Mit nem Ei im Mund (4)

Wachtmeister Blümchen steht immer noch an der Ecke. Genau vor dem Eingang dieses Hauses. Ein hässliches Haus. Pissgelb. Nennt Dieter die Farbe der glatten Fassade. Fünf Stockwerke. In jeder Etage je fünf Fenster auf der Seite, die zur Corneliusstraße zeigt, und je vier Fenster auf der zur Oberbilker Allee liegenden Seite. Alle Fenster gleich groß und mit dem gleichen Abstand voneinander. In jedem Fenster rote Vorhänge. Manche Vorhänge sind zugezogen, manche nicht. Einige Fenster stehen offen, und in den Fenstern, die Arme im Rahmen abgestützt, liegen Frauen und schauen auf die Straße.

Die eigentliche Häuserecke ist im Erdgeschoß schräg abgeschnitten, die so ent¬standene Wand mit einer Doppeltür versehen, deren beide Flügel geöffnet sind. Dahinter sieht man den schweren, weinroten Vorhang.

Renate hält an und fasst Siggis Arm, so dass er auch zum Stehen kommt. „Komm. Spionieren.“

Siggi lässt sich mitziehen. Beide huschen in den Eingang. Nähern sich dem Schlitz im Vorhang. Im Halbdunkel sehen sie: Alles rot. Dunkelroter Teppich¬boden und dunkelroter Bespannung an den Wänden. Lampen mit rotem Licht geben ein bisschen Helligkeit. Rechts eine gepolsterte Bank. Darauf sitzen vier Frauen in Unterwäsche. Eine Frau blättert in einer Illustrierten, die anderen drei rauchen und reden halblaut miteinander.

Renate und Siggi spüren je eine Hand auf ihren Schultern.
„Neugierige Katzen kriegen was auf die Nase, nicht wahr.“
Sie drehen sich um und schauen ins Gesicht von Wachtmeister Blümchen, der sie sanft an den Schultern gefasst hat und sie an sich vorbei aus dem Eingang schiebt. „Studieren ist besser als Spionieren, nicht wahr. Und nun ab durch die Mitte. Geht spielen.“

Die Beiden laufen los. Bei Oma Müsch vorbei, die Ziellinie schon in Sichtweite. Die anderen kommen ihnen entgegengelaufen. Nur Klein-Elke nicht. Die hat jetzt einen Lutscher, sitzt auf der Eingangsstufe im Eckhaus zur Hildebrandtstraße und guckt sich die Sache aus verweinten Augen an.

„Woher hast du den Lutscher?” fragt Renate ihre kleine Schwester, aus deren Mund der grüne Stil der Zuckerkirsche rausschaut.
Sie zieht den Lutscher raus, zeigt auf das große Mädchen, das mit zwei anderen Hüpfkästchen spielt und sagt: „Von Inge.“
Die dreht sich um und kommt die drei Schritte rüber. Renate sagt: „Warste wieder bei Überseekaffee klauen?“
„Muss man nicht klauen, kriegste doch geschenkt.“
„Ja, aber immer nur einen. Und ihr habt doch alle welche…“
Inge hebt die Hand: „Du kriegst gleich eine!“
Sie ist das Größte aller Kinder, aber nicht die Älteste. Ihr Bruder Wolfgang ist zum Beispiel älter, aber der spielt ja auch nicht mehr auf der Straße.

Höchstens Fußball – auf der Fahrbahn der Zimmerstraße, direkt vor der Einfahrt zur Kaffeefabrik Bommer. Da dürfen Siggi, Horsti und Ebse bloß zugucken, die großen Jungs lassen sie natürlich nicht mitspielen. Obwohl Ebse wirklich prima kicken kann. Als die Cornelius-Jungs im Sommer gegen die Hildebrandt-Truppe auf der Ballonwiese im Volksgarten ein Entscheidungsspiel gewonnen hatten, da hat Ebse vier der acht Tore geschossen. Da durfte er mitmachen. Ungerecht ist das, fanden die drei Freunde.

Siggi verschluckt sich dauernd an seiner Spucke.
„Komm, nimm das Ding ruhig mal aus dem Mund“, sagt Renate, „gilded trotzdem.“
Er spuckt das Ei in die Hand und betrachtet es ganz genau. Könnte sein, denkt er, dass sich die Schale schon auflöst.
„Guck mal“, sagt er zu Renate, „löst sich schon auf.“
Die Vorstellung, das rohe Eiweiß könne sich in seinen Rachen ergießen, lässt ihn erschaudern.
„Quatsch“, sagt die Freundin bloß, „ist doch aus Kalk. So wie der Speis von den Maurern. Da kannste Häuser mit bauen.“

***

Vorhin haben sie noch gesehen, wie die Männer den Mörtel auf der Baustelle an der großen Kreuzung hochgetragen haben. Einer steht immer an der Mischmaschine und gibt Kalk und Kies und Wasser hinein. Irgendwann dreht er den Behälter um und lässt den fertigen Speis in eine Blechwanne fließen. Wenn die Arbeiter kommen, stellen sie ihre Tragebehälter ab, und der Mann an der Maschine füllt sie auf. Dann nehmen sie die Dinger, die aussehen wie Formen für den Marmorkuchen, den die Mutter oft backt, auf die Schultern. Vorne ist ein Griff, und mit der rechten Hand halten sie so den Behälter in der Waage. Sie haben einen Weg aus Brettern angelegt. Der führt vom Mischer quer über das Chaos der Steine und Geräte ins Haus hinein, von dem jetzt schon zwei Geschosse stehen. Hinten geht’s aufs Gerüst, wo die Maurer schon warten. Ab und an holt dann einer von denen neue Ziegelsteine. Die kommen auf ein Brett und werden dort mit einem Stück Seil gesichert.

„Altmodischer Kram“, sagt Siggis Vater immer, der ja Maurerpolier ist, aber eine Ausbildung als Betonbauer gemacht hat.
„Beton hat Zukunft“, hat er neulich beim Frühschoppen zu Herrn Schulz gesagt.
Aber der hat widersprochen: „Stein auf Stein ist solider.“
Vater hat nur gelacht und Herrn Schulz einen Doppelkorn ausgegeben. So oft nimmt er seinen Jüngsten am Sonntag nicht mit in die Kneipe, wo er hingeht, während die meisten anderen Männer in der Kirche sind. Aberglaube nennt er das, und Weihnachten wird in Siggis Familie nur gefeiert, weil die Mutter darauf besteht. Dann gehen sie auch alle in die evangelische Kirche an der Friedenstraße, die mitten zwischen den Wohnhäusern leicht nach hinten versetzt steht. Siggi friert da immer und langweilt sich, aber Mutti ist dann immer ganz gefühlig und weint sogar ein bisschen. „Um die verlorene Heimat“, sagt sie dann.

Sein Vater leitet gerade das Gießen der Decken eines Neubaus an der Oststraße. Siggi hat ihn da auch schon besucht, durfte aber nicht mit hoch: „Zu gefährlich“, hat der Vater gesagt und ihm dann genau erklärt, wie das geht.
Dass da zuerst die Eisenflechter kommen und die Moniereisen an die richtige Stelle und in die richtige Form bringen. Dass anschließend die Kanten durch Bretter angelegt werden. Dann kommt der Betonmischer.
„Da trägt aber keiner das Zeug auf dem Buckel hoch“, hat Vati ergänzt.
An der Baustelle hat man einen Kran aufgebaut. Der hat einen speziellen Behälter für den Beton am Haken.
„Passen genau zweieinhalb Kubikmeter rein“, hat Siggi gelernt.
Und wenn der Eimer – so nennt Vati das Ding – oben ist, öffnet der Vorarbeiter den Verschluss, und der Zement fließt zwischen die Eisen.
„Muss schnell gehen. Und man muss genau arbeiten“, hat der Vater betont, und Siggi hat gemerkt, dass er sehr stolz auf seine Arbeit ist.
„Wir Arbeiter bauen die Stadt wieder auf“, sagt er oft. Und Siggi findet, das stimmt.

Er findet komisch, dass die Spucke am Ei ziemlich schnell trocknet. Dann fühlt sich die Schale auch wieder ganz hart an. Vielleicht hätte er das Ei abwaschen sollen, bevor er es in den Mund nimmt. Aber das ist jetzt auch egal.
„Weiter?“ fragt er Renate, die ihn ja begleitet.
„Gut, auf zur zweiten Runde“, sagt die Freundin, und Klein-Elke fängt sofort wieder an zu flennen.

***

Marie guckt ganz sauer. Wahrscheinlich weil Renate mit Siggi läuft. Vielleicht ist sie eifersüchtig, denkt Siggi unterwegs. Wenn die Mutter in zum Einholen schickt, dann klingelt er immer bei Schulzens, ob Marie da ist und mitkommen mag. Dann schlendern sie gemeinsam die Corneliusstraße entlang, überqueren die große Kreuzung auf der Seite, wo die Morsestraße abzweigt und klappern die Geschäfte ab. Er kann sich gut mit ihr unterhalten, besser als mit Renate. Also ist Marie die bessere Freundin. Aber an Renate gefällt ihm was anderes, er weiß nicht so genau was.

„Erni, das heißt nicht Einholen“, sagt Herr Hinz immer, wenn die Mutter ihn losschickt, „man kann etwas einkaufen oder holen, aber doch bitte nicht diese Wörter vermischen.“
„Ach, Kurt“, antwortet Mutti, „das ist doch egal.“
Und Vati meint, der Herr Hinz sei ein Klugscheißer.
„Bitte, Männe“, kriegt er dann von Mutter zu hören, „das sagt man nicht! Ein Besserwisser ist das.“

Die Familie Hinz besteht aus Herrn und Frau Hinz und dem Sohn Rainer, einem Einzelkind, wie Mutti und auch Tante Ingeborg nicht müde werden zu betonen. Freunde hat der nicht. Auch weil der so gut wie nie auf die Straße zum Spielen durfte. Jetzt ist er eh zu alt dafür, denn er ist im gleichen Jahr geboren wie Siggis großer Bruder, und der spielt auch nicht mehr draußen.

Herr Hinz ist Beamter. „Der schiebt Tag für Tag Akten von links nach rechts und wieder zurück. Und poliert mit seinem Arsch den Bürostuhl“, hat der Vater schon ein paar Mal gesagt.
Die Stellung hatte er gleich nach dem Krieg bekommen, weil es so wenig Männer gab, die nicht belastet waren – so nannte Vati das: „Der war bei den Evangelen. Das fanden die Nazis nicht so gut. Dafür haben sie ihn ins Gefängnis gesteckt.“

Eigentlich hatte Herr Hinz Lehrer werden wollen, aber damit war es wegen seiner Religion ab 1933 Essig. Immerhin musste er nicht zur Wehrmacht. Erst Ende 44 habe man ihn zum Volkssturm eingezogen, hieß es. Und dass er am zweiten Tag desertiert sei und sich zu Fuß bis zu den Amis durchgeschlagen habe. Traut man ihm eigentlich nicht zu, denkt Siggi. Denn der Herr Hinz ist ein eher kleiner, sehr schmaler Mann, der eine dicke Brille trägt. Die steckt in einem dicken, schwarzen Gestell, sodass er immer aussieht wie ein Schweißer. Im Sommer steckt er sehr dunkle Sonnenschutzgläser auf, weil seine Augen so lichtempfindlich sind. Nie hat er die Augen von Herrn Hinz gesehen, und das ist ihm unheimlich.

Manchmal geht er mit seinem Bruder rüber zu Hinzens. Dann lernt er immer was, weil der Herr Hinz in seiner Freizeit Kreuzworträtsel löst und zu jedem gefundenen Wort gleich eine ganze Geschichte zu erzählen hat. Genau wie zu den Stücken in seiner Briefmarkensammlung. Er freut sich immer, wenn ihn Siggi was fragt. Wenn er weiß, dass sie zu Hinzens gehen, überlegt er sich vorher immer zwei, drei Fragen.

Frau Hinz ist ein bisschen größer als ihr Mann, sehr viel breiter und hat einen breiten Mund, der immer lächelt. Zu Wort kommt sie kaum, und wenn, dann sagt sie sinnlose Sachen wie Je, nun… oder Wer weiß, wer weiß…. Die Wohnung, in der die Familie Hinz lebt, ist winzig. Es gibt eine schmale Küche mit einem Sofa hinter dem Esstisch und ein Wohnzimmer mit einem Schrankbett. Rainer muss auf der Couch in der Küche schlafen. Immerhin gibt es einen Balkon, auf dem zwei Leute sitzen können. Das Klo ist eine halbe Treppe tiefer, und einmal in der Woche fahren die Hinzens in die Badeanstalt, um dort ordentlich zu baden.
„Bald ist es so weit“, sagt Herr Hinz manchmal, „dann ziehen wir endlich um.“
Schon seit Jahren hofft er auf eine Neubauwohnung, die ihm als Beamter der mittleren Laufbahn zusteht.

Da haben es Siggi, sein Bruder und die Eltern besser, denn deren Wohnung ist im Vergleich riesig. Das Haus haben Bauarbeiter wieder aufgebaut, die ein Unternehmen mit dem Versprechen in die Stadt gelockt hat, dass jeder für sich und seine Familie eine Wohnung in den ersten Häusern bekäme, die wieder bewohnbar gemacht würden. So landeten sie schon vor Siggis Geburt im Dachgeschoss der Nummer 118. Drei Zimmer gibt es, davon ist eines die Wohnküche, die freitags gleichzeitig als Badezimmer dient. Deshalb hat Vati auch den alten Kohlenherd drin gelassen. Kochen tut die Mutter auf einem modernen Gasherd, aber auf dem alten Ofen kann man prima das Wasser für die Badewanne heiß machen. Siggi und sein Bruder haben ein eigenes Zimmer, während die Eltern im Wohnzimmer schlafen.

Aber lange werden sie hier auch nicht mehr wohnen, und Siggi hat große Angst vor dem Umzug, weil er dann ja woanders wohnt und seine Freunde nicht mehr jeden Tag treffen kann. Der Vater hat nämlich bald eine neue Stelle. Bei einer Brauerei. Dort soll er den Wiederaufbau der Gastwirtschaften organisieren, die Renovierung der Brauereigebäude und den Bau eines neuen Wohnhauses, in dem der Brauereiausschank entstehen wird. Das ist ganz in der Nähe vom Vinzenzkrankenhaus, da wo Tante Ingeborg und Onkel Hans wohnen. Da fährt er manchmal mit den Eltern hin und ziemlich oft mit dem Bruder. Die Haltestellen der 4 kann er auswendig: Morsestraße, Fürstenplatz, Helmholtzstraße, Mintropplatz, Hauptbahnhof, Worringer Platz, Wehrhahn, Adlerstraße, Rochusmarkt, Schlossstraße, Lennéstraße, Sankt-Vinzenzkrankenhaus.

Jetzt sind Siggi und Renate gerade beim Schuster Voscht vorbei, der seinen Arbeitstisch ganz dicht am Schaufenster hat und bei der Arbeit ständig rausguckt. Peter heißt er und hat das Geschäft erst vor zwei Jahren von seinem Großvater übernommen, denn sein Vater ist im Krieg geblieben.

Frau Schulz sagt, der Schuster sei eigentlich ein Halbstarker, man solle sich doch bloß mal seine Frisur angucken. Und was er anhat, wenn er nach Feierabend oder am Wochenende ausgeht. Außerdem fahre der so einen komischen Motorroller, das täten doch nur diese Halbstarken, diese Unruhestifter und Tunichtgute. Da brächte sie ihre Schuhe nicht hin. Da laufe sie lieber ein paar Minuten länger bis zur Hüttenstraße, da gäbe es auch einen Schuhmacher.

Die Kinder mögen den Peter, weil der immer einen guten Spruch auf Lager hat und manchmal, wenn er in seiner Lederschürze und dem dunkelblauen Arbeitshemd vor der Tür steht und raucht, Lakritzschnecken an die Blagen verteilt.
Dann sagt er immer „Tuttifrutti, oldelutti!“ und grinst.

(Fortsetzung folgt…)