Nichts davon (1)

Sie lässt sich nach dem Auftritt einen kleinen Whisky in die Garderobe bringen. Obwohl sie Whisky nicht mag. Aber sie findet, es macht sich gut in Interviews und Talkshows zu erzählen, sie lasse sich nach jedem Auftritt einen kleinen Whisky in die Garderobe bringen, obwohl sie keinen Whisky mag. Bea Dardai weiß, dass es nur die Anekdoten sind, die ihr Bild in der Öffentlichkeit prägen. Das findet auch Karl, der ihr den Whisky bringt. Den er trinkt. Dann hilft er ihr mit der Perücke und beim Umziehen und schaut ihr beim Abschminken zu. Er liebt es, diese Verwandlung zu sehen. Auch, weil er die Frau, die dabei zum Vorschein kommt, mehr liebt als die große Bea Dardai auf der Bühne, wenn sie im paillettenbesetzten Abendkleid im Lichtkegel am Mikrofon steht, ihre Chansons singt und dem Publikum zwischendurch kleine Geschichten erzählt, die er natürlich alle schon kennt. Wenn sie privat ist, kommt er sich nicht mehr vor wie der alternde Mann, der eine strahlende, jüngere Frau begleitet. Dann sind sie auf Augenhöhe.

Bea sieht das anders, weil sie Karl für den schönsten Mann hält, der ihr je untergekommen ist. Gut aussehend waren mindestens zwei ihrer drei Ehemänner auch, aber keiner von denen hatte diese Eleganz, diese Grandezza, die er quasi von Geburt aus besitzt als Mitglied es Hochadels, Nachkomme eines edlen, wenn auch verarmten Geschlechts, dessen Urahn schon an der Kaiserkrönung im Dom zu Speyer teilgenommen hat. Wenn sie zusammen sind, ob auf Tournee, in den Zwischenzeiten daheim oder im Urlaub, sprechen sie nicht viel. Weil sie seit Jahren alles gemeinsam erleben, haben sie sich wenig zu erzählen. Und alle Erinnerungen, alle Anekdoten und Geschichten aus dem jeweiligen Leben kennen sie schon voneinander. Am Schönsten ist es, mein Lieber, still mit dir im Sonnenschein zu sitzen, dicht an dicht, sodass wir beide spüren wie der andere atmet, hat sie vor einiger Zeit gesagt. Und er hat schweigend ihre Hand genommen, sie geküsst und schlicht gesagt: Ja.

Sie betrachtet es als Ironie ihres Lebens als Künstlerin, dass sie erst jetzt am Ende ihrer Karriere, fünfzehn Jahre nachdem sie das letzte Album aufgenommen hat, die ganz großen Hallen füllt. Wenn auch nur, weil andere Bands oder Sänger engagiert werden, die ein Publikum jenseits ihrer treuen Anhängerschaft anziehen. Natürlich duldet sie es nicht, dass eine andere Solokünstlerin mitreist. Außerdem lässt sie sich vertraglich zusichern, dass die populäreren Künstler nach ihr aufzutreten haben. Sie muss der Höhepunkt des Abends bleiben. Und wenn sie „Nichts davon“ singt, das Lied, mit dem sie mehr als vierzig Jahre zuvor berühmt wurde, dann soll der Saal überkochen, dann sollen die Zuhörer sicher sein, etwas Besseres könne nicht mehr kommen. Dass es Regine, ihrer Agentin, Jahr für Jahr gelingt, solche Tournee zu organisieren, dafür ist Bea ihr unendlich dankbar.

Karl sieht die Sache kritischer. Du gehörst nicht die großen Hallen des Landes, du gehörst in die Clubs, in eine intime Umgebung, unterstützt von einem Jazz-Quartett, deine alten Songs neu arrangiert; weniger Schlager, mehr musikalischer Anspruch. Bea betrachtet es als reine Rechenaufgabe: Nach einer Tournee über acht Monate bleibt bei den großen Konzerten einfach mehr übrig. Außerdem spart sie sich viel Zeit mit Proben, denn um einen ihrer Hits zu singen, könnte man sie mitten in der Nacht wecken und auf eine Bühne zerren, ohne dass ihr Gesang auch nur einen Hauch schlechter wäre als während einer Tournee. Außerdem gilt ihr Karl bei aller Liebe nicht als Berater, sondern eher als Faktotum. Nur wenn sie ihn so betrachtet, kann sie verwinden, dass er ihre Ewa vertrieben hat, ihre ewige Ewa, die Garderobiere, Friseurin, Maskenbildnerin,Chauffeurin, Beraterin, Freundin, die ihr fast fünfunddreißig Jahre treu gedient hat.

Zuerst hat Karl die Rolle des Fahrers übernommen und sie überredet, ein Reisemobil anzuschaffen, das gleichzeitig als mobile Garderobe dienen konnte. Auf der ersten Tournee reiste Ewa noch mit ihnen im Bus. Aber Karl sorgte dafür, dass sie im zweiten Jahr mit dem Zug zu den Auftrittsorten fuhr. So wurde der enge Kontakt, den Bea mit Ewa gepflegt hatte, immer dünner. Am Ende durfte die treue Freundin ihr gerade noch das Abendkleid herauslegen und bei der Maske zur Hand gehen. Drei Wochen nach dem Ende der dritten Tournee, auf der Karl sie begleitete, verschwand Ewa und tauchte zum Probenbeginn für die nächste Gastspielreise nicht wieder auf.

Sie hatte sich nicht in ihn verliebt und er nicht in sie. Eher begann ihre Beziehung als Zweckgemeinschaft, als Verzweiflungsbund. Bea hatte sich sehr darauf gefreut, zwei Monate an Bord eines Kreuzfahrers zu gastieren, der durch die karibische See schipperte, und sich bei Regine überschwänglich für das Engagement bedankt. Leider hatte ihre Agentin übersehen, dass es sich nicht um einen Cruise Liner für die Reichen und Schönen handelte, sondern um das Partyschiff, ja, um einen Kahn, der sogar das PS statt des üblichen MS im Namen führte und diesem Kürzel alle Ehre machte. Weite Teile des Schiffs verwandelten sich ab achtzehn Uhr in eine Feiermeile wie der Ballermann auf Mallorca. An den Bars und in der Disco lief durchweg Stapfmusik, und ihr erste Auftritt im Bordtheater wurde zum Desaster. Der Mann am Soundmixer war nicht in der Lage, ihr Organ raumfüllend darzustellen, das Playback war entweder zu kaut oder zu leise, aber immer zu basslastig, und das Licht war grauenvoll. Später verloren sich kaum drei Dutzend Passagiere auf den achthundert Plätzen, und es zeigte sich im Verlauf der Reise, dass sie exakt die Klientel darstellten, für die dieses Schiff nicht gedacht war.

Immerhin hatte die Animationschefin so viel Mitlied, dass Bea ab der zweiten Woche in der größten Bar auftreten konnte, begleitet von der Showband, die vom feierwütigen Publikum ebenfalls verschmäht wurde. Die bestand aus sieben Jazzmusikern aus Tschechien, geleitet von einem quadratischen Percussion-Spieler, der sich Dean nannte. Sie probten tagsüber wie die Verrückten und legten schon zur Premiere einen fast zweistündigen Set mit Jazz-Standards hin, mit dem sie ihre Musikerehre verteidigten. Und da saß dieser destinguierte Herr am hinteren Eck des geschwungenen Tresen, trank Champagner und applaudierte nach dem jedem Stück im Stehen. Am fünften oder sechsten Abend trat er nach der Zugabe ans Podest und sagte: Verehrte Frau Dardai, darf ich Sie auf ein Gläschen von dem Schaumwein einladen, den sie an Bord Hausmarke nennen? Sie musste lachen und antwortete: Geben Sie mir eine halbe Stunde mich aufzufrischen? Mit dem größten Vergnügen.

Sie saßen beisammen bis die Bar schloss, waren erst auf Longdrinks, dann auf Shots umgestiegen und hatten sich gegenseitig die wichtigsten Lebenslinien beschrieben. Bea erzählte von ihrem Vater, der sich als Kriegsgefangener in den USA in den Jazz verliebt hatte und in amerikanische Musicals, dass bei ihnen zuhause fast jeden Tag Louis Amstrong das Horn blies, dass Billie Holiday den Blues sang, Dutzende von Schallplatten, die in Stapeln neben der Musiktruhe lagen. Und dass der Papa sie mitnahm als Mister Acker Bilk in der Stadt auftrat, wie sie auf die Bphne geschoben wurde und mit der Band sang: „All of me“. Sie erzählte von der wilden Zeit, in der sie sich Billie Day nannte und mit fünf Jungs in Jazzkellern überall im Land auftrat, von muffigen Hotelzimmern, in denen sie zu sechst schliefen und dass jeder Kerl aus der Band versuchte, sie zu verführen, von den grandiosen Auftritten in den Bars der amerikanischen Soldaten, die immer wieder diesen einen Song verlangten, von Mo, dem Schwarzen aus New Orleans, der sie heiratete und mitnehmen wollte in die Staaten, dass die Ehe aber nur drei Monate hielt und er dann verschwand und die Scheidung in Abwesenheit ausgesprochen wurde. Davon wie die Band zerfiel, weil erst Jo umfiel und nur noch als Installateur arbeiten wollte, dann Kanne, der begabte Saxofonist, der in eine Firma einheiratetet, und innerhalb von kaum einem halben Jahr die anderen, und sie keine neue Band fand. Dass sie sich in Gerd verliebte, den Journalisten, mit dem zusammen sie über Weihnachten 1970 den Text zu „Nichts davon“ schrieb, die deutsche Version ihres Songs, den sie im Studio des legendären Peter K. aufnahm und dafür eine Schar Studiomusiker buchte und Gerd die ganze Sache bezahlte. Wie sie einhundert Schallplatten pressen ließ, auf der B-Seite „Gern bereit“, die deutsche Version von „Love for sale“ wie die Knef sie gesungen hatte.

Sie berichtete, dass nur Vin Down, der damals beliebte Radio-DJ, ihre Scheibe aus einer Laune heraus in seiner Sendung spielte und sie ein paar Wochen später Post bekam von Alf Segel, einem mehr berüchtigten, als berühmten Produzenten, der damals den Schlagermarkt beherrschte. Der machte ihr ein Angebot, das sie unmöglich ablehnen konnte. Und weil Gerd, den sie inzwischen geheiratet hatte, zuriet, unterschrieb sie einen Exklusivvertrag bei Segel, der sofort eine Schar bewährter Komponisten und Texter daran setzte, für sie zu schreiben, und im Sommer 1971 wurde ihr erstes Album aufgenommen. Im Herbst erreichte „Nichts davon“ die Nummer Eins, sie war beinahe jede Woche im Fernsehen zu sehen und täglich im Radio zu hören, und ab Februar war sie dann sechs Monate lang auf Tournee. Man erklärte sie zur deutschen Ella Fitgerald, das Feuilleton war voll des Lobes und befand, sie sei zu schade für Schlager. Die Konzerte, bei denen sie begleitet von einer hochkarätig besetzten Bigband ihre eigenen Lieder und viele berühmte Schlager der frühen Jahre vortrug, waren ausverkauft. Die zweite Langspielplatte wurde ein Flop. Die Tournee mit kleinem Orchester und einem Programm aus lauter Jazzstandards wurde zur Hälfte mangels Erfolg abgebrochen. Bea begann zu trinken, und weil Gerd immer schon ein Problem mit dem Alkohol hatte, erlebten sie in den folgenden drei Jahren keine nüchterne Stunde. Der Vertrag mit Segel war ausgelaufen, das Geld fast aufgebraucht, und dann verunglückte ihr Mann bei einer Autofahrt mit gemessenen zweikommavier Promille tödlich.

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