutschen, wie sie es nannte. Dann löschten wir das Licht, und derjenigen von uns, der gerade nicht dran war, verzog sich in eine andere Zimmerecke. Sie ließ sich gern anfassen und sie fasste gern unsere Schwänze ab. Mehr nicht. Nach einer solchen Sitzung rannte der jeweilige Patient rasch auf die Gemeinschaftstoilette, um den Druck loszuwerden und zu onanieren.

So wie in dieser windstillen, wolkigen Nacht bei Neumond. Im Flur zwischen den Zimmern war es stockdunkel, also tastete ich mich vorwärts. Fand die Toilettentür und schlüpfte hinein, ohne den Lichtschalter zu betätigen. Halt, sagte eine Stimme, nicht erschrecken, ich sitz gerade auf dem Klo. Natürlich erkannte ich diese Stimme, einen sanften Alt, den ich später bei Marianne wieder hören würde. Natürlich erschrak ich und wollte flüchten. Warte, sagte sie, bin fertig. Ich hörte sie am Toilettenpapier hantieren und dann abziehen. Sie stand auf, wir stießen leicht zusammen, und natürlich bemerkte sie meine Erektion. Psst, machte sie. Griff nach meinem Schwanz und bewegte ihre Hand mit festem Griff drei-, viermal, sodass es mir kam. Erst jetzt spürte ich, dass sie nackt war. Sie nahm meine Rechte und legte sie auf ihre linke Brust. Dann ergriff sie meine Linke und führte sie an ihr Schamdreieck. Sofort wurde mein Penis wieder hart. Siehste, sagt sie, so geht das; kann das kleine Pipimädchen natürlich nicht wissen.

Nach dieser Nacht hatte ich nur noch den dringenden Wunsch, sie nackt zu sehen, mit ihr im Bett zu liegen, mit ihr das zu machen, was ich für Ficken hielt. Gesprochen haben wir über die nächtliche Begegnung nie. Robby wird davon nichts wissen, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Mutter ihm je davon erzählt hat.

Mit einigem Glück war ich an einen Transit geraten, den der Vorbesitzer mehr oder weniger geschickt ausgebaut hatte, um darin übernachten zu können. Mehr als eine Liegefläche, die mit einer fleckigen Matratze belegt war, und diversen Einbauschränken gab es nicht, aber das würde uns reichen. Wir hatten beschlossen, über Jugoslawien, Griechenland und die Türkei bis nach Israel zu kommen. Aus irgendeinem Grund, der mir nicht in Erinnerung geblieben ist, war dies das Land unserer Träume geworden. Mag sein, dass uns ein Kollege von Marianne, der ständig vom Kibbuz schwärmte, uns angesteckt hatte. Wir kannten nicht einen Israeli und wussten nicht von der Geschichte des Judenstaates.

In der Woche vor dem Start hatten wir den Transporter renoviert und vor allem eine neue Matratze besorgt. Außerdem kümmerten wir uns um die Ausrüstung, um nicht wieder ein solches Desaster wie ein Jahr zuvor in Nordspanien zu erleben. Leider hatte uns die Guardia erwischt, als wir mit nur einem intakten Scheinwerfer am Rand von Bilbao über eine breite Straße gondelten, und weil wir kein Geld mehr hatten, mussten wir drei Nächte getrennt im Knast verbringen. Man beschlagnahmte das Auto und schob uns über die Grenze ab. Die Fahrkarten für den Zug nachhause mussten wir allerdings nicht selbst bezahlen. Im Vergleich dazu waren die Bedingungen für die nächsten drei, vier Monate absolut professionell.

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