Erik und Parishad

Er musste noch schneller sein. Noch viel schneller! Er war das ganze Wochenende über schnell gewesen, von Freitagabend bis Sonntagnacht, er konnte jetzt nicht mehr bremsen. Überhaupt konnte er inzwischen kaum noch bremsen, weil er Angst vor dem Stillstand hatte. Er musste dauernd nachtanken, um immer ganz vorne dran zu sein. Nur so konnte er in der Agentur bestehen, ein kreatives Wunderkind. Der Termin war für zehn angesetzt, er wollte um zehn vor zehn da sein. Das Navi hatte 09:54 als Ankunftszeit ermittelt. Er musste schneller sein als das Navi. Die Einfallstraße nahm er mit neunzig. Schnell auf die linke Spur und an der F.-Straße schnell links abbiegen. Die Ampel zeigt schon Gelb. Gasgeben, und so sicher der X6 sonst auf der Straße liegt, das ist zu viel. Der Wagen schlingert, er kontrolliert ihn nicht mehr. Der schwarze Marmor unter den Schaufenster des Goldhändlers. Fast ungebremst gegen die Wand. Er ist nicht angeschnallt. Wird nach vorne geschleudert, das Stirnbein bricht. Sein Körper quer durchs Innere. Rippen, Unterarm, Schienbein, Füße, Hände, alles bricht.

Parishad hat Glück gehabt. Wartete an der Bushaltestelle, als von der Hauptstraße ein riesiges, schwarzes Auto angeflogen kam, auf die Seite kippte und mit der glänzenden Schnauze auf sie zukraste. Einen halben Schritt konnte sie noch zur Seite machen, dann erwischte sie das linke Vorderrad. Ihr Bein war vom Oberschenkel bis zum Fußknöchel insgesamt neunmal gebrochen, das Knie zerstört. Sie würde nie wieder tanzen können. Sie würde nicht mehr zum Balletunterricht gehen. Sie könnte nicht mehr Ballerina werden. Sie könnte froh sein, nach der Heilung wieder laufen zu können. Pari, sagte der Vater, weine nicht zu viel. Du wirst etwas anderes finden, das dich genauso erfüllt wie der Tanz. Aber sie konnte nicht aufhören zu weinen. Über sieben Monate weinte sie jeden Tag. Und weil Parishad jeden Tag weinte, weinten auch ihr Vater, die Großmutter, ihre Schwestern und der Cousin, der bei ihnen lebte.

Als Erik aus dem Koma erwacht, hat er keine Schmerzen und erinnert sich an alles. Selbst die Sekunde, in der er in die Bewusstlosigkeit fiel, steht als Bild klar und deutlich vor ihm. Die Welt stand Kopf und war mit Gold geschmückt. Jemand trompetete, und alles war voller schöner Kristalle. Und das liegt erst wenige Sekunden zurück. Ganz sicher ist er sich nicht, wie er in den weißen Raum und in das weiße Bett geraten ist. Eine kleine schwarzhaarige Frau in Weiß erscheint in seinem Blickfeld und sagt: Erik, Erik, sind Sie da? Ja, klar, denkt Erik, und versucht zu sprechen. Das geht nicht, also versucht er es mit Nicken. Auch das funktioniert nicht. Schließen Sie kurz die Augen, wenn sie mich hören und verstehen. Das klappt. Und er schläft sofort wieder ein.

Paris Vater ist vor den Mullahs geflohen. Sie ist schon hier geboren und fühlt sich kein bisschen persisch, obwohl sie Farsi spricht und versteht. Wie sollte sie sich auch sonst mit der Großmutter verständigen, die nur ihre Muttersprache spricht und ein wenig Französisch. Darius Pezehzadeh war Lehrer für Mathematik und Physik und früh Witwer geworden. Seine geliebte Frau war nur zwei Jahre nach der Ankunft an einem Herzinfarkt gestorben, sodass er die drei Töchter mit Unterstützung seiner Schwiegermutter aufzog. Weil er sehr schnell Deutsch lernte, fand er rasch eine Anstellung bei einem großen Elektrounternehmen. Er erwies sich als begabter Ingenieur, und als ihm sein Arbeitgeber eine Erfindung abkaufte, waren er und seine Familie plötzlich reich. Er hätte sich zur Ruhe setzen können, aber er hatte eine Idee. Gründete eine Sprachschule, die bald Filialen in allen größeren Städten hatte und sich als gute Investition erwies. So wuchsen die Schwestern in einigem Wohlstand auf.

Erik ist einunddreißig als er in die Reha-Klinik im Weserbergland kommt, Parishad hat gerade ihren siebzehnten Geburstag hinter sich. Am zweiten Tag sind sie sich im Park begegnet. Ein Pfleger schob ihn im Rollstuhl, während Pari selbstständig an Gehhilfen laufen konnte. Dann jeden Abend im Speisesaal. Nach einer Woche sitzen sie immer um dieselbe Uhrzeit am selben Tisch. Er hat sich geschworen, alle Fragen nach seinem Unfall zu ignorieren und nicht zu beantworten. Ihr geht es so ähnlich. Sie hat sich eine Geschichte ausgedacht, die viel dramatischer und auch romantischer ist als die Wirklichkeit. Und so reden sie meistens über ihre Familien und über ihre Kindheit. Sie beginnt Erik zu mögen, der inzwischen weit weg ist von seinem beschleunigten Leben, das ihn beinahe getötet hat. Nach acht Monaten heißt es in der Klinik, die beiden seien ein Paar.

Sie machen große Fortschritte, und als Pari ganz allein und ohne Krücken gehen kann, kann Erik endlich den Rollstuhl verlassen. Sie treffen sich täglich beim Schwimmen. Bald kennt sie jede seiner Narben und er ihre. An ihrem neunzehnten Geburtstag schlafen sie zum ersten Mal miteinander. Und zwei Wochen später hält Erik bei Darius, der wie jeden Samstag zu Besuch ist, um ihre Hand an. Natürlich ist sie eher geheilt als er und verlässt die Klinik. Da sie sonst nichts zu tun hat, widmet sie ihre ganze Zeit den Hochzeitvorbereitungen und der Einrichtung ihrer gemeinsamen Wohnung. Sie werden in ein wunderbares, großes Appartement in einem Hochhaus direkt am Fluss ziehen, das auf drei Seiten Terrassen hat, von denen man aus über die Stadt sehen kann. Das ist das Hochzeitgeschenk ihres Vaters. Jeden Tag macht sie Fotos und Videos von ihren Besorgungen und auch von der Wohnung. Einmal pro Woche fährt sie die gut einhundertfünzig Kilometer zur Reha-Klinik und bleibt über Nacht.

Als man ihn entlässt, weil man nichts mehr für ihn tun kann, holt sie ihn ab. Erik ist deprimiert, denn nun ist klar, dass er nie wieder richtig wird gehen können, dass er nie mehr rennen kann und wohl auch nicht radfahren. Parishad fährt ruhig und besonnen mit kaum hundertzwanzig über die Autobahn, als er unvermittelt beginnt, von seinem Unfall zu erzählen. Dass er über Tage Koks geschnupft hatte, um mehr arbeiten zu können, dass er einen Termin auf keinen Fall verpassen durfte. Dass er viel zu schnell gefahren war an jenem Montagmorgen. Dass er vor dem Abbiegen noch ein junges Mädchen an der Haltestelle gesehen hatte. Und dass ihn seitdem die Frage verfolgt, ob er sie getötet hat. Denn niemand hatte je mit ihm darüber gesprochen. Pari hört sich die Geschichte unbewegt an. Als er geendet hat, schweigen sie eine Weile. Dann sagt sie: Ich war das Mädchen, und ich liebe dich.

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