Wietten und die Tilde (5)

Natürlich ahnte Wietten nicht, dass er im Haus am See zum letzten Mal mit ihr geschlafen hatte als sie Pie-Peter verließen und mit dem Geländewagen wieder hinab in die Hochebene tauchten, die unter einem schönen Nebel lag. Die wenigen Stunden beim Einsiedler hatten sie verändert, hatten etwas Bedrohliches in ihr ausgelöst, das er nicht fassen konnte. Vielleicht aber hatte das schon in Paris begonnen. Denn ab dem vierten Tag wurde ihre Laune immer schlechter. Sie interessierte sich nicht für den Louvre, sie interessierte sich nicht für das Jeu de Paume, sie wollte sich keine Gemälde ansehen, kein Museum betreten. Sie wollte nur umher streifen und möglichst viel mit der Metro fahren. Am Mittwoch ging er also allein den Boul’Mich entlang, über den Pont St. Michel und die Insel bis zum Louvre. Es trieb ihn zu einem Bild, das in seinem Leben schon mehrfach eine Rolle gespielt hatte, dem Floß der Medusa von Gericault. Als der das Hotel verließ, schlief sie noch. Später besuchte er auch noch das Rodin-Museum, nahm das Mittagessen in einem Bistro, das all die Jahre überlebt und in dem er schon vor über vierzig Jahren gegessen hatte. Was sie tagsüber unternahm, wusste er erneut nicht.

Aber dann er ihr den Gefallen, die ganze Runde mit der M6 zu fahren. An jenem Freitagmittag schien die Stadt entvölkert. Die Bürger waren entweder in den Ferien und waren schon übers Wochenende an der See. Die Hitze war unter dem staubigen Dunst gefangen, und die Metro-Waggons rochen nicht gut. Und trotzdem blitzte jedes Mal ein Lächeln in ihrem Gesicht auf, wenn in einer Station das Warnsignal ertönte. Einmal sagte sie: Das ist meine Lieblingsmusik. Und Wietten begann daran zu zweifeln, dass sie zum ersten Mal in Paris war. Wie seine Zweifel überhaupt anwuchsen und er sich fragte, wer diese Mathilde ohne Nachnamen eigentlich sei. Beim Einchecken im Hotel hatte er kurz gehofft, sie würde ihren Ausweis oder Pass vorzeigen, aber sie ließ sich als Madame Wietten registrieren. Aber bei allen Zweifeln kam in ihm kein Verdacht auf, dass sie ihm schaden könnte. Was, dachte er, habe ich den schlimmstenfalls zu befürchten? Dass sie mich verlässt.

Drei der sieben Frauen in seinem Leben hatte ihn verlassen, von dreien hatte er sich getrennt, eine war gestorben. Das Muster war eindeutig: In Zeiten, in denen er unten war, mochten ihn seine Geliebten nicht mehr. War er aber oben oder ganz oben, fiel es ihm leicht, die jeweilige Partnerin zu verlassen. Nur bei Gerti lagen die Dinge anders; nie hatte er ihren plötzlichen Tod als eine besonders perfide Art, ihn zu verlassen, begriffen. Im Gegenteil. Diese unterschiedlichen Erfahrungen hatten ihm die Angst vor dem Verlassenwerden größtenteils genommen. Zumal er Realist war und daher nicht damit rechnete, Tilde würde auf Dauer bei ihm bleiben. Obwohl er an Tagen der Depression hoffte, sie möge bis zu seinem Tod Geliebte und Gefährtin bleiben.

Am zweiten Montag besserte sich ihre Laune wieder, schlagartig. Mit ein paar derben Scherzen zwang sie ihn zum frühen Aufstehen, zerrte ihn unter die Dusche, wo sie kurz Sex miteinander hatten. Dann frühstückten sie in ihrem Stammbistro, und sie bat ihn, ihr diese Orte in Paris zu zeigen, von denen er immer so geschwärmt hatte. Also fuhren sie erst zum Marché aux Puces, wo sie Stunden auf der Suche nach einem gebrauchten Trenchcoat für sie verbrachten, den sie aber nicht auftreiben konnten. Weiter zum Buttes-Chaumont. Ganz oben saßen sie dann und blickten still über diese Stadt, während die Sonne ihren höchsten Stand erreichte und sie durstig machte. Tranken unten am Bassin de la Villette ein paar Pastis bis sie beide angetrunken waren und nahmen dann das Boot, das sie über den Kanal Saint-Martin an den Place de la Republique brachte. Zu Fuß durchs Marais und bis zum Centre Pompidou, wo sie auf ihren Wunsch hin sieben, acht Mal die Rolltreppen ganz nach oben und wieder zurück nahmen.

Am frühen Abend landeten sie in ihrem Bistro und aßen sich einmal quer durch die Speisekarte. Wietten bestellte die besten Weine, die der Patron aufbieten konnte, und sie wurden zunehmend betrunken. Im Fernsehen lief ein Rugby-Spiel, aber man hatte den Ton abgedreht, während direkt unter dem Bildschirm ein älterer Mann im Trikot der Equipe Tricolore saß und die Partie murmelnd kommentierte. Mit ihm waren sie die letzten Gäste, und Wietten fragte den Wirt, ob er schließen wolle. Nein, sagte der, sie könnten bleiben, er wolle ohnehin das zweite Match im TV sehen, er würde nur schon einmal die Tür verriegeln. Plötzlich sagte sie: Das ist ein Leben! Und begann laut zu lachen. Scheiß auf den Alltag, scheiß auf die Arbeit! Er sah sie überrascht an, sie kicherte weiter und begann dann den zweiten Monolog, den er von ihr hörte.

„Ich habe mich lange bemüht, ein bürgerliches Leben zu führen. Weil ich nicht so sein wollte wie meine Eltern. Ich habe eine Schneiderlehre gemacht und sogar anderthalb Jahre in einem Atelier genäht. Hier in Paris, übrigens. Gearbeitet habe ich wie verrückt. Wir Mäherinnen mussten jeden Morgen um sieben im Atelier antanzen und wurden von der Directrice erst einmal zusammengestauct, was wir alle am Vortag für einen Müll produziert hätten. Dann teilte sie uns ein. Immer zwei Mädchen an einem Tisch, die sich nicht mochten. Grundsätzlich bekam jede die Arbeit zugeteilt, die sie am wenigsten gern tat. Manchmal rauschte der Modeschöpfer durch die Werkstatt und schwärmte in den höchsten Tönen von uns, während unsere Vorarbeiterin ihm in den Arsch kroch. Das alles für kaum 800 Euro netto im Monat. Deshalb wohnte ich auch im Arbeiterinnenheim oben an der Rue des St. Jaques. Furchtbar. Eine Dusche für vierundzwanzig junge Frauen, darunter rechte Ferkel, dass ich irgendwann lieber in der Badeanstalt duschen ging. Schweinefraß im Speisessal, und auswärts zu essen konnte ich mir nicht leisten. Mittags gab’s die immergleichen Sandwiches, für die wir laut unserer Sklaventreiberin auch noch dankbar sein sollten, weil wir sie ja nicht bezahlen mussten. Als ich Karim kennenlernte, kündigte ich, weil er sagte, er wisse, wie ich auch ohne Arbeit an Geld kommen könne. Das stimmte auch. Aber es war mir von vornherein unangenehm, irgendwelchen Männern meinen Körper zur Verfügung zu stellen. Weil ich aber wohl sehr gut war und Karim nicht den Zuhälter mimte und kein Geld von mir nahm, reduzierte ich die Zahl meiner Klienten rasch auf nur zwei pro Woche. Außerdem fand ich Mittel, diese Stunden nicht bewusst mit zu erleben.

Ansonsten arbeiteten wir nicht. Wir lebten. Karim hatte Einnahmequellen, über die er nie sprach. Wir verließen die Stadt nur, um ans Meer zu fahren – runter in den Süden im Winter, im Frühjahr an die Atlantikküste und im Sommer in die Normandie. Wir hatten ein kleines, aber sehr komfortables Appartement im 16. gemietet. In einem Eckhaus ganz oben, und aus dem Fenster konnten wir die seine und den Eiffelturm sehen. Er war ein zärtlicher Liebhaber und fürsorglicher Begleiter. Man fand ihn mit siebzehn Kugeln im Leib auf der Müllkippe in Claye-Souilly. Ich verließ Paris und reiste auf gut Glück nach B., wo ich El vermutete, die einzige Freundin aus meiner kurzen Schulzeit in D. Tatsächlich traf ich sie an der alten Adresse, und sie freute sich. Was sie denn so täte? fragte ich. Sie sah mich merkwürdig an und fragte zurück: Wie meinst du da? Na ja, sagte ich, wie du dein Geld verdienst. Sie lachte laut und antwortete: Na, sicherlich nicht durch ehrliche Arbeit. Wir fanden dann einen gemeinsamen Dreh, reiche Leute abzuzocken, und ließen es uns gut gehen. Ja, mein Lieber, seit meiner Zeit als Näherin habe ich nie wieder für Geld gearbeitet. Und das soll auch so bleiben.“

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