Die geheime Stadt

Hinterm Dorf stieg die Wiese zum Wald zunächst sanft an hinter der Senke, durch der Fasanbach floß, dann steiler bis zu den erste Tannen. In dem Sommer, in dem Alfons neun Jahre alt wurde, waren er und seine Freunde jeden Nachmittag nach der Schule und in den Ferien jeden Tag mehrmals mit den Räder aufwärts gefahren und hatten einen Steg angelegt, um einfacher über das Gewässer zu gelangen, das in der warmen Jahreszeit nicht mehr war als ein Rinnsal, im Frühjahr aber durch das Schmelzwasser zu einem rauschenden Bach anschwoll. Auf den Gepäckträgern und ihren Rucksäcken transportierten die Jungen Baumaterial und Werkzeug, weil sie weit oben im Gehölz etwas errichten wollten.

Alfons war wie die meisten anderen eher ein Helfer als einer der Burschen, die das Projekt planten und vorantrieben, allen voran der Kirnbucher Maichel, Sohn vom Landhandel, ein stämmiger Kerl von unfreundlichem Wesen, der allen anderen mit seiner Intelligenz und Zielstrebigkeit überlegen war. Und so transportierten sie Bretter, die sie auf den Höfen fanden und die ihnen Dorfschreiner Barthel gab, rostige Nägel und Beschläge sowie Werkzeug, das sie sich bei den Vätern ausliehen, in den Antmooser Forst, hoch zu der kleinen Lichtung fast auf dem Kamm, die sie die durch Roden von Büschen und kleineren Bäumen deutlich vergrößert hatten.

Am Ende des ersten Sommers stand die erste Hütte. Ein solider Bau aus vielen armdicken Ästen, die sie mit der Axt geschlagen und dann händisch geschält hatten. Außerdem hatten sie gleich neben dem Häuschen eine Art Hochsitz errichtet, eine Plattform in gut vier Meter Höhe, von der aus der Blick durch die Schneise, die der große Sturm von 1967 geschlagen hatte, über das Tal mit dem Dorf fiel. Als aber schon Ende September das Wetter umschlug, machten sie die Gebäude wetterfest und verabredeten sich für das kommende Frühjahr. Denn Malche hatte weitere Hütten, Verschläge und Türme geplant.

Genau in diesem September kam Maria mit ihrer Großmutter ins Dorf, eine Waise aus der Stadt, der außer der Oma keinerlei Verwandte geblieben waren als ihre Eltern bei einem Autounfall ims Leben gekommen waren. Sie war ein gutes Jahr älter als Alfons und kam in die Parallelklasse. Schon am ersten Tag nach den Ferien war sie ihm auf dem Schulhof aufgefallen, weil sie größer war als die anderen Mädchen und Hosen anhatte. Außerdem war ihr tiefschwarzes Haar nicht zu Zöpfen geflochten wie bei den anderen, sondern so kurz geschnitten, dass die besonders frechen Jungen aus der sechsten Klasse sie neckten und riefen, was für ein merkwürdiger Bua sie sei.

Bald wurde im Ort über Maria geflüstert, und wäre ihre Großmutter nicht dort geboren und gut bekannt, wer weiß, ob man sie nicht so gehänselt hätte, dass man sie hätte von der Schule nehmen müssen. An einem Donnerstag im späten Oktober schob Fonse, wie ihn die Freunde nannten, sein Rad die Mühlenstraße hinauf. Der Regen fiel dicht und kalt, und der eisige Wind von den Höhen des Bergkamms nördlich vom Dorf machte jeden Meter schwer. Da kam ihm Maria entgegen in ihrem feuerroten Anorak, vorwärts getrieben vom Sturm. Direkt vor der Fleischerei Bissl trafen sie aufeinander, weil beide bemüht waren auszuweichen. Wenn er sein Rad zur rechten Straßenseite bewegte, wich sie nach links aus und umgekehrt. Vor dem Schaufenster standen sie sich dann gegenüber. Maria lachte laut, und Alfons musste grinsen. Griaß di, rief sie, wanderst aus? Ihm fiel keine schlagfertige Antwort ein, also schüttelte er den Kopf und stapfte wieder los.

Maria und Alfons trafen sich dreiunddreißig Jahre später wieder beim Metzger Bissl, dessen Geschäft der Filiale einer Supermarktkette hatte weichen müssen. Fonse war im Dorf geblieben und hatte das Fuhrunternehmen des Vaters übernommen. Über die Jahrzehnte hatte er immer wieder an Maria gedacht, ein unscharfes Gefühl, das er nicht in Worte fassen konnte. Je älter er wurde, desto klarer war ihm geworden, dass Marias Abwesenheit möglicherweise der Grund dafür war, dass er Junggeselle geblieben war. Das Bild von ihr im heftigen Regen im roten Anorak hatte ihn nie verlassen. Und jetzt sieht er auf, während er den Einkauf aus dem Wagen aufs Kassenfließband liegt, und vor ihm steht eine Frau mit langen schwarzen Haaren in einer feuerroten Bluse, die ihn anlächelte. Griaß di, immer noch nicht ausgewandert?

Gegen Abend wandern sie Hand in Hand über die Wiesen, auf der anderen Seite des Tals sinkt die Sonne. Sie erreichen die Stelle, an der einst der Steg über den Fasanbach führte. Aber den gibt es schon lange nicht mehr. Also ziehen sie die Schuhe aus, und Fonse krempelte die Hosenbeine hoch. Sie waten durch das knöcheltiefe Wasser, und auf der anderen Seite fasst er sie um die Hüften und hebt sie aus dem Bach auf das höherliegende Ufer. Sie erzählen sich unterwegs ihr Leben. Alfons ist nur wenig rumgekommen; seine weitesten Fahrten mit den Lastzügen gingen bis in die Landeshauptstadt und einmal bis nach Budapest. Dafür konnte er alles, was seit ihrer Flucht aus dem Dorf geschehen ist, bis ins Detail schildern. Warum sie zur Beerdigung der Oma nicht gekommen sei, fragt er. Maria bleibt stehen, fasst ihr Haar mit einer Hand zusammen und dreht es zu einem lockeren Dutt, den sie am Hinterkopf feststeckt.

Weißt, Fonse, da war ich so weit weg, dass ich von ihrem Sterben erst erfahren habe, da war sie schon ein paar Wochen unter der Erde. Und dann berichtet sie von den fernen Ländern und den großen Städte, die sie gesehen hat, von abenteuerlichen Reisen, von schlimmen Erlebnissen und glücklichen Momenten, von Menschen fremder Völker, von Künstlern, Heilern, Mördern und Händlern. Und von all dem, was sie zu tun hatte, nur um zu überleben. Aber jetzt sei sie ja wieder daheim. Sie habe ja das Haus der Großmutter an der Hauptstraße geerbt und wolle nun dort bleiben. Wie lange, fragt er, und sie sagt: Wenn’s passt für immer. Es dämmert als sie den alten Geheimpfad durchs Gehölz erreichen. Maria ist nie hier oben gewesen; die Oma hatte es ihr verboten. Allzu neugierig war sie nie gewesen. Also weißt du nichts von unserer kleinen Stadt da oben? Sie schüttelt den Kopf: Willst mich verarschen, was?

Dann stehen sie an den Palisaden, die diese Ansammlung von Hütten, Verschlägen und Türmen umgibt. Als sie ihre verborgene Stadt über vier Sommer hinweg errichteten, waren sie zu zwölft. Aber nur der Hias, der Karl und haben die Anlage in den vielen Jahren seit damals gepflegt und erhalten. Auch nachdem sich der Kirnbucher Malche sich im Alter von nur dreiundzwanzig Jahren am Hochsitz, den er selbst geplant und größtenteils selbst erbaut hatte, erhängt hatte. Es hieß, er habe Liebeskummer gehabt. Ein Junge aus der Stadt, in den er wohl sehr verschossen war, hätte ihn zurückgewiesen. Aber Fonse weiß, dass es einen anderen Grund gibt, den nicht zu nennen, die Freunde allerdings feierlich geschworen haben.

Alfons schließt auf und führt die Frau hinein, die er nie hat vergessen können. Und erst jetzt traut er sich, sie anzusehen, sie richtig anzusehen, diese schöne Frau, die ziemlich genauso groß ist wie er, mit demselben klaren Gesicht und denselben grünen Augen wie damals. Sie steht da in ihrem Sommerkleid auf starken Beinen, die Rundungen genau am rechten Fleck, Hände mit langen schlanken Fingern an Armen mit Muskeln wie sie Sportlerinnen haben. So geleitet er sie in seine Hütte, die inzwischen eher ein Haus ist mit zwei Zimmern, einer Dusche und einer separaten Toilette. Hier wohnt er, wenn er der Familie und den Mitarbeitern sagt, er sei im Urlaub. Wenn er hier wohnt, verlässt er die geheime Stadt nur, um zu jagen oder Pilze, Kräuter und Beeren zu sammeln. Sogar elektrischen Strom und fließendes Wasser hat er hier, weil er über sechs Jahre insgeheim eine Leitung von unten aus dem Tal hier auf den Hügelkamm gezogen hat, Meter für Meter, und weil er die Quelle rund einen Kilometer entfernt anzapft und ihr Wasser zu einer Zisterne pumpt.

Er bereitet eine Mahlzeit, und sie essen draußen auf der Terrasse im Mondschein. Wer weiß noch von diesem Ort? Mit dir sind es genau fünf Menschen. Und nie ist jemand versehentlich auf diese Siedlung gestoßen, kein Wanderer, kein Jäger oder der Förster. Karl ist der Förster, sagt er, Wanderer ziehen weiter oben vorbei, und zum Jagen gibt’s hier auch nicht viel. Irgendwann sitzen sie sich schweigend gegenüber am Tisch. Sie legt ihre Hände auf seine Arme, die er vor sich auf der Tischplatte gekreuzt hat. Weißt, Fonse, unterwegs hab ich oft an dich gedacht.

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