Wietten und die Tilde (9)

Die lange, lange Brücke über den Sund, schneller Wolkenzug, und dann nach Nordwesten. Ich habe keinen Führerschein, hatte sie gesagt. Und ließ sich von ihm fahren. Früher, da war er mit ein paar Kumpels eben mal schnell nach Marseille gerauscht über Nacht. Im Hafen einen Kaffee getrunken, und wieder zurück. Sechzehn Stunden unterwegs. Oder mit dem alten Käfer in einer Tour zurück von Bilbao. Praktisch ohne Pause. Jetzt brauchte er alle drei Stunden einen Zwischenstopp. Kurz vor H. hatten sie die erste Rast eingelegt. Tilde war schweigsamer als sonst. Bei F. bat sie ihn, kurz in die Stadt zu fahren, sie brauche ein paar Sachen. Lass mich bitte allein einkaufen. Kam zurück mit einem großen Wanderrucksack, offensichtlich gefüllt mit neuer Kleidung für den Urlaub. Hinter G. bogen sie von der Schnellstraße ab. Dann durch die Wälder. Eine Piste, die über zehn Kilometer schnurgerade, aber auf und ab führte, dass ihm schwindelig wurde. Der See lag still, es war zu kühl für die Jahreszeit, sodass er als erstes den Kanonenofen befeuerte.

Wietten hatte jede Menge Proviant mitgenommen für die Woche, auch ein paar Kartons Wein und tiefgefrorenes Fleisch. Am ersten Abend saßen sie am Feuer und grillten Steaks am Stock. Wind war aufgekommen und hatte die Flammen angefacht. Sie war näher an ihn herangerückt als hätte sie Angst. Dann begann sie einen weiteren Monolog:
„Ich will ja auch aufhören. Das Aufregende der ersten Jahre ist verflogen, die Furcht überwiegt. Mich schreckt nicht so sehr die Vorstellung, geschnappt zu werden und in Haft zu kommen. Ich habe Angst, aus Versehen erschossen zu werden. Davon träume ich beinahe jede Nacht, dass ich aus der Bank komme und der Polizei in die Arme laufen und einer von denen die Nerven verliert und auf mich schießt. Ich will ja leben. Seit ich dich kenne, habe ich eine Vorstellung davon, wie ich leben könnte. Wie ich ein beruhigtes Leben führen könnte. Mit dir oder ohne dich. Also muss ich es noch einmal tun. Eine große Sache, damit ich so viel erbeute, dass es für die nächsten zehn, zwölf Jahr reicht. Du weiß, ich lebe sehr bescheiden. Verbrauche im Jahr kaum zwanzigtausend. Und dann will ich lerne, Geld zu machen ohne zu arbeiten. Etwas in der virtuellen Welt. Du könntest mein Lehrer sein.“

Sie trank das Glas leer und hielt es ihm zum Füllen hin. Er wartete darauf, dass sie weiter sprach, aber Tilde schwieg wieder. Die Buchenscheite waren niedergebrannt, und sie gingen zu Bett. Mit dem Wind war warme Luft angekommen. Das Wasser im See war nicht so kalt wie er befürchtet, sie schwammen mehrmals am Tag und trockneten ihre Körper in der Sonne. Am dritten Abend fragte sie: Was war mit deiner letzten Frau?

Was hätte er ihr erzählen sollen? Von den glücklichen Jahren zu Beginn? Von ihren drei Schwangerschaften und den Fehlgeburten? Die erste als sie knapp über fünfzig war. Wie sie immer unglücklicher wurde und ihm zunehmend die Schuld gab. Gertis Eifersucht. Wie sie ihn bespitzelte auf Schritt und Tritt. Ihm heimlich nachreiste, wenn er mit der Band unterwegs war. Einer der Background-Sängerinnen dafür bezahlte, dass die ihm nachspionierte. Vier wunderbare Jahre hatten sie. Jensen hatte sich nach der Trennung von Yvonne aus dem Kunstbetrieb zurückgezogen und war auf Reisen gegangen: Südamerika, Karibik, Afrika. Dann in halbes Jahr New York. Diesen unglaublichen Sänger kennengelernt, der gerade eine neue Band zusammengestellt hatte. Hing wochenlang mit dem im Studio herum, wo das neue Album entstand. Eines Tages fragte der Musiker ihn: Willst du unsere Europa-Tournee organisieren, Jens? So entstand sein vierter Beruf, und auch in dem war er sehr erfolgreich. Stand nun in der Öffentlichkeit, gewann Preise, wurde zu Talkshows eingeladen und bekam Anfragen für irgendwelche Promi-Specials, die er konsequent absagte. In nicht einmal drei Jahren, in denen er selten weniger als hundert Stunden die Woche arbeitete, entstand so ein Millionenunternehmen mit gut dreihundert Mitarbeitern.

Es hatte ihn immer ans Wasser gezogen. Sport konnte er sich ohne Wasser als Element nicht vorstellen. So entdeckte er das Segeln für sich. Kaufte ein kleines, kräftiges Holzboot, das für den Einhandbetrieb eingerichtet war, einen Vertenskreuzer, der im Hafen von St. lag. Besegelte die ganze Ostsee, immer allein, und genoss das Leben auf dem Meer. Im Frühsommer des Jahres, in dem er fünfundfünfzig wurde, hatte er sich eine Auszeit genommen. Ole, sein Geschäftsführer, zwanzig Jahre jünger als er, schnell, schlau und ehrgeizig, würde den Laden in seiner Abwesenheit steuern, ein halbes Jahr lang, über den ganzen Sommer hinweg. Er fischte Gerti im Hafen von W. aus dem Wasser. Der Mann, mit dem sie damals verheiratet war, hatte sie im Streit über Bord geworfen und mit seiner protzigen Motoryacht abgelegt. Wietten rettete sie, weniger vor dem Ertrinken als vor dem bösen Gatten. Und kaum eine Stunde später hockten sie bei heißem Tee in der Kajüte und machten sich über die Situation lustig.

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