Mit nem Ei im Mund (5)

Und dann hören sie die Hildebande kommen. Man hört die bösen Jungs auf ihren Rollschuhen nämlich zuerst , wenn sie mit den Stahlrädern über das Pflaster ihres Reviers poltern. Erst dann sieht man sie: vier, fünf große Burschen, die sich Einkaufsnetze als Masken über die Köpfe gezogen haben.

Keiner weiß, wer sich darunter verbirgt. Ebse sagt immer: „Das sind dieselben, die ganz friedlich gegen die Cornelius-Truppe Fußball spielen.“
Siggi glaubt das nicht. Und hat großen Schiss vor den Kerlen, von denen jeder ein kurzes Vierkantholz in der Hand hält. Damit bedrohen sie alle Kinder und auch Jugendlichen, die es wagen, durch die Hildebrandtstraße zu gehen. Manchmal machen sie auch vor Erwachsenen nicht halt.

Allein schon wegen der Rollschuhe erscheinen sie größer als ihre Opfer. Außerdem machen sie merkwürdige dumpfe Geräusche, wie knurrende Rüden. So halten sie auf, wer ihnen in die Quere kommt, und kassieren Zoll. Horsti haben sie vor ein paar Wochen sein ganzes Taschengeld abgenommen.
„Fünf Mark! Futsch!“ hat Horsti gesagt und dann leise ein bisschen geheult.
Wer von den Corneliuskindern sich was Süßes bei Oma Müsch holt, macht deshalb immer sicherheitshalber den Umweg über die Oberbilker Allee.

Auch wenn niemand jemals wirklich von den Mitgliedern der Band geschlagen wurde, haben doch alle Angst, weil es immer wieder Gerüchte gibt.
„Den Wolfgang“, sagt dann wer, „den haben sie ins Krankenhaus geprügelt.“
Bald plappern alle das nach. Dabei ist der Wolfgang mit seiner Familie bloß weggezogen.

Jetzt stehen die Jungs auf den Rollschuhen vor Renate und Siggi. Eigentlich ist es mehr ein Grunzen, denkt sich Siggi und spuckt vorsichtshalber das Ei in die Hand. Im Halbkreis haben sie sich aufgebaut.
Der größte von denen spricht ihn an: „Her damit!“
„Mit was?“ stellt sich Siggi dumm.
„In deiner Hand.“
„Och, das ist bloß ein Ei.“
Die Kerle stecken die Köpfe zusammen. „Dann dein Süßkram!“
Siggi schüttelt den Kopf: „Hab nix, bin pleite.“
Einer mischt sich ein, der ein bisschen lispelt. Der spricht Renate an: „Dann deine Süßigkeiten!“
Die muss grinsen, wie er das Wort Süßigkeiten ausspricht und sagt bloß: „Auch nichts.“
Ein dritter schaltet sich ein, der etwas kleiner ist als die anderen aber doppelt so breit. „Was machst du mit dem Ei?“

„Ist ne Wette“, antwortet Siggi wahrheitsgemäß, „muss zweimal mit dem Ei im Mund um den Block laufen, dann hab ich gewonnen.“
Die Bande schweigt. So etwas Bescheuertes haben sie noch nicht gehört, die wilden Jungs.
„Um was geht’s?“
Siggi guckt Renate an, Renate guckt Siggi an; sie wissen es nicht mehr. „Na, um die Ehre“, antwortet Renate rasch.

Der Typ ganz links macht den Scheibenwischer: „Ihr habt sie doch nicht alle.“
Da guckt Peter gerade aus seiner Werkstatt, erkennt die Situation und kommt angerannt. „Haut bloß ab, ihr Arschgeigen!“ ruft er schon von Weitem.
Die Bande dreht auf den Rollschuhen um und macht sich davon.

„Na, alles im Lack, ihr zwei?“ Renate und Siggi nicken.
„Wir hatten ja nichts für die.“
„Und wenn“, sagt Peter, zieht eine Zigarette hinterm Ohr hervor, zündet sie an und nimmt einen Zug, „und wenn die euch nochmal aufhalten, ruft ihr einfach nach mir. Werdet sehen, wie schnell die abhauen. Miese Bande.“
Siggi überlegt: „Peter, weißt du denn, wer die sind?“
Der Schuster schüttelt den Kopf: „Wohnen wohl im Hinterhof von der Fabrik, da wo die Asozialen hausen. Pack, sag ich, Pack ist das.“
Sie bedanken sich. Siggi legt das Ei wieder in den Mund, und sie rennen weiter.

Einmal waren Siggi, Horsti und Ebse nachmittags in Peters Werkstatt. Der hatte da einen Plattenspieler und hat Rock’n’Roll-Platten aufgelegt und von der Kirmes erzählt. Wie er mit seinen Kumpels auf den Rollern rüber nach Neuss gefahren sind. Gut dreißig Leute seien sie gewesen. Da sei noch eine Rechnung offen gewesen mit so einer Rocker-Bande, alles Motorradfahrer; Ölschweine nannte Peter die.

Die anderen hätten mit ihren Bräuten an der Raupe rumgelungert, und sie hätten Quartier beim Autoscooter bezogen. Erst nach Mitternacht seien sie dann an der Raupe vorbeigezogen und hätten den Neussern Schimpfwörter rübergerufen. Peter hatte alle diese bösen Wörter für sie aufgezählt und so ihren Wortschatz bereichert. Horsti nannte seit dem Tag anderen Jungs im Zorn nicht mehr Blödmann oder Doofkopp oder so, sondern Arschgeige oder Arschgesicht. Jedenfalls habe sich eine prima Klopperei entwickelt. Und natürlich seien die mit viel mehr Mann gewesen, die Rocker. Trotzdem hätten sie die ganz schön fertiggemacht. Bis die Schmiere auftauchte. Blaulicht, Sirene, Trillerpfeifen, Gummiknüppel. Da seien sie aber geflitzt.

Siggi und seine Freunde wollten auch so werden. Auch Lambretta oder Vespa fahren und sich mit anderen Banden prügeln. Obwohl Siggi ja insgeheim Motorräder viel besser fand und diesen Kerl bewunderte, der fast jeden Tag mit seiner Vincent die Oberbilker Allee runtergedonnert kam. Ganz in schwarzem Leder, einen pechschwarzen Helm auf dem Kopf und eine Schutzbrille mit dunklen Gläsern an. Immer wenn er den sah, blieb Siggi stehen und schaute ihm nach.
Bis der Kradfahrer einmal anhielt, die Brille auf den Helm schob und ihm zuwinkte: „Na, mal ne Runde drehen?“
Aber da hatte Siggi natürlich schnell den Kopf geschüttelt, denn Mutti hat ihm eingeschärft, auf keinen Fall mit einem fremden Mann mitzugehen oder mitzufahren.
„Das sind Mitschnacker“, hatte sie gesagt, „die sperren dich ein und machen furchtbare Sachen mit dir.

Überhaupt sollte er im Straßenverkehr immer aufpassen.
„Denk an Hildegard!“ sagte die Mutter bei solchen Gelegenheiten.
Jedes Kind im Viertel kannte die schreckliche Geschichte von Hildegard. Die war eine Klasse über Siggi und hatte – wie sein Vater es ausdrückte – stinkreiche Eltern. Die fuhr nachmittags immer mit dem Bus zum Ballettunterricht, und Frau Krämer, seine Lehrerin hatte mal gesagt, die Hilde, die würde mal Primaballerina. Jedenfalls wohnte die auf der Pionierstraße, wo sie mit den Eltern und ihren vier Geschwistern ein ganzes Haus für sich hatte.

Eines Tages ging sie also zur Bushaltestelle am Fürstenwall und wartete direkt vor der Apotheke da. Plötzlich, so erzählte man sich, sei ein Auto mit hoher Geschwindigkeit die Corneliusstraße hochgerast, der Fahrer habe nach links in den Fürstenwall abbiegen wollen, sei ins Schleudern gekommen und habe Hildegard voll erwischt und gegen die Mauer gequetscht. Da seien ihr beide Beine gebrochen worden, und das linke habe man amputieren müssen. Da sei es mit der Tanzerei vorbei gewesen.

Siggi hat sich immer gefragt, ob es was geändert hätte, wenn Hilde auf die Autos geachtet hätte. Schließlich habe sie doch ganz ordentlich auf dem Bürgersteig gestanden und auf den Bus gewartet. Aber so sind Erwachsene eben: nie finden sie wirklich passende Beispiele, wenn sie einen warnen oder einem was verbieten.

Wobei Marie kürzlich wirklich beinahe unters Auto gekommen wäre. Wie sie so, ohne zu gucken aus der Hildebrandtstraße quer über die Corneliusstraße gerannt war. Genau in dem Moment kam so ein schwerer Wagen von der Erasmusstraße unter der neuen Unterführung durch. Und der musste so scharf bremsen, dass es quietschte und hinterher sogar Qualm aus den Radkästen kam. Siggi und Ebse hatten das genau beobachtet, weil sie auf der anderen Straßenseite bei den Trümmerhäusern standen und Marie zu sich gerufen hatten.

Der Fahrer war ausgestiegen. Ein schwerer Mann im schwarzen Mantel mit einem ungewöhnlich großen Hut. Marie stand ein paar Schritte entfernt auf der Fahrbahn, starr vor Schreck. Da ist der Fahrer zu ihr gegangen und hat sich ganz freundlich um sie gekümmert. Hat ihr sogar noch fünf Mark gegeben, bevor er weitergefahren ist. Fünf Mark! Natürlich hat Marie davon allen was Süßes spendiert. So hatte sich der Schreck am Ende sogar gelohnt.

***

Renate und Siggi haben jetzt auch die gefährliche Hildebrandtstraße hinter sich, und langsam wird’s langweilig. Wahrscheinlich haben die anderen Kinder die Wette längst vergessen. Vermutlich sind sie längst unterwegs in den Volksgarten, um auf der Ballonwiese oder am Weiher zu spielen und Unfug zu treiben. Aber Siggi nimmt die Sache immer noch ernst; schließlich geht es um die Ehre.

Sein Vater sagt immer: „Was man angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen.“
Hat sowieso viele solcher Sprüche auf Lager: „Ehrlich währt am längsten.“, „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er mal die Wahrheit spricht.“ und natürlich auch „Lügen haben kurze Beine.“
Überhaupt: Lügen hasst der Vater mehr als alle anderen Fehler, die Leute so machen.

Das hat Siggis Bruder im vergangenen Sommer hart zu spüren gekriegt. Da war er eines Tages nachhause gekommen und hatte zwei tolle Siku-Autos mit. So richtig aus Metall, ganz naturgetreu: einen 300 SL und einen ziemlich großen Lastwagen. Siggi hatte seine Autos dazu geholt, und dann hatten sie auf dem Boden in ihrem Zimmer gespielt. Natürlich hatte Siggi keine echten Siku-Modelle, bloß so billige Dinger aus Plastik, bei denen man kaum erkennen konnte, welche Wagen sie darstellen sollten. Dann kam der Vater rein, warf einen Blick auf das Verkehrschaos, zeigte auf den Mercedes und fragte meinen Bruder: „Wo hast du den her?“

Siggi wusste es schon, dass sein Bruder die Autos von Gerhard geschenkt bekommen hatte, einem der acht Schulz-Brüder aus dem Erdgeschoss. Die Schulzens bewohnten nicht nur die Parterrewohnung zur Straße hin, sondern auch den Teil im Anbau auf dieser Höhe. Denn zwei der Jungs waren schon erwachsen, brachten Geld mit nachhause und manchmal auch ihre jeweilige Verlobte und hatten natürlich eigene Zimmer. Die drei mittleren, so zwischen vierzehn und siebzehn Jahre alt, waren ziemlich böse Buben.
Kriminelle nannte der Vater die und sagte immer: „Die werden alle später Verbrecher und kommen dann ins Kittchen.“
Gerhard, den alle nur Gerd nannten, war der schlimmste von denen, denn der klaute wie ein Rabe.

Besonders gern und erfolgreich im Spielwarengeschäft Lütgenau auf der Graf-Adolf-Straße und bei Ziem in der Altstadt, wo es nicht nur Märklin-Eisenbahnen gab, sondern auch die schönsten Automodelle von Wiking und Siku und sogar von dieser Marke aus England: Matchbox. Immer hatte Gerd die Taschen voll mit Spielsachen: eben Automodelle, aber auch Cowboy- und Indianer-Figuren, Jojos und was sonst noch klein genug war, um es unauffällig stehlen zu können. Klemmen nannte er diese Tätigkeit.
„Hier, schenk ich dir“, sagte er dann zu den anderen Jungs in seinem Alter, „hab ich beim Defaka geklemmt“.
Durch die Geschenke war er natürlich zum Helden des Hauses und der Straße geworden.

Frau Schulz hatte vier Söhne mit in die Ehe gebracht, die sie von ihrem Mann hatte, der aber in Stalingrad geblieben war. Dann hatte sie Herrn Schulz kennengelernt, einen großen, schweren Mann mit tiefschwarzen Haaren, der nie viel sprach und angeblich über gewaltige Körperkräfte verfügte.
„Der schmeißt das Dreirad vom Neger mit einer Hand um“, hatte Uwe, der sechstälteste, der mit Siggi, Ebse und Horsti in dieselbe Klasse ging, mal gesagt.
Herr Schulz hatte ebenfalls vier Söhne. Die Mutter dieser Jungs, so munkelte man im Haus, sei auf der Flucht vor dem Russen angeschossen worden, habe sich dabei so ein Fieber geholt und sei dran gestorben.

Witzigerweise waren beide Parteien ungefähr im gleichen Alter, sodass es immer zwei Schulz-Jungs einer Größe gab. Aber man konnte leicht unterscheiden, wer von wem war, weil die Söhne von Frau Schulz alle ziemlich blond waren und die anderen schwarze Haare hatten.

Mutti und Vati waren auf diese Bande nicht gut zu sprechen und hatten Siggi und seinem Bruder praktisch verboten, mit denen zu spielen, ja, auch nur zu reden. Aber ein solches Verbot ließ sich kaum kontrollieren. Besonders wenn alle Corneliuskinder sich im Hof trafen. Wenn die ältesten Schulz-Söhne zuhause waren, dann öffneten sie die Fenster zum Hof und machten Quatsch, um die Pänz zu unterhalten. Und Hartmut, der Älteste, hatte immer Süßigkeiten zur Hand, die er großzügig verteilte.

Und jetzt stand Vati vor dem Bruder und schaute ihn böse an.
Der stotterte „Hab ich gefunden…“ und fing sich, zack, eine mächtige Ohrfeige
„Ich weiß genau, wo du die Dinger herhast. Vom Gerhard Schulz. Stimmt’s?“
Siggis großer Bruder konnte gerade noch vermeiden loszuheulen und schüttelte den Kopf. Und, wumms, hatte er eine auf der anderen Backe kleben.
„Du weißt, warum du dir die Maulschellen fängst, oder?“
Jetzt nickte der Delinquent.
„Weil du mich anlügst. Weil du mir frech die Unwahrheit erzählst. Ich frage nochmal: Woher hast du die Spielsachen?“
Siggis Bruder war in die Hocke gegangen, schniefte ein paar Mal und sagte dann ganz leise: „Vom Gerd.“
„Von wem?“ brüllte der Familienvorstand.
„Vom Gerhard Schulz, der hat allen was geschenkt, weil er Geburtstag hatte.“
Was ihm eine Kopfnuss eintrug: „Und warum hat Siggi dann keines von diesen teuren Modellen, wenn alle was gekriegt haben?“
Jetzt flennte der Bruder und stammelte was davon, dass der Gerd so viele Autos gehabt hätte, dass er die gar nicht alle hätte unterbringen können, und der Peter, der Wolfram, der Hans-Josef und der Klaus hätten auch welche gekriegt.

Tja, und dann musste Siggis großer Bruder auf der Stelle mit den Modellen runter gehen zu den Schulzens und sie zurückgeben und sagen, dass er keine geklauten Sachen annehmen dürfe.
Die Botschaft und die Autos nahm Herr Schulz schweigend an der Wohnungstür entgegen, wartete ein paar Sekunden und sagte dann zum Bruder: „Erzähl deinem Vater, dass er sich um seinen eigenen Scheiß kümmern soll. Sonst rummst’s.“
Und knallte Siggis Bruder die Tür vor der Nase zu.

Oben kassierte das Häufchen Elend dann noch eine lange Predigt, und tatsächlich nahm er nie wieder was von Gerd Schulz an. Inzwischen waren die Schulzens auch weggezogen. Nach Erkrath, hieß es, in ein Hochhaus. Und die beiden Ältesten, die seien ganz weggezogen aus der Stadt. Hermann fahre zur See, erzählte man sich, und Manfred sei zur Bundeswehr gegangen und habe sich auf zwölf Jahre verpflichtet.

(Fortsetzung folgt…)