Überfahrt

Das Meer hat es nicht immer gut gemeint mit uns. Damals am Atlantik, als du wie ein Kind wieder und wieder in die Brandung liefst, mit ausgestreckten Armen unterhalb der Wellenkronen eintauchend, um dann im nächsten Tal wiederaufzutauchen. Wieder und wieder. Bis diese eine Woge kam, die war doppelt so groß wie die anderen. Ich sah nur wie du hochgeschleudert wurdest, wie du einem Moment in der Gischt schwebtest, dann hinab stürzest ins gläserne Meer und nicht wieder auftauchtest. Wie dich drei Männer auf den Strand zogen nachdem sich das Wasser zurückgezogen hatte. Du hattest das Bewusstsein verloren, atmetest aber. Sie drehten dich auf die Seite, und ich sah Hunderte kleine Schnitte in deinem Rücken, aus denen Blutstropfen quollen, so sehr hatten dich die Wellen auf den Grund geschleudert, die mit Millionen Scherben von Muscheln bedeckt war.

Oder als wir in Seenot gerieten mitten auf dem Atlantik. Jörn und Heike hatten uns eingeladen sie zu begleiten. Eine große Motoryacht sollten sie überführen von Barbados nach Gran Canaria. Der Eigner hatte die Treibstoff- und Wassertanks füllen lassen und ausreichend Vorräte. Die beiden waren erfahrene Skipper, die auch schon Boote von Kalifornien nach Hawaii gebracht und mit einem Motorsegler das Kap der guten Hoffnung umschifft hatten. Am zweiten Tag lag nur noch das offene Meer vor uns. Fünf Tage würden wir in den Kalmen fahren, dieser fast windstillen Zone ein paar Breitengrade oberhalb des Äquators, wo man kaum je einem anderen Schiff begegnet, höchstens einmal einem Kreuzfahrer oder einem kleinen Frachter auf dem Weg nach Argentinien.

Drei Tage und Nächte vergingen in völliger Ruhe. Die Yacht lief per Autopilot. Wir lagen an Deck in der Sonne oder saßen im Schatten der Aufbauten und lasen. Geredet wurde nicht viel. Nachts begann das große Staunen. Wir lernten, dass es mehr Sterne am Himmel gibt als Schwärze dazwischen, dass die Sterne verschiedene Farben haben und nicht nur Lichtflecken sind. Wir erkannten hochfliegende Albatrosse an der Silhouette, die ihr Körper vor dem strahlenden Firmament zeichneten. Das Meer leuchtete, es gab fluoreszierende Planktonwolken und die Schatten schwerer Wale, die ihnen nachjagten. Manchmal stellte Jörn um Mitternacht die Maschine ab, und wir saßen schweigend und demütig in völliger Stille auf dem Vorderdeck. Und dann erschien uns das Geräusch der an den Rumpf schlagenden Wellen wie Donner.

Natürlich schwammen wir auch in diesem großen Ozean. Gesichert an Leinen, nackt wie die Delfine. Es gab Momente, in denen wir uns nicht mehr wie Menschen erschienen, sondern wie eigenartige Tiere, die sich ins falsche Habitat verirrt hatten. Dann kam die Nacht der Meteoriten. Ein Feuerwerk am nördlichen Himmel. Hunderte, Tausende, Millionen Leuchtspuren. Wir trauten uns nicht, in dieser Stunde Wein zu trinken. Jörn hatte wieder den Motor ausgeschaltet, und das Boot trieb unter diesem Spektakel, das gar nicht für uns veranstaltet wurde. Dieses Mal sprang die Maschine nicht wieder an. Bis zur Dämmerung versuchtet ihr, das Problem zu finden und zu beseitigen. Im ersten Licht trafen wir uns im Fahrstand, ihr hattet grauen Gesichter und saht verzweifelt aus. Wir haben keinen Strom mehr, sagte Jörn, alle Batterien sind leer. Und das Ladegerät ist defekt. Alles Mögliche hatte man im Hafen von Bridgetown überprüft, nur dieses Ladegerät nicht, dass aus dem Sonnenlicht und dem Fahrtwind Strom erzeugte.

Können wir Hilfe rufen, fragte Heike. Können wir versuchen, sagtest du. Und Jörn ergänzte: Der Akku im Funkgerät dürfte noch für drei, vier Stunden reichen. Wir wechselten uns ab am Radio. Riefen immer wieder die Kennung unseres Schiffes in den Äther und die Koordinaten unserer Position. Es gab keine Antwort. Wir setzten Notflaggen und -lichter. Als es wieder dunkel wurde, verschossen wir unsere Signalraketen, alle zwanzig Minuten eine. Dann fiel das GPS aus, und wir konnten nicht mehr bestimmen, wo genau wir uns befanden. Tagsüber lagen wir in unseren Kojen, ratlos, panisch, voller Angst. Wir können nichts tun, sagte Jörn abends. Das Boot treibt mit der sehr geringen Strömung südostwärts. Anhand des Sonnenstandes und der Sterne kann ich unsere Position berechnen, aber höchstens auf hundert, hundertfünfzig Seemeilen genau, weil ich keinen Sextanten an Bord habe. Kommen wir denn überhaupt wieder an Land? fragte ich. Nach einer Weile sagte Heike: Ja, mit einiger Wahrscheinlichkeit, aber weil es keinen Wind gibt und nur wenig Strömung, kann das Wochen dauern.

In der Nacht sahen wir einen Cruiseliner im Norden an uns vorbeilaufen, erleuchtet wie ein Weihnachtsmarkt, und Fetzen der Stimmungsmusik drangen durch die Stille. Wir hatten keine Signalraketen mehr, also tauchtet ihr Stofffetzen in den Treibstoff, zündetet diese Fackeln an und schwenktet sie im Heck. Nach einer Stunde war das große Schiff hinterm Horizont verschwunden. So trieben wir acht Tage und acht Nächte über den Atlantik. Wir hatten das Wasser frühzeitig rationiert und die Getränkevorräte in den Kühlschränken auch. Lebensmittel waren reichlich an Bord. Aber am zehnten Tag auf See war uns nur noch ein Karton Äpfel geblieben, die in der Hitze geschrumpft waren und verschrumpelt. Jeder einen Apfel pro Tag, ordnete Jörn an, dann haben wir noch für weitere zehn Tage Proviant. Das Wasser wird vielleicht sogar zwölf Tage reichen. Ist beides verbraucht, bleiben uns noch vier bis fünf Tage zum Sterben.

Genau in diesem Moment tauchte im Osten ein Segelboot auf, das genau auf uns zu lief, eine gewaltige Yacht mit einem turmhohen Mast. Wir sahen die Männer alle Segel reffen, im Bug stand einer, der schrie und winkte. Wir schrien und winkten zurück. Dann lagen die Schiffe Bord an Bord, Jörn erklärte dem Skipper unsere Lage und fragte nach der Position. Es stellte sich heraus, dass wir uns in den knapp zwei Wochen ohne Maschine kaum zehn Seemeilen vom Fleck wegbewegt hatten. Man beschloss per Funk Hilfe zu rufen und gemeinsam zu warten. Sechsunddreißig Stunden später traf das Motorboot von La Palma ein, das uns dann bis zu den Kanarischen Inseln schleppte.

Und jetzt sitze ich hier auf der Terrasse des Hauses am Meer, das wir vor ein paar Jahren kauften, weil du meintest, ohne die See vor den Augen könntest du nicht mehr leben. Aber ich wusste, dass dies nur eine Ausrede war, eine Schönfärberei, denn dein Zustand lag klar vor mir. Ja, es ist schön hier auf der Insel. Wir haben uns so eingerichtet wie wir das immer wollten mit einem Garten voller Rosen, Kräuter und Gemüse, zwei Hunden und drei Katzen. Die Enkel können uns jederzeit besuchen, aber sie sind noch nie gekommen. Unsere beiden Töchter auch noch nicht. Die Leute im Dorf mögen uns anscheinend nicht. Nicht einmal die Bäckersfrau erwidert meinen Gruß, und der Kramladen hat nie wieder deine Zigarettenmarke nachbestellt, nachdem du die letzte Packung dort gekauft hattest. Jörn und Heike, die nach dem Vorfall zu unseren besten Freunden wurden, sind schon vier Jahre tot, gestorben nach einem schweren Autounfall irgendwo in Namibia.

Du hast dich endlich zur Ruhe gesetzt, und ich bin vorzeitig in Pension gegangen. Das Leben genießen, das war unser Plan. Aber wenn ich ehrlich sein soll, wir haben unser Leben früher öfter und mehr genossen; nur nie sehr lange am Stück. Du wolltest dir ein Hobby suchen, aber über Spaziergänge mit den Hunden und den ewig gleichen Radtouren über die Insel sind deine Aktivitäten in den letzten drei Jahren nicht hinausgekommen. Und nun frage ich mich, wo du bist. Als ich aufstand und hinausging in den Garten, warst du nicht da. Du saßest nicht am Frühstückstisch mit deiner Zeitung, nicht am runden Tisch aus Gusseisen unter der Linde. Ich fand dich weder im Rosengarten, noch hinten bei den Beeten. Ich durchsuchte das ganze Haus, und fand dich nicht. Ich versuchte vergebens, dich auf dem Handy zu erreichen. Dann radelte ich ins Dorf und fragte die Leute. Natürlich bekam ich nur ausweichende Antworten. Niemand hatte dich heute gesehen.

Gegen Mittag dachte ich darüber nach, die Polizei zu verständigen, aber die Beamten würden sicher drei Stunden brauchen, um vom Festland herüber zu kommen. Erst jetzt fand ich den Umschlag, versteckt in deiner Zeitung, die wie immer auf dem Schrank an der Garderobe lag. Ich wusste sofort, dass es ein Abschiedsbrief sein würde. Ich sah mich außerstande, ihn sofort zu lesen. Deshalb ging ich mit den Hunden, fütterte sie, goss den Garten und bereitete mir ein kleines Abendbrot. Dann goss ich mir von deinem Lieblingsroten ein und setzte mich an deinen Tisch unter deinem Baum.

„Das Meer war nicht immer gut zu uns, Liebste. Das weißt du. Aber ohne das Meer wäre unser Leben ein Nichts gewesen. Das weißt du auch. Und weil das so ist, muss es das Meer sein, das mein Leben nimmt. Wie oft hast du mir in den letzten sieben, acht Jahren gesagt, ich sei ausgebrannt, ich müsse kürzertreten, müsse die Arbeit aufgeben, mehr an mich denken und so weiter. Habe ich denn überhaupt gebrannt all die Jahre? Und bin ich nicht mehr und mehr eingefroren, verkühlt von diesem gnadenlosen Leben, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte. Du weißt, dass ich nie etwas Anderes sein wollte als Künstler. Einen Manager hätte ich gebraucht, der sich ums Geschäftliche kümmert, und eine Familie, die mir den Rücken freihält. Aber von wem hätte ich das verlangen können? Also versuchte ich es auf eigene Faust, wie du weißt. Die Realität gewann rasch. Mit den Kindern wurden wir zur Familie, die musste ich ernähren. Von da an war ich getrieben, und jede Entscheidung war erzwungen, jeder Fehler könnte tödlich sein. Der Beton auf meinen Schultern wurde immer schwerer. Du kannst es an den wenigen Fotos sehen, die es von mir gibt, weil immer ich es war, der die Kamera in der Hand hatte und Bilder von euch machte, Tausende Bilder. Neulich habe ich mich durch ungefähr 55000 Aufnahmen gearbeitet. Auf kaum mehr als hundert davon bin ich zu sehen.

Da ist dieses Foto vom Atlantikstrand. Du erinnerst dich? Mit Klaus und Gabi waren wir nach Frankreich gefahren. Die beiden in einem flammneuen Ford Taunus, wir im alten Käfer, den uns deine Kollegin geliehen hatte. Es gibt ein Bild, da stehe ich in der weißen Malerlatzhose neben dem Auto, die Hosenbeine aufgekrempelt, kein Hemd unter dem Latz, braungebrannt mit langen Haaren. Damals trug ich noch den Schnauzbart. Ich sehe glücklich aus. Dann noch eins vom Strand wie ich tropfnass und lachend von der Brandung auf die Kamera zu laufe. Peinlich dann die offiziellen Pressefotos zum Börsengang. Um Jahre gealtert. Meine Verzweiflung im Blick bei Nicoles Hochzeit. Gibt es eigentlich Fotos von der Reise mit Jörn und Heike? Du hast ein wunderschönes Porträt von mir geknipst. Da waren wir schon hergezogen. Da sitze ich an meinem Tisch unter meinem Baum und meine Zeitung liegt auf dem Tisch. Im Aschenbecher verqualmt eine Kippe, die Hunde liegen mir zu Füßen. Ich sehe glücklich aus.

Nun bin ich fünfundsechzig und darf mich Rentner nennen. Nie wollte ich Rentner werden. Als ich fünfundzwanzig wurde, sagte ich mit gespielten Ernst, die Hälfte habe ich hinter mir. Das sagte ich auch mit sechsundzwanzig, siebenundzwanzig und dreißig. Aber dann hatte sich der Witz verflüchtigt, und ich begann mich zu fragen, wie viele Jahre mir noch blieben. Besonders in dieser harten Zeit der harten Arbeit. Ich habe sie anhand meiner Aufzeichnungen genau bemessen: siebenundzwanzig Jahre waren es. Was ich für Glück hielt in der Zeit oder wenigstens Freude, waren gekaufte Dinge. Selbst Zeit musste ich mir kaufen für viel Geld. Zeit für Reisen, Zeit nichts zu tun, Zeit mit dir zu sein und nur mit dir. Das Haus am Meer sollte die letzte dieser Anschaffungen sein. Ich wollte mir einen Lebensabend kaufen.

Nun weiß ich, dass ein Lebensabend nichts für mich ist. An meinem Tisch unter meinem Baum zu sitzen und darauf zu warten, dass die Körperfunktionen nachlassen und dass sich der Geist vernebelt. In den letzten Wochen habe ich versucht herauszufinden, wie fit ich noch bin, habe die Hundegänge ausgedehnt, bin größere Runden mit dem Rad gefahren und habe Stunden schwimmend im Meer verbracht. Hast du etwas davon gemerkt? Kopfrechnen habe ich geübt und Gedicht auswendig gelernt. Ich kann den Linienplan der Pariser Metro aufsagen, vollständig. Ich bin also körperlich und geistig bei Kräften. Und in diesem Zustand möchte ich sterben. Mir kommt es auch schon seit gut einem Jahr so vor, als sei es jetzt auch genug. Ein Gefühl, dass ich wiedererkannte. Es erinnerte mich an die das Jahr mit dem Infarkt. Drei, vier Monate zuvor hatte ich einen wiederkehrenden Traum. Ging mitten auf einer staubigen Straße durch einen Ort wie auf einem Hopper-Gemälde auf einen flachen Bau zu. Im Schaufenster eine Neonreklame. Vier Wörter, die nacheinander blutrot aufleuchteten: Ich. Kann. Nicht. Mehr. Der Zusammenbruch war eine Erlösung, das weißt du. Aus dem Koma zu erwachen, beinahe eine Enttäuschung. Aber mit gerade einmal vierundvierzig wollte ich nicht abtreten. Nur mein Leben ändern.

Und jetzt muss ich mein Leben wieder ändern. Nenn es nicht Selbstmord, Liebste. Ich gehe nur eine Wette ein, bei der mein Leben die schlechteren Chancen hat. Alles ist sorgfältig vorbereitet. Die Yacht liegt im Hafen von Santa Cruz. Ich werde Treibstoff, Wasser und Vorräte für sechs Tage an Bord haben. Wenn ich an die Zeit auf dem Atlantik denke, wenn auf dem GPS-Bildschirm ringsum kein Land mehr zu sehen ist und der Meeresboden der nächstgelegene feste Grund ist, dann zittere ich vor Vorfreude. Natürlich hätte ich dich liebend gern mitgenommen. Aber dann hätte ich dich einweihen müssen. Und außerdem wollte ich dein Leben nicht auch aufs Spiel setzen. Nun schätze ich meinen Vorsprung auf etwa zwölf Stunden. Wenn du diesen Brief liest, werde ich vermutlich schon an Bord sein, werde schon abgelegt habe, werde vielleicht noch die Lichter des Hafens vom Heck aus sehen können. Kann sein, dass ich die Inseln unter dem Wind leben erreiche, kann auch sein, dass es nicht reicht. Mitternachts werde ich immer die Maschine stoppen und das Boot treiben lassen. Dann werde ich im Bug auf dem Rücken liegen und zum Himmel aufschauen und wieder feststellen, dass es dort mehr Sterne als Schwärze dazwischen gibt. Oder ich werde über die Bordwand ins Meer schauen, die fluoreszierenden Planktonwolken sehen und die Schatten der mächtigen Wale, die sie jagen.

So oder so wird dies meine letzte Überfahrt, so viel steht fest. Und ich bitte dich, mir nachträglich die Genehmigung zu erteilen. Ich liebe dich.“

Der Himmel über der See war aufgeklart. Die Sterne flackerten in dieser Neumondnacht. Dann zog eine starke Schnuppe quer von Ost nach West. Ein Hund jaulte im Traum, und eine Brise schüttelte die Krone deines Baumes durch.

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