Der Hund kam früher als erwartet. Wir hatten einen sehr großen, unter europäischen Campern berühmten Platz am Balaton angesteuert, wo wir sofort einige Paare trafen, denen wir auf unserer Tour schon begegnet waren. Unter anderem die beiden älteren Herren aus Dänemark, die uns erklärt hatten, sie seien ein Ehepaar und könnte bald silberne Hochzeit feiern. Die hatten direkt nach der Pensionierung ihren Haushalt aufgelöst, das Häuschen bei Esbjerg verkauft und den Erlös in einen umgebauten Reisebus investiert. Mir kamen sie sehr dänisch vor, obwohl ich eigentlich keine Vorstellung davon hatte, wie Dänen im Allgemeinen sind. Rasmus und Ove, so hießen die zwei, waren im vierten Jahr unterwegs und richteten sich inzwischen nach den Jahreszeiten: Die Winter verbrachten sie im Süden der iberischen Halbinsel, im Hochsommer traf man sie meist hoch im Norden, im Frühling ging es immer nach Südfrankreich und Norditalien, und im Herbst waren dann entweder die britischen Inseln oder eben Österreich, Ungarn, Tschechien und andere östliche Länder dran. In Spanien hatten sie im ersten Jahr eine Streunerin aufgegriffen, eine Windhündin von der Rasse der Galgos. Das Tier war nicht weniger zurückhaltend und höflich als seine Herren, dazu aber ziemlich misstrauisch.
Luden Rasmus und Ove Leute zur Party vor ihrem Bus ein, zog sich Tigra, so ihr Name, in mobile Heim zurück und ließ sich den ganzen Abend nicht sehen. Und nun hatte die Galgo-Dame einen Wurf produziert, nachdem sie sich – so drückte es Ove aus, mit einem strammen belgischen Schäferhund eingelassen hatte. Die sieben Welpen waren gut zwölf Wochen zuvor in der Nähe von Dubrovnik zur Welt gekommen, und weil die Hundebabys so wunderbar gelungen waren, hatten fünf von ihnen noch in Kroatien neue Halter gefunden. Nummer Sechs wollten die Dänen behalten, aber der siebte Sproß, der war zu haben. Eine Hündin, dünn wie ihre Mutter aber mit dem Kopf ihres Vaters und einem drahthaarigen Fell. Dunja wurde die Begleiterin auf dem Rest unserer Reise, die uns von Ungarn aus nach Triest führte, dann quer durch den Norden Italiens, den wir ja schon kannten, bis ins Languedoc auf einen Platz in der Nähe von Béziers mit eigenem Strand. Es war inzwischen Oktober, die Nächte wurden kühl, und ab dem 15. verließen die meisten Camper den Platz, sodass wir mit den Dauerbewohnern allein blieben.
Charlene schlief inzwischen viel, nachts nie weniger als neun Stunden, und tagsüber legte sie meist zwei Nickerchen ein. Sie aß zunehmend weniger, trank aber immer mehr Wein. Eigentlich zu jeder Mahlzeit außer dem Frühstück, und der mit Wasser verdünnte Rosé der Region war ihr üblicher Erfrischungs-Drink. Wir sprachen nie über ihre Krankheit, weil uns beiden klar war, dass es kein Gespräch etwas ändern würde. Dass es auch unerheblich war, welche Diagnose ein Arzt stellen würde. Wir konzentrierten uns ganz darauf, gut miteinander umzugehen. Und verbrachten viel Zeit damit, Dunja auszubilden. Offensichtlich hatte sie das enorme Lernvermögen der Malinois geerbt, denn schon mit kaum drei Monaten beherrschte sie alle Grundkommandos aus dem Eff-Eff. Weil sie zudem ganz extrem auf Charlene und mich bezogen war, ging sie ab ihrem fünften Monate nur noch ohne Leine – außer da, wo man uns Zwang, den Hund anzuleinen. Ganz offensichtlich mögen die Franzosen im Süden keine Hunde, denn wir wurde häufig schlecht behandelt oder gar beschimpft, wenn wir mit der Hündin unterwegs waren.
Schließlich brachen wir nach Deutschland auf, weil Charlene so gern einmal Weihnachten im Land der Tannenbäume erleben wollte. Sie war inzwischen einigernmaßen schwach und wog kaum noch 45 Kilo. Zum Essen konnte ich sie nur noch mit ihren Lieblingsspeisen verlocken. Sie hatte sich halblegal Schmerzmittel beschafft, die ihr die wachen Stunden erträglich machten, und ganz auf Alkohol verzichtet. Waren wir auf Tour, erzählte sie mir stundenlang Geschichten aus ihrer Kindheit. Dunja lag dann im Fußraum und hörte auch zu. Man habe sie immer „Bastard“ genannt, und das habe ja sogar gestimmt, denn ihr Vater sei ja Indianer gewesen, vom Stamm der Winnipeg. Ein schwerer Trinker, der sich davonmachte als Charlene gerade sechs war. Seinen Hund, einen großen Mischling mit viel Fell und einem Ringelschwanz habe er einfach dagelassen, und der Rüde haben sieben Tage und sieben Nächte nach seinem Herrchen geweint. Dann habe der Hund eine Entscheidung getroffen und Charlene als neue Herrin adoptiert. Nachdem sie mit der Mutter nach Alaska gezogen war, in einen kleinen, schmutzigen Fischerort unweit von Juneau, hatte man den Hund erschossen, weil er kaum 200 Yards vom Haus entfernt in den Wald gelaufen war und der Schütze ihn für einen Wlf gehalten hatte.
Als wir zum ersten Mal den Rhein bei Weil sahen, ganz im Süden Deutschlands, waren wir beeindruckt. Mit jedem Kilometer weiter nördlich stieg unsere Bewunderung, und das Rheintal zwischen Mainz und Remagen nahm uns vollends gefangen. Wir beschlossen, an diesem Strom sesshaft zu werden. Anders als in Frankreich begegneten die Menschen hier unserer Hündin mit Wohlwollen, teils mit Begeisterung, und nicht selten hieß es, das sei aber ein schöner Hund. Dunja war jetzt mit knapp einem Jahr zu einer sehr souveränen, freundlichen Hündin geworden, die vor nichts Angst hatte und die wir auch einfach allein auf dem Campingplatz lassen konnten. Wir hatten eine Hundehütte angeschafft, die immer neben dem Eingang zu Homer II stand, und dort wartete sie geduldig auf uns. Nicht ohne gelegentliche Ausflüge über den Platz zu machen und andere Hunde zu besuchen. Charlene konnte sich an den Schlössern und Burgruinen nicht sattsehen, obwohl es ihr inzwischen große Mühe machte, mehr als vier, fünf Stufen nacheinander zu gehen. Manchmal trug ich sie, denn nun war sie so abgemagert, dass sie kaum mehr wog als ein Kind.
In Düsseldorf fanden wir einen großen Platz auf der linken Rheinseite, ganz nah am Fluss. Charlene war nicht mehr reisefähig. Also kaufte ich ein kleines Auto, damit wir zu dritt überhaupt nich gemeinsam irgendwohin konnten. Ob sie nicht doch in ein Krankenhaus wolle, fragte ich eines Abends, es wird der zweite oder dritte Advent gewesen sein. Aber sie schaute mich nur vorwurfsvoll an und sagte: „Hatten wir das nicht geklärt?“ Dunja suchte zunehmend die Nähe ihrer Herrin und kuschelte sich zu ihr, wenn Charlene tagsüber schlief. Zwei Tage vor dem Heiligabend rief völlig überraschend Bill an, von dem wir seit fast anderthalb Jahren nichts mehr gehört hatten. Er habe die Truppe aufgelöst und sich zur Ruhe gesetzt, in Lousiana, da habe er eines dieser kleinen Häuschen erworben, wo wir einmal im Winterquartier gewohnt hätten. Aber er plane, endlich mal nach Europa zu reisen; er wolle den alten Kontinent noch einmal sehen bevor er den Löffel abgebe. Ob wir uns treffen könnten. „Klar“, sagte ich, verschwieg ihm aber Charlenes Zustand. Er solle doch nach Möglichlichkeit nach Düsseldorf fliegen, wir würden ihn abholen.