Nichts davon

Sie lässt sich nach dem Auftritt einen kleinen Whisky in die Garderobe bringen. Obwohl sie Whisky nicht mag. Aber sie findet, es macht sich gut in Interviews und Talkshows zu erzählen, sie lasse sich nach jedem Auftritt einen kleinen Whisky in die Garderobe bringen, obwohl sie keinen Whisky mag. Bea Dardai weiß, dass es nur die Anekdoten sind, die ihr Bild in der Öffentlichkeit prägen. Das findet auch Karl, der ihr den Whisky bringt. Den er trinkt. Dann hilft er ihr mit der Perücke und beim Umziehen und schaut ihr beim Abschminken zu. Er liebt es, diese Verwandlung zu sehen. Auch, weil er die Frau, die dabei zum Vorschein kommt, mehr liebt als die große Bea Dardai auf der Bühne, wenn sie im paillettenbesetzten Abendkleid im Lichtkegel am Mikrofon steht, ihre Chansons singt und dem Publikum zwischendurch kleine Geschichten erzählt, die er natürlich alle schon kennt. Wenn sie privat ist, kommt er sich nicht mehr vor wie der alternde Mann, der eine strahlende, jüngere Frau begleitet. Dann sind sie auf Augenhöhe. [Lesezeit ca. 12 min]

Bea sieht das anders, weil sie Karl für den schönsten Mann hält, der ihr je untergekommen ist. Gut aussehend waren mindestens zwei ihrer drei Ehemänner auch, aber keiner von denen hatte diese Eleganz, diese Grandezza, die er quasi von Geburt aus besitzt als Mitglied es Hochadels, Nachkomme eines edlen, wenn auch verarmten Geschlechts, dessen Urahn schon an der Kaiserkrönung im Dom zu Speyer teilgenommen hat. Wenn sie zusammen sind, ob auf Tournee, in den Zwischenzeiten daheim oder im Urlaub, sprechen sie nicht viel. Weil sie seit Jahren alles gemeinsam erleben, haben sie sich wenig zu erzählen. Und alle Erinnerungen, alle Anekdoten und Geschichten aus dem jeweiligen Leben kennen sie schon voneinander. Am Schönsten ist es, mein Lieber, still mit dir im Sonnenschein zu sitzen, dicht an dicht, sodass wir beide spüren wie der andere atmet, hat sie vor einiger Zeit gesagt. Und er hat schweigend ihre Hand genommen, sie geküsst und schlicht gesagt: Ja.

Sie betrachtet es als Ironie ihres Lebens als Künstlerin, dass sie erst jetzt am Ende ihrer Karriere, fünfzehn Jahre nachdem sie das letzte Album aufgenommen hat, die ganz großen Hallen füllt. Wenn auch nur, weil andere Bands oder Sänger engagiert werden, die ein Publikum jenseits ihrer treuen Anhängerschaft anziehen. Natürlich duldet sie es nicht, dass eine andere Solokünstlerin mitreist. Außerdem lässt sie sich vertraglich zusichern, dass die populäreren Künstler nach ihr aufzutreten haben. Sie muss der Höhepunkt des Abends bleiben. Und wenn sie „Nichts davon“ singt, das Lied, mit dem sie mehr als vierzig Jahre zuvor berühmt wurde, dann soll der Saal überkochen, dann sollen die Zuhörer sicher sein, etwas Besseres könne nicht mehr kommen. Dass es Regine, ihrer Agentin, Jahr für Jahr gelingt, solche Tournee zu organisieren, dafür ist Bea ihr unendlich dankbar.

Karl sieht die Sache kritischer. Du gehörst nicht die großen Hallen des Landes, du gehörst in die Clubs, in eine intime Umgebung, unterstützt von einem Jazz-Quartett, deine alten Songs neu arrangiert; weniger Schlager, mehr musikalischer Anspruch. Bea betrachtet es als reine Rechenaufgabe: Nach einer Tournee über acht Monate bleibt bei den großen Konzerten einfach mehr übrig. Außerdem spart sie sich viel Zeit mit Proben, denn um einen ihrer Hits zu singen, könnte man sie mitten in der Nacht wecken und auf eine Bühne zerren, ohne dass ihr Gesang auch nur einen Hauch schlechter wäre als während einer Tournee. Außerdem gilt ihr Karl bei aller Liebe nicht als Berater, sondern eher als Faktotum. Nur wenn sie ihn so betrachtet, kann sie verwinden, dass er ihre Ewa vertrieben hat, ihre ewige Ewa, die Garderobiere, Friseurin, Maskenbildnerin,Chauffeurin, Beraterin, Freundin, die ihr fast fünfunddreißig Jahre treu gedient hat.

Zuerst hat Karl die Rolle des Fahrers übernommen und sie überredet, ein Reisemobil anzuschaffen, das gleichzeitig als mobile Garderobe dienen konnte. Auf der ersten Tournee reiste Ewa noch mit ihnen im Bus. Aber Karl sorgte dafür, dass sie im zweiten Jahr mit dem Zug zu den Auftrittsorten fuhr. So wurde der enge Kontakt, den Bea mit Ewa gepflegt hatte, immer dünner. Am Ende durfte die treue Freundin ihr gerade noch das Abendkleid herauslegen und bei der Maske zur Hand gehen. Drei Wochen nach dem Ende der dritten Tournee, auf der Karl sie begleitete, verschwand Ewa und tauchte zum Probenbeginn für die nächste Gastspielreise nicht wieder auf.

Sie hatte sich nicht in ihn verliebt und er nicht in sie. Eher begann ihre Beziehung als Zweckgemeinschaft, als Verzweiflungsbund. Bea hatte sich sehr darauf gefreut, zwei Monate an Bord eines Kreuzfahrers zu gastieren, der durch die karibische See schipperte, und sich bei Regine überschwänglich für das Engagement bedankt. Leider hatte ihre Agentin übersehen, dass es sich nicht um einen Cruise Liner für die Reichen und Schönen handelte, sondern um das Partyschiff, ja, um einen Kahn, der sogar das PS statt des üblichen MS im Namen führte und diesem Kürzel alle Ehre machte. Weite Teile des Schiffs verwandelten sich ab achtzehn Uhr in eine Feiermeile wie der Ballermann auf Mallorca. An den Bars und in der Disco lief durchweg Stapfmusik, und ihr erste Auftritt im Bordtheater wurde zum Desaster. Der Mann am Soundmixer war nicht in der Lage, ihr Organ raumfüllend darzustellen, das Playback war entweder zu kaut oder zu leise, aber immer zu basslastig, und das Licht war grauenvoll. Später verloren sich kaum drei Dutzend Passagiere auf den achthundert Plätzen, und es zeigte sich im Verlauf der Reise, dass sie exakt die Klientel darstellten, für die dieses Schiff nicht gedacht war.

Immerhin hatte die Animationschefin so viel Mitlied, dass Bea ab der zweiten Woche in der größten Bar auftreten konnte, begleitet von der Showband, die vom feierwütigen Publikum ebenfalls verschmäht wurde. Die bestand aus sieben Jazzmusikern aus Tschechien, geleitet von einem quadratischen Percussion-Spieler, der sich Dean nannte. Sie probten tagsüber wie die Verrückten und legten schon zur Premiere einen fast zweistündigen Set mit Jazz-Standards hin, mit dem sie ihre Musikerehre verteidigten. Und da saß dieser destinguierte Herr am hinteren Eck des geschwungenen Tresen, trank Champagner und applaudierte nach dem jedem Stück im Stehen. Am fünften oder sechsten Abend trat er nach der Zugabe ans Podest und sagte: Verehrte Frau Dardai, darf ich Sie auf ein Gläschen von dem Schaumwein einladen, den sie an Bord Hausmarke nennen? Sie musste lachen und antwortete: Geben Sie mir eine halbe Stunde mich aufzufrischen? Mit dem größten Vergnügen.

Sie saßen beisammen bis die Bar schloss, waren erst auf Longdrinks, dann auf Shots umgestiegen und hatten sich gegenseitig die wichtigsten Lebenslinien beschrieben. Bea erzählte von ihrem Vater, der sich als Kriegsgefangener in den USA in den Jazz verliebt hatte und in amerikanische Musicals, dass bei ihnen zuhause fast jeden Tag Louis Amstrong das Horn blies, dass Billie Holiday den Blues sang, Dutzende von Schallplatten, die in Stapeln neben der Musiktruhe lagen. Und dass der Papa sie mitnahm als Mister Acker Bilk in der Stadt auftrat, wie sie auf die Bphne geschoben wurde und mit der Band sang: „All of me“. Sie erzählte von der wilden Zeit, in der sie sich Billie Day nannte und mit fünf Jungs in Jazzkellern überall im Land auftrat, von muffigen Hotelzimmern, in denen sie zu sechst schliefen und dass jeder Kerl aus der Band versuchte, sie zu verführen, von den grandiosen Auftritten in den Bars der amerikanischen Soldaten, die immer wieder diesen einen Song verlangten, von Mo, dem Schwarzen aus New Orleans, der sie heiratete und mitnehmen wollte in die Staaten, dass die Ehe aber nur drei Monate hielt und er dann verschwand und die Scheidung in Abwesenheit ausgesprochen wurde. Davon wie die Band zerfiel, weil erst Jo umfiel und nur noch als Installateur arbeiten wollte, dann Kanne, der begabte Saxofonist, der in eine Firma einheiratetet, und innerhalb von kaum einem halben Jahr die anderen, und sie keine neue Band fand. Dass sie sich in Gerd verliebte, den Journalisten, mit dem zusammen sie über Weihnachten 1970 den Text zu „Nichts davon“ schrieb, die deutsche Version ihres Songs, den sie im Studio des legendären Peter K. aufnahm und dafür eine Schar Studiomusiker buchte und Gerd die ganze Sache bezahlte. Wie sie einhundert Schallplatten pressen ließ, auf der B-Seite „Gern bereit“, die deutsche Version von „Love for sale“ wie die Knef sie gesungen hatte.

Sie berichtete, dass nur Vin Down, der damals beliebte Radio-DJ, ihre Scheibe aus einer Laune heraus in seiner Sendung spielte und sie ein paar Wochen später Post bekam von Alf Segel, einem mehr berüchtigten, als berühmten Produzenten, der damals den Schlagermarkt beherrschte. Der machte ihr ein Angebot, das sie unmöglich ablehnen konnte. Und weil Gerd, den sie inzwischen geheiratet hatte, zuriet, unterschrieb sie einen Exklusivvertrag bei Segel, der sofort eine Schar bewährter Komponisten und Texter daran setzte, für sie zu schreiben, und im Sommer 1971 wurde ihr erstes Album aufgenommen. Im Herbst erreichte „Nichts davon“ die Nummer Eins, sie war beinahe jede Woche im Fernsehen zu sehen und täglich im Radio zu hören, und ab Februar war sie dann sechs Monate lang auf Tournee. Man erklärte sie zur deutschen Ella Fitgerald, das Feuilleton war voll des Lobes und befand, sie sei zu schade für Schlager. Die Konzerte, bei denen sie begleitet von einer hochkarätig besetzten Bigband ihre eigenen Lieder und viele berühmte Schlager der frühen Jahre vortrug, waren ausverkauft. Die zweite Langspielplatte wurde ein Flop. Die Tournee mit kleinem Orchester und einem Programm aus lauter Jazzstandards wurde zur Hälfte mangels Erfolg abgebrochen. Bea begann zu trinken, und weil Gerd immer schon ein Problem mit dem Alkohol hatte, erlebten sie in den folgenden drei Jahren keine nüchterne Stunde. Der Vertrag mit Segel war ausgelaufen, das Geld fast aufgebraucht, und dann verunglückte ihr Mann bei einer Autofahrt mit gemessenen zweikommavier Promille tödlich.

Haben Sie überhaupt noch gesungen damals? Bea schüttelte den Kopf: Ich habe die Musik einfach beerdigt. So wie Gerd. Und weil ich keinen Beruf gelernt habe, fand ich nur einen Job als Kassiererin im Supermarkt. Meine Eltern waren inzwischen tot, meine große Schwester nach Neuseeland ausgewandert, zu alten Freunden hatte ich keinen Kontakt, und neue Freunde gab es nicht. Ich lebte allein in einer Anderthalbzimmerwohnung. Ohne Mann, ohne Kind, ohne Hund oder Katze. Mein Chef und die Kolleginnen wussten, dass ich mal ein erfolgreiche Schlagersängerin war, machten aber zum Glück kein Aufhebens davon. Es ging mir nicht schlecht, aber auch nicht gut. Wie Regine mich ausfindig machen konnte, weiß ich bis heute nicht. Man hatte sie beauftragt, mich zu finden, weil ich immer noch Inhaberin aller Rechte an der Aufnahme meines Songs war. Das war irgendwann im Sommer 1984. Da gab es diese Popmusiker aus England, die waren durch Zufall auf ein erstes Album gestoßen und wollten einen Remix von „Nichts davon“ aufnehmen und dazu die von mir eingespielte Gesangsspur verwenden. Da musste ich sie enttäuschen, Peter K. war auch schon tot, sein Studio danach pleite gegangen, die ursprünglichen Bänder verschollen. Das teilte ich Regine mit, die es weitergab. Aber nach kaum einer Woche rief sie an und sagte: Die Jungs fragen, ob du nicht Lust hast, das Lied noch einmal aufzunehmen, zusammen mit ihnen. Den Rest dürften Sie kennen.

Aber Karl kannte den Rest nicht im mindesten. In Sachen Musik erwies er sich als Purist, der sein Leben lang ausschließlich Jazzmusik gehört hatte und über die populäre Musik nicht im Geringsten Bescheid wusste. Also musste im Bea auch davon erzählen, wie die mit viel elektronischem Schnickschnack produzierte Version von „All of me“ mit ihrem Gesang zu einem weltweiten Hit wurde, dass auf der B-Seite der Single sogar die deutsche Version veröffentlicht worden war, die es in Japan bis auf Platz 2 schaffte. Wie plötzlich gigantische Summen an Tantiemen flossen, dass sie Regine als Agentin engagierte und die sie wieder auf Tournee schickte, vor allem in Clubs, in denen junge Leute feierten und tanzten. Wie sie in die Talkshows geriet, wie die talentierte Ilka eine Doku über sie schuf, die Preise gewann, und wie Wim Wenders anfragen ließ, ob sie etwas dagegen habe, dass er einen Spielfilm über ihr Leben drehte. Drei Jahre lang trat sie praktisch rund um die Uhr auf. Dann brach sie zusammen. Und begann wieder zu trinken. Landete in der Klinik. Erneut geriet sie in Vergessenheit, und erst die große Nostalgiewelle rund um den Schlager holte sie zurück auf die Bühne.

Es stellte sich in dieser Nacht heraus, dass Karl inoffizieller Mitarbeiter des Animationsteams war, engagiert quasi als Gigolo, als Tanzpartner für alleinreisende, ältere Damen. Mangels alleinreisender, älterer Damen hatte ihn seine Vorgesetzte dem Ausflugsteam zugeteilt, und er musste die Bustouren über die jeweiligen Inseln begleiten. Aber, rief sie nach dem vierten Gin-Tonic aus, dann müssen meine Jungs mehr Tanzmusik spielen! Dann muss es einen Tanztee geben oder einen Abend der Standardtänze, und Sie moderieren. Hatte Bea mehrere Stunden gebraucht, von sich zu erzählen, fasste Karl sein Leben in kaum zwanzig kurzen Sätzen zusammen. Seine Familie habe sehr ärmlich gelebt in einem Nebengebäude des Schlosses, dass dem Adelsgeschlecht einmal gehört hatte. Der Vater sei Gärtner gewesen und habe im Park gearbeitet. Er selbst habe kein Interesse an der Schule gehabt und sei nach der zehnten Klasse abgegangen. Habe eine Lehre als Großhandelskaufmann überlebt und sei dann auf Reisen gegangen, die ihn überall hin auf dem ganzen Erdball gebracht hätten. Mit den Fremdsprachen habe es einigermaßen geklappt, und so habe er in den verschiedensten Weltgegenden arbeiten können. Auf Bali habe ihm so um 1985 herum ein anderer Typ aus Deutschland die Teilhaberschaft angeboten, und so sei er Mitinhaber eines Exportgeschäfts geworden, das balinesischen Kram containerweise nach Deutschland gebracht habe. Dann sei sein Kompagnon irgendwann mit dem ganze Geld abgehauen, und er habe sich etwas anderes suchen müssen. Über die Jahre habe er verschiedene Firmen gehabt, in Venezuela, in Südafrika, auf Madeira und Malta, ja, auch in Israel und Syrien. Aber, so drückte Karl es aus, das Glück habe ihm nie so richtig gelacht.

Nie verheiratet gewesen? Keine Kinder? fragte Bea. Er schüttelte den Kopf und sagte: nie sesshaft genug. Nun sei er dreiundsechzig und schlage sich seit über zehn Jahren mit den merkwürdigsten Jobs durch und wenn es eben als Gigolo auf einem Kreuzfahrer sei, schloss er seinen Bericht ab. Karl war vermutlich das, was an einen schönen Mann nennt, aber überhaupt nicht ihr Typ, ein hagerer Mann von gut einsachtzig, leicht gebeugt, der auf eine gewisse Art schlaff und kraftlos wirkte. Melancholische Augen von ungewissem Grün in einem länglichen Gesicht mit leicht nach unten weisenden Mundwinkeln und einem grauen Schnurrbart darüber. Ihr gefiel, dass er das war, was man eine gepflegte Erscheinung nennt, dass er eine natürliche Eleganz ausstrahlte und sich mit großer Sicherheit zu bewegen wusste. Als sie sich mit ihm zum ersten Mal beim Tanz im Spiegel sah, befand sie, dass sie beide ein gutes Paar ergäben. Ihr war klar, dass sie mit ihm würde schlafen müssen, sollte eine Beziehung entstehen. Und obwohl sie jedes Interesse an Sex verloren hatte, ging sie auf seine routinierten Verführungskünste ein, und sie verbrachte eine eher zärtliche als leidenschaftliche Nacht in ihrer Kabine. Nach dem Ende der Reise blieben sie zusammen. Es wird für uns beide reichen, sagte Bea, und nahm Karl bei sich auf. Wenn sie nicht auf Tournee waren, machte er sich im Haushalt nützlich, kaufte ein, kaufte und organisierte die gemeinsame Freizeit. Schließlich ließ sie vermelden, dass sie den Mann ihres Lebens gefunden habe, und ein Jahr später heirateten sie.

Bea hat sich auf Offenbach gefreut. In der Stadthalle ist sie schon oft aufgetreten, und jeder Auftritt war ein großer Erfolg. Sie sind spät angekommen. Um vor der ersten Probe mit der Bigband im Hotel einzuchecken, reicht die Zeit nicht. Also erscheint sie pünktlich auf der Bühne, allerdings so leger gekleidet wie sie es während der langen Autofahrten mit Kurt gern hat. Über alten Jeans trägt sie einen unförmigen Kapuzenpulli. Die Haare sind nicht gerichtet, und geschminkt ist sie kaum. Sie meint, erstaunte Blicke beim Team und den Musikern festzustellen, weil sie von denen kaum je einer so gesehen hat. Die Setlist steht natürlich schon seit Beginn der Tour, also geht es mehr um einen Soundcheck als um eine Probe. Die Instrumente sind gestimmt, und sie macht einen kleinen Mikrofontest. Vom Pult aus wird gerade mit dem Licht experimentiert. Und weil es Juni ist und das Wetter so schön, beginnt sie mit ihrer Version von „Summertime“, die sie von der großen Inge Brandenburg abgeschaut hat. Die Band fängt an, der Pianist hat seinen Einsatz. Jetzt singt sie zum ersten Mal das Wort, dass dem Lied seinen Titel gegeben hat. Irgendwo über hört sie einen Knall, und dann trifft sie der Scheinwerfer auch schon an der rechten Schulter.

Die Musik bricht ab. Irgendwer schreit entsetzt auf. Dann ruft jemand nach einem Arzt. Bea liegt hinter dem Mikro. Sie spürt den Schmerz, ist aber bei Bewusstsein. Karl ist auf die Bühne gekommen. Immer mehr Menschen um sie herum. Nicht bewegen, brüllt eine Stimme. Stabile Seitenlage, eine andere. Dann ist der Notarzt da. Man bringt sie in die Notaufnahme im Ketteler Krankenhaus. Nach den Untersuchungen und dem Röntgen steht fest: nichts gebrochen, aber eine tiefe Fleischwunde von der Schulter abwärts quer über den Rücken bis zur Hüfte. Die Verletzung wird versorgt, und man bringt sie mit dem KTW in die Unfallklinik Frankfurt, wo sie drei Tage zur Beobachtung bleibt. Karl ist immer an ihrer Seite und übernachtet in ihrem Zimmer. Natürlich sagt Regine die Tournee ab.

Und, Karl, was machen wir jetzt? Er hat ein besonderes Bett für sie angeschafft mit elektrischer Verstellung und es im Wintergarten aufstellen lassen. Die Türen sind geöffnet, und der warme Junihauch zieht hinein, wo er bei ihr sitzt und ihre Hand hält. Die Verletzung ist deutlich schlimmer als gehofft. Zwei Wirbel sind betroffen. Bea hat Lähmungserscheinungen und starke Schmerzen am Rückgrat. Schlafen kann sie nur auf der rechten Seite, also so wie sie noch nie in ihrem Leben im Bett gelegen hat. Die Prognosen sind nicht klar. Wissen Sie, Frau Dardai, in vielen ähnlich gelagerten Fällen heilt alles, hatte Professor Langner gesagt, dann werden Sie wieder ganz die Alte. Aber manchmal… Sie hatte abgewunken: Will ich gar nicht wissen. Sag mir, Karl, wie soll’s weitergehen? Ihr Mann hat sich ein Zigarillo angezündet, etwas, was er früher nie in ihrer Nähe getan hat. Aber sie hat es ihm erlaubt, damit er bei ihr sein kann, auch während er raucht.

Erst einmal musst du wieder ganz gesund werden, sagt er zwischen zwei Zügen. Ach, komm schon, Karl, das ist doch eine Floskel. Bestenfalls werde ich wieder laufen und ohne Schmerzen schlafen können. Große Touren sind nicht mehr drin. Hat der Professor auch gesagt. Karl nickt: Ich weiß. Aber du wirst doch nicht darüber nachdenken, ganz mit dem Singen aufzuhören. Bea Dardai dreht sich weg von ihm und schaut in den dunklen Teil des Gartens, da wo hinter dem Zaun die Fichten stehen und auf ihrer Seite das dichte Gebüsch. Man hatte ihr eine Hecke aus Kirschlorbeer, Buchsbaum oder Thuja aufschwätzen wollen, aber sie hat gesagt: Ich will etwas Lebendiges. Dort, denkt sie, leben die Tiere, die davon profitieren, dass wir Gärten anlegen, aber nicht mit uns in Kontakt treten wollen. Wenn die meisten Gehölze im Winter entlaubt sind, kann sie die vielen Nester in den Zweigen sehen. Und als sie noch die Katze hatten, brachte die aus lauter Mordlust die Vögel um, die dort lebten und nisteten.

Sie hatte sich nicht vorstellen können, wie gut ihr die Reha in diesem exklusiven Kurhotel an der Ostsee tat. Karl hatte gesagt: Genieß‘ den Luxus, die Versicherung zahlt. Und tatsächlich kümmerte sich eine Schar freundlicher Menschen beiderlei Geschlechts und unterschiedlicher Herkunft rund um die Uhr um sie. Nach fünf Wochen war ihre Beweglichkeit beinahe vollständig wiederhergestellt. Und sie, die sie ihr Leben lang wasserscheu war und das Schwimmen nie gelernt hatte, bewegt sich im Swimmingpool unter der baltischen Sonne wie eine Robbe, die kein anderes Element wirklich mag. Karl rief jeden Tag mindestens einmal an und hatte sie schon viermal besucht. Er wirkte gestresst, und sie machte sich Gedanken, wie das käme, wo er doch nicht viel zu tun hatte in ihrer Abwesenheit. Am zweiten November kam sie nachhause. Karl hatte ein besonders bequemes Auto gemietet und war besonders vorsichtig und sanft gefahren. Dann humpelte sie an ihrem Stock über die Einfahrt, während er das Gepäck auslud. Warte, rief er, ich mach dir die Tür auf.

Im Wohnzimmer sitzen vier Gestalten im Halbdunkel. Karl schaltet das Licht an. Lauter alte Säcke, denkt sie, aber irgendwie kommen die mir bekannt vor. Hey, Billie, sagt der vorgebeugt im Fernsehsessel hockt, wie geht’s? Kanne, bist du das? Und dann erkennt sie die anderen auch. Jo, Hardy und auch Mitz, der schweigende Schlagzeuger, alle sind sie da, ihre ganze Band. Sie schafft es gerade noch, sich auf die Couch zu setzen. Was zum Teufel macht ihr hier? Tja, sagt Kanne, wir wollen wieder mit dir Musik machen. Genau, meint Hardy, wird Zeit. Und Mitz nickt bedächtig. Dein Macker da, Jo zeigt auf Karl, hat uns angerufen und gemeint, wir sollten mal vorbeischauen. Bea lächelt und weint zugleich: Karl, mein Karl…

Der hat im Keller einen Proberaum samt Homerecording-Einheit bauen lassen. Sieben Wochen braucht die Band, und dann engagieren sie Curt, den immer noch berühmten Tonmeister mit der großen Liebe zum Jazz, und nehmen elf Songs auf, die guten, alten Standards, vom „Beale Street Blues“ über „Summertime“ und „Body & Soul“ bis zu „The Lady is a tramp“. Die Aufnahme von „All of me“ beginnt mit einem geflüsterten „This is for Karl, my man.“

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