Meta schiebt die Gardine ein Stück beiseite und schaut durch den Spalt auf den Vorgarten und den Gehsteig. Weißt du noch als Herbert gestorben ist? Minka dreht sich um und wischt die Hände an der Kittelschürze ab. Ja, das war eine schöne Beerdigung. Du warst am Ende betrunken. Ihre Schwester hebt den Blick und schüttelt den Kopf: Nein, du. Ich? Ich war ein bisschen beschwipst und hab mit dem Pfarrer getanzt. Bei Helmut war’s nicht so schön. Beide nicken still vor sich hin. Kannst jetzt die Gläser hinstellen, sagt Minka. Im Zehnlitertopf brodelt die Mirabellenmarmelade. Die Katze springt vom Fernsehsessel und setzt sich mitten in die Küche. Der wollte ja unbedingt eine Seebestattung, der Helmut. Meta hat die Gläser aufgereiht und die Schöpfkelle bereitgelegt. Freddy singt im Radio von der Heimat und dem Meer. Schön, dass es solche Sender noch gibt, sagt Minka.
Wie lang ist das her? Was? fragt Meta. Herberts Beerdigung? Bestimmt zwanzig Jahre. Die Zwillingsschwester füllt das erste Glas und schiebt es rüber. Meta verschließt es und stellt es kopfüber auf ein Küchenhandtuch. Sie arbeiten schweigend. War ganz schön anstrengend mit zwei Männern im Haus, sagt sie. Aber das große Haus war schön, meint Minka. Und der Garten. Immerhin haben wir ja jetzt auch wieder einen. Lieber einen Garten als zwei Männer, sagt Meta und lacht leise. Die Küchenuhr steht auf kurz vor acht. Tagesschau? Erst wenn wir fertig sind. Dann mach zu. Später sitzen sie wie immer verteilt auf dem Brokatsofa und dem Fernsehsessel, die Katze liegt in ihrem Winkel auf der kleinen Couch. Was kommt nach den Nachrichten? Meta beugt sich vor und zieht die Fernsehzeitschrift vom Kacheltisch. Ein Film mit Senta Berger. Die ist doch auch schon bald achtzig, sagt Minka.
Gegen halb zehn sind die Schwestern eingeschlafen auf ihren Plätzen vor dem Fernseher, während der Film auf sein Ende zusteuert. Die Katze hat sich aufs Fensterbrett begeben und beobachtet die Außenwelt. Wie immer wacht Minka als Erste auf, erhebt sich und stupst Meta an: Schlafenszeit. Sie haben sich zwei Waschbecken im Band installieren lassen, damit sie sich gleichzeitig fertig machen können morgens und abends. Im Bett kuscheln sie sich aneinander, und Meta seufzt leise. Schlaf gut. Du auch.
Mit achtundachtzig Jahren fällt die Arbeit im Haushalt nicht mehr so leicht. Besonders das Putzen ist ihnen schon lange zu anstrengend. Zweimal die Woche kommt Frau Enger. Die ist noch jung, unter sechzig. Die macht sauber, aber zufrieden sind die Schwester mit ihr nicht. Die wischt immer nur um die Möbel rum, hat Minka gesagt. Hast du auch immer gemacht, meinte Meta, die jedes Mal hinterherputzt, nachdem Frau Enger gegangen ist. Dann können wir es auch gleich wieder selbst machen. Spart Geld. Geld haben wir genug, antwortete Minka. Zeit auch, gab ihre Schwester zurück. Und weil Minka jedes Mal genörgelt hat, kam Frau Enger eines Tages nicht zur vereinbarten Zeit. Tatsächlich kam sie nie wieder zu den Zwillingsschwestern. Im Supermarkt hatte Meta beim Einkaufen einen Zettel am Schwarzen Brett gesehen und gleich mitgenommen. Da bot sich jemand als Putzhilfe an.
Beim ersten Mal trug Matilda ein geblümtes Kleid und zog sich vor der Arbeit um: blaue Leggins und ein Micky-Maus-T-Shirt. Sollen wir weggehen? fragte Minka. Nein, nein, stören Sie nicht, sagte Matilda fröhlich und ließ im Spülstein warmes Wasser in den Eimer laufen. Fang ich mit Badezimmer an. Ja, fangen sie mit dem Bad an, bitte. Können Sie mich duzen. Sagen Sie einfach Matilda, sagen alle. Nachname ist zu schwierig. Frau Katzimitzi, heißt die, hatte Meta nach dem ersten Telefongespräch mit der neuen Putzhilfe gesagt. Ist das eine Polin? Ja, kommt aus Polen. Spricht die denn deutsch? Ja, die spricht deutsch. Ist sie jung? Das weiß ich nicht. Matilda war, als sie ihre Stelle bei den Schwestern antrat, sechsunddreißig, eine alleinerziehende Mutter mit zwei schulpflichtigen Söhnen.
Nachdem sie drei, vier Monate geputzt hatte, waren Minka und Meta sehr zufrieden mit ihr. Sie riecht gut, sagte Minka eines Abends beim Zubettgehen. Und sie ist schön, ergänzte ihre Schwester. Und immer fröhlich, obwohl sie’s auch nicht leicht hat. Ich mag sie. Ich auch. Ich glaube, die mag uns auch. Ja, dass sie mich mag, hat sie mir schon gesagt – ich find sie nett, hat sie gesagt. Minka drehte sich weg.
Soll ich machen Ihre Haare? fragte Matilda eines Tages, weil sie gesehen hatte, dass Minkas Frisur außer Fasson war. Gerne! Als Meta vom Einkaufen kommt, seht sie ihre Schwester auf dem Küchenstuhl sitzen, während Matilda ihre Haare mit einer Bürste bearbeitet und dabei auf Polnisch singt. Ach, sagt sie, hast du jetzt eine Privatfrisöse? Minka lacht, und auch Matilda lacht. Muss Ihre Schwester doch schön aussehen, oder? Meta stellt die Tasche ab und geht in Hut und Mantel ins Wohnzimmer. Dort verscheucht sie die Katze und schaltet das Radio ein. Hans Albers singt davon, dass in seinem Herzen nicht nur eine Platz hat. Sie steht auf, zieht den Mantel aus und geht an den Schrank. Nimmt sich die Flasche Goldwasser, gießt sich ein Glas voll und trinkt es auf einen Zug aus. Und noch eins.
Dann weint sie leise. Minka findet ihre Schwester schlafend auf der Couch. Sie holt eine Decke aus dem Schlafzimmer und breitet sie über Meta aus. Gibt ihr einen sanften Kuss auf die Stirn und geht ins Bett. Am nächsten Tag ruft sie Matilda an und sagt, sie brauche nicht mehr zu kommen.