Wir waren beide nicht passend zum Anlass gekleidet. Die Bildungsbürger hatten sich feingemacht, und die betroffenen Künstler waren entsprechend ihres jeweiligen Markenkerns kostümiert. Man hatte eine viel zu große Location gewählt, sodass sich die vielleicht zweihundert Gäste im Saal verloren. Da hatte ich es vorgezogen, die Fotos von der Empore aus per Tele zu schießen. Ich lehnte gerade an einer der tragenden Säulen und wartete auf den nächsten Redner. Da sah ich sie fünf Säulen weiter stehen. Halbverdeckt vom Stützwerk, nur das Profil und die Linie ihrer Figur war sichtbar. Ein besonders auffällig kostümierter Künstler betrat das Podium, Beifall brauste auf, und sie trat vor. Sah mich aus den Augenwinkeln, erstarrte kurz, drehte sich dann zu mir um und musterte mich. Ihr Blick traf mich voll auf die Zwölf.
Betont lässig schlenderte ich rüber. Hi, sagte ich, auch dienstlich hier? Ihre Mundwinkel bewegten sich ein wenig. Ihre Nasenflügel ebenfalls. Sie holte tief Luft, nickte kurz und sagte: Nein. Unten hielt jemand mit leicht hysterischem Ton eine Eloge auf den aktuellen Künstler, der vermutlich den Hauptpreis abgeräumt hatte. Ich sagte noch einmal Hi und hielt ihr die Hand hin: Albert Winzen, Fotograf, sehr erfreut. Sie griff nicht zu, sog erneut eine doppelte Portion Atemluft ein und sagte leise: Schmitz. Mmh, gab ich zurück, schöner Vorname. Endlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Von diesem Augenblick war ich verliebt, heftig verliebt.
Später stritten wir gern darüber, wie man das nannte, was sie an diesem Tag anhatte. Sie bestand darauf, es Hemdblusenkleid zu nennen, ich bezeichnete es als Kasack oder Kittel, was sie regelmäßig wütend machte. Jedenfalls war das Kleidungsstück jeans-farben, relativ gerade geschnitten, mit kurzen Ärmeln, einem Stehkragen und durchgeknöpft von oben bis unten. Audrey Hepburn trug so etwas in Süßer Fratz, sagte sie dann. Da war das Hemdblusenkleid von Chanel und tres chic. Der Kittel, den sie bei dieser Preisverleihung trug, war nicht unbedingt schick, aber auf eine geheimnisvolle Art sexy. Wobei ich vermutlich jedes andere Kleidungsstück an Frau Schmitz ebenfalls sexy gefunden hätte. Es kommt immer auf den Inhalt an.
Bin privat hier, flüsterte sie und wandte sich wieder dem Geschehen unten im Saal zu. Ich rückte näher. Wir ließen diese und die nächste Rede schweigend über uns ergehen. Dann lehnten wir an derselben Säule, sie rechts, ich links. Mein Bruder, sagte sie und zeigte auf den Typ, der in diesem Moment die Bühne betrat. Der sah erfrischend normal aus. Im Gegensatz zu seinen Kollegen lächelte er freudig und winkte ins Publikum. Und, fragte ich, bemüht witzig zu sein, heißt er Müller oder Meier. Es prustete neben mir ein bisschen. Blödmann, zischte sie. Oh, gab ich zurück, auch ein schöner Vorname. Da platzte es aus ihr heraus. Leider in einem Moment relativer Stille im Auditorium. Ich schwöre, dass sich jeder einzelne Kopf im Publikum und auf dem Podium uns zuwandte.
Und eigentlich hätte ihre Lache den Ehrenpreis des Abends verdient. Es war laut und unkontrolliert, eher tief, als schrill, dreckig, verdorben, sehr erwachsen und ungeheuer erotisch. Dieses Geräusch, das wusste ich, kam nicht einfach aus dem Kehlkopf, sondern aus irgendeinem Organ tief im Süden. So plötzlich sie begonnen hatte, so plötzlich erstarb ihr Lachen. Sie setzte einen schuldbewussten Blick auf, hielt die Hand vor den Mund und gluckste noch ein paar Mal. Von diesem Augenblick an war ich nicht nur verliebt, ich war ihr verfallen.
Wir traten gemeinsam den Rückzug an und fanden uns auf dem Parkplatz vor der Halle wieder. Da standen wir uns gegenüber, und ich zählte die Knöpfe an ihrem Kleid. Es waren 21 Stück. Also, sagte ich mit einer Verlegenheit, die ich seit der mittleren Pubertät einem Mädchen gegenüber nicht mehr gespürt hatte, ich bin der Albert – You Can Call Me Al. Ah, machte sie, Paul Simon, haben meine Eltern früher gern gehört. Dieses Mal reichte sie mir ihre Hand, und sie tat es wie ein Kerl auf dem Bau. Sibylle heiße ich – you can call me Sibylle. Ich schlug ein und ließ nicht mehr los. Kann ich sie wiederhaben? fragte sie und zeigte mit der linken auf ihre rechte Hand. Auch mit dem Auto hier? fragte ich. Sie schüttelte den Kopf: Mit dem Bus. Kann ich dich irgendwohin bringen? Sie dachte kurz nach und sagte dann mit einer kantigen Kopfbewegung: Okay.
Sie wohnte auf der entgegengesetzten Seite der Stadt, die nur über diese Verbindungsstraße mit der Dauerbaustelle zu erreichen war. Wir hatten also Zeit uns zu unterhalten. Und was machst du so? stellte ich die blödeste aller Fragen. Und bekam die passende Antwort: Mit dir im Auto sitzen. Ich gab mir Zeit, eine originelle Frage zu entwickeln. Lebst du gern hier? fiel mir ein. Aber ich traute mich nicht, damit zu eröffnen. Also tat ich, worin ich gut bin: Ich plapperte einfach drauf los. Berichtete, warum ich bei der Veranstaltung war, wer mich beauftragt hatte, wer mich alles beauftragt, wie das Geschäft läuft, was ich so in meiner Freizeit mache, welche Musik ich mag und dass ich seit einem Jahr von meiner Ehefrau getrennt lebte. Sibylle hatte die ganze Zeit über geradeaus durch die Windschutzscheibe geschaut. Jetzt drehte sie ihren Kopf um 90 Grad und sagte: Ich bin seit neun Tagen geschieden.
Später fragten wir uns oft, welche Gedanken wir zu diesem Zeitpunkt hatten. Sie beharrte darauf, dass ich ihr in diesem Moment überhaupt noch nicht gefallen hätte. Im Gegenteil, dass sie ich für einen typischen Versager mit Dauer-Midlife-Crisis gehalten habe. Meine Meinung war, sie habe nach meiner Aussage überlegt, ob ich nicht der nächste Partner für sie sein könne. Umgekehrt! ruft sie dann. Und ich bringe es nicht über mich, ihr Recht zu geben.
An unserem ersten Abend durfte ich sie bis zur Tür bringen und sie öffnete drei Knöpfe. Es waren unwillkürliche Handbewegungen wie von jemandem, der zuhause ist und es sich bequem macht. Ich muss ausgesehen haben wie ein hungriger Hund, der den Fingern, die sein Leckerchen halten, mit den Augen folgt bis er es bekommt. Dann hielt ich ihr meine Karte hin und sagte lahm: Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder. Bestimmt, antwortete sie mit einem offenen Lächeln, drehte sich um, schloss auf und verschwand im Hausflur.
Es dauerte nur 37 Stunden bis zu diesem nächsten Mal, das im Baumarkt stattfand. Ein Mensch, gut anderthalb Köpfe kleiner als ich, bekleidet mit einer beuteligen Cargohose und Ringel-T-Shirt blockierte den Zugriff auf genau die Aufputz-Steckdose, wegen der ich diesen verhassten Ort aufgesucht hatte. Die Figur bewegte sich von links nach rechts, ging manchmal ein wenig in die Knie oder streckte sich. Entschuldigung, sagte ich, darf ich kurz? Nein, raunzte die Gestalt ohne sich umzudrehen. Aber da hatte ich ihre Stimme schon erkannt. Mit dem bisschen Gesangstalent, das ich von Mama geerbt habe, trällerte ich You Can Call Me Al. Mit einem Ruck drehte sie sich um und starrte mich fassungslos an. Lange nicht gesehen, sagte ich. Sibylle nickte. Ich nutzte die Gelegenheit, an ihrer Hüfte vorbei ins Regal zu greifen und die gewünschte Steckdose zu erhaschen. Was machst du denn hier? kam es aus ihr, und es hörte sich an, als setzte sie hinter jedes einzelne Wort ein Fragezeichen.
Steckdose kaufen, und du? Ich auch, schaffte sie noch, bevor ihr wieder ein Lachanfall kam, der den Rest des Baumarkts zum Schweigen brachte. Als sie fertig war, sah ich sie an und sagte: Du weißt schon, dass ich dich liebe? Da zog sich ihr Gesicht zusammen zu einem Ausdruck von Unwillen, Angst und Hilflosigkeit. Ich bog die Sache ab und fragte: Was brauchst du denn? Pragmatik ist das beste Gegengift bei aufkommender Romantik, das ist bekannt. So fing sie sich und erklärte ihr technisches Problem. Kann ich dir bei helfen, merkte ich mit einem fachmännischen Kopfnicken an. An diesem Tag trug sie nichts um Aufknöpfen, aber in Gedanken kam ich ungefähr bis zum Knopf Nummer 9.
Später stellte sich heraus, dass sie mehrere dieser Hemdblusenkleider besaß, dass aber längst nicht alle mit 21 Knöpfen geschlossen wurden; manche hatte nur siebzehn oder gar bloß elf davon. Aber bei unserer dritten Begegnung, immerhin gut drei Monate nachdem ich ihr die elektrische Installation in der Wohnung in Ordnung gebracht hatte, trug sie das blaue Kleid mit den weißen Perlmuttknöpfen. Dieses Mal war ich privat da. Theo, der Umtriebigste der Umtriebigen der Stadt, hatte eine Party organisiert und dafür eine alte Lagerhalle angemietet und feten-tauglich gemacht. Eine schwungvolle Live-Kapelle hatte mit einer Art Polkamusik für Stimmung gesorgt, und dann legte ein ebenfalls berüchtigter DJ alles Mögliche zum Tanzen auf. Nun bin ich passionierter Nichttänzer und hatte mich mit einer schönen Flasche Bier an die Wand zurückgezogen, um das Geschehen zu beobachten.
Übrigens war ich nicht nur Tanzabstinenzler, sondern auch schüchtern. Als mir klar wurde, dass mir eine neue Beziehung gut tun würde, hatte ich nicht etwa die Suchfunktion eingeschaltet; ich setzte ganz darauf gefunden zu werden. Meine Theorie lautet: Kommt dir eine Frau so nah, dass du mir ihr sprechen kannst, hast du sie schon halb im Bett. Die Praxis meines Lebens sah anders aus, und ich hatte schon ernsthaft in Erwägung gezogen, das Internet als Kontaktbörse zu nutzen. Jedenfalls war ich an diesem Abend bei dieser Party nicht auf Brautschau. Trotzdem oder deshalb erschrak ich fürchterlich als ich merkte wie sich ein Arm um mein Taille schlang. Gefolgt von einem Hey, Al direkt an meinem Ohr. Es kam zu den ersten Küssen zwischen Sibylle und mir, die man aber noch als freundschaftlich bezeichnen und der Kategorie Bussi zuordnen muss.
Sie brachte mich zum Tanzen. Sibylle Schmitz bringt Al Winzen zum Tanzen, so hätte die Schlagzeile am nächsten Tag lauten müssen. Als ich vor ihr herumzuckte, sah ich ein paar bekannte Gesichter, deren Ausdruck zwischen Erstaunen und Entsetzen changierte. Hey, hast du gesehen, Al tanzt? Irgendwann kam es mir vor, als seien wir das einzige Paar in Bewegung, und alle anderen ständen im Kreis und sähen uns zu. Und da beschloss ich, mein Hirn auszuschalten und mich ganz der Bewegung hinzugeben. Mein Mantra war ihr Gesicht, das meist mit geschlossenen Augen vor mir schwebte. Dann gab es eine Pause. Sie nahm mich bei der Hand und führte mich zurück in die Ausgangsecke. Du tanzt gut, sagte sie, und es hörte sich nicht an wie eine Lüge. Es war Sommer, draußen war es warm, drinnen heiß, und sie öffnete freiwillig elf Knöpfe, um sich in die entstandene Öffnung Luft zu fächeln.
Dann standen wir vor der Tür, mitten im Industriegebiet und wussten nicht, ob wir uns was sagen sollten. Die Gewichte hatten sich verschoben, das spürte ich deutlich. Frau Schmitz wollte nun was von mir, so viel war klar. Ich reichte ihr meine halbvolle Bierflasche, sie nuckelte dran und sah mich an der Mündung vorbei forschend an. Heiß, nicht? smalltalkte ich. Sie verdrehte die Augen und reichte mit mein Bier. Schwimmen gehen? fragte sie und drehte dabei ihr Gesicht ein wenig zur Seite und nach unten. Schüchtern kann sie auch, dachte ich und nickte. Dann fanden wir das Loch im Zaun vom Freibad nicht. Vielleicht morgen? fragte Sibylle nachdem wir aufgegeben hatten. Ich schwimm nicht so gern, antwortete ich. Und damit hatte ich wieder eine Chance vertan.
Es dauerte beinahe ein Jahr bis wir uns wiedersahen. Anfangs fuhr ich oft zu dem Haus, in dem sie wohnte, traute mich aber nicht zu klingeln. Sie hatte meine Nummer, rief aber nie an. Und so oft wir uns davor zufällig begegnet waren, so vollkommen blieb sie verschwunden. Zweimal ging ich zu Ausstellungseröffnungen mit den Werken ihres Bruders. Aber sie war nie da. Jeden zweiten Samstag lungerte ich im Baumarkt herum, ohne sie je zu treffen. Im Club wurde ich Stammgast, aber sie tauchte nie auf. Nachts wachte ich manchmal auf, weil ich meinte, ihr Lachen gehört zu haben. Im Traum knöpfte ich Dutzenden von Frauen die Hemdblusenkleider auf, nicht alle sahen aus wie Sibylle Schmitz.
Im Mai erbte ich Ingo, den Mischling, den meine Schwester aus dem Tierheim geholt hatte. Ich übernahm ihn, weil sie sich mit dem süßen, knuddeligen Hund überfordert fühlte. Während ich an einem öden, aber lukrativen Projekt arbeitete, blieb mir genug Zeit, jeden Tag ein, zwei Stunden mit dem Köter am Fluss spazierenzugehen. Der Sommer wurde nicht so heiß wie im Jahr davor. Es regnete häufig. Manchmal stand ich über lange Zeit an den hohen Fensterscheiben in meinem Atelier und sah dem Wasser zu, das draußen in Perlen übers Glas lief. Der Hund kannte nur zwei Zustände: an oder aus. War er aus, hatte ich alle Ruhe, ein paar Dutzend der genau einundzwanzigtausendvierhundertzweiunddreißig Bauteile in der Hohlkehle zu arrangieren und dann nach einem festgelegten Programm zu fotografieren.
War er an, konnte ich die Arbeit für den Hersteller von Druckgusskunststoffteilen für den Kleinmaschinenbau vergessen. Entweder wir tobten drinnen herum, spielten wilde Zerrspiele oder wälzten uns wie die Welpen auf dem Boden, oder wir marschierten durch das hohe Gras am Ufer, die gemähten Wiesen am Deich oder im Wald am See. Manchmal kamen wir am Freibad vorbei, und ich dachte jedes Mal an Frau Schmitz. Dann ärgerte ich mich jedes Mal sehr über mich, dass ich in den paar Monaten des vorherigen Sommers nicht ein einziges Foto von Sibylle geschossen hatte. Dank Ingo war ich nicht einsam, dank Sibylle Schmitz war ich an Frauenbekanntschaften und Flirts nicht interessiert.
Laut der Arbeitsliste lag ich bei den Teilen siebzehntausendachthundertvierzig bis -sechsundneunzig. Ich genoss die Abwechslung, denn in dieser Serie kamen auch andere Farben vor als grau, schwarz und dunkelgrün. Der cognacfarbene Jungrüde lag in seinem Körbchen auf dem Rücken, während ich Stücke in orange, dunkelblau und sogar pink anrichtete. So lange ich diese Arbeit ausführte, ließ ich die Jalousien an den Fenstern zum Garten offen, die ich erst schloss, um anschließend das Licht einzurichten und die Kamera bereit zu machen. Als ich gerade mit dem Dutzend Teile in der hellgrauen Hohlkehle fertig war, hörte ich Ingo knurren und dann laut kläffend zur Fensterseite zu laufen. Sie trug ein bordeauxrotes, ärmelloses Kleid mit rundem Ausschnitt, das ihr bis knapp übers Knie reichte, stand dicht an der Scheibe, hatte die Hände ans Glas gelegt und war gerade dabei einen Kuss mit ihrem ebenfalls dunkelroten Lippenstiftmund aufs Fenster zu setzen.
Fotografierst du auch Menschen? fragte Sibylle, nachdem ich die Schiebetür geöffnet hatte und sie eingetreten war. Ingo tanzte aber um sie herum, hatte aber das Bellen eingestellt. Das Kleid war von oben mit einem goldenen Reißverschluss versehen. Ich nickte. Gut, sagte Frau Schmitz, fand den Schalter und schloss die Jalousien. Lange hielten wir uns im diffusen Licht in den Armen und küssten uns auf verschiedene Weise. Der Hund hatte sich zurückgezogen. Keine Knöpfe? fragte ich. Keine Knöpfe, bestätigte sie und sagte: Knöpfe sind digital, auf oder zu, aber der Reißverschluss ist analog, den kannst du stufenlos öffnen – so weit du willst oder darfst. Ich durfte ihn vollständig öffnen, und sie ließ das Kleid über die Schultern zu Boden gleiten.
Viel später an diesem Nachmittag habe ich Sibylle Schmitz dann auch fotografiert. Vermutlich kennen Sie einige der Aufnahmen; aus der Ausstellung und den Medienberichten darüber oder aus dem Buch: Al Winzen fotografiert Frau Schmitz. Sieben Drucke in Lebensgröße haben wir rahmen lassen und im Haus aufgehängt. Unseren Töchtern wird es langsam peinlich, dass das Bilder ihrer nackten Mutter hängen, denn sie kommen langsam in die Pubertät. Besonders peinlich finden sie es, wenn Sibylle und ich vor den Fotos tanzen und sie dabei ein durchgeknöpftes Hemdblusenkleid trägt.