Randfigur

Jemand hat dieses Zeitungsbild abfotografiert. Man erkennt die Rasterpunkte. Außerdem ist das Foto verwackelt und in weiten Teilen unscharf. Mit Mühe lässt sich erkennen, dass es am J.-Platz aufgenommen wurde, lange vor dem Umbau. Damals gab es hier einen Straßenbahn- und Busknotenpunkt. Der Blick geht aus mittlerer Entfernung Richtung Fußgängerzone. Der Bereich davor öffnet sich auf den Betrachter hin zu einem Platz. An der linken Ecke, unmittelbar vor dem Eingang zu einem modernen Gebäude, steigt schwarzer Rauch auf. Zwei Personen laufen dicht hintereinander von links nach rechts durchs Bild. Sie sind allein schon durch die Bewegungsunschärfe nicht identifizierbar. Genau im Zentrum aber, ein wenig im Hintergrund, neben einem schwächlichen Baum, steht eine Person. Sie trägt vermutlich einen damals üblichen Parka. Die Kapuze ist über den Kopf gezogen, durch ihren Schatten bleibt das Gesicht unsichtbar. Dieser Mensch hat beide Hände in den Taschen und scheint den Flüchtenden mit dem Blick zu folgen. Tatsächlich gab damals im Februar 1977 nur eine Tageszeitung in der Stadt, die von diesem versuchten Anschlag berichtete und dieses Foto veröffentlichte.

Du stehst Schmiere, hatte Carlheinz gesagt, aber ich wusste nicht genau, was er meinte, was ich also zu tun hätte. Du musst bloß aufpassen, ob Bullen kommen, und uns dann warnen. Wie? fragte ich, und er drückte mir eine schwere Stablampe in die Hand: dreimal kurz, zweimal lang. Sein Komplize schwieg. Den kannte ich nicht, wusste nicht einmal seinen Namen. Ein junger Typ mit rasiertem Schädel und schütteren Schnäuzer, der sich häufig räusperte. Carlheinz breitete einen gezeichneten Plan aus und markierte die Stelle mit dem Baum durch ein Kreuz mit dem Rotstift. Da stehst du ab – er schaute auf seine Armbanduhr – elf Uhr fünfunddreißig. Du verlässt deine Position erst, wenn wir beide außer Sichtweite sind. Verstanden? Was blieb mit übrig als zu nicken.

Erst im Nachhinein wurde mir das Risiko bewusst, dass ich eingegangen war. Zumal ich weder die Aktion, noch deren Sinn verstanden hatte. Es ging um die Filiale einer persischen Bank. Carlheinz wollte sie – wie er es nannte – abfackeln und dazu zwei Brandsätze in den Kassenraum schleudern. Vorher sollte der Komplize die gläserne Eingangstür mit einer Stahlstange zerstören. Mir kam das ausgesprochen bescheuert vor, aber die Zeiten waren so, dass wir alle Abenteuer suchten. Vielleicht sah ich die ganze Sache ab einem bestimmten Punkt auch wie einen Film. Außerdem bewunderte ich Carlheinz als einen Mann der Tat, einen, der nicht endlos laberte und Theorie betrieb, sondern, der handelte, ganz praktisch.

Jahre später erst begriff ich, dass dieser Asket, der seinen Lebensunterhalt und seine politische Arbeit durch Einbruchdiebstahl finanzierte, ganz und gar verrückt war, ein gemeingefährlicher Irrer. Und trotzdem… Als er für zweieinhalb Jahre in den Knast kam, war ich der Einzige, der den Kontakt hielt, der ihn besuchte, ihm Fresspakete schickte, ihn bei der Entlassung in B. abholte und anbot, bei uns zu wohnen bis er etwas Eigenes gefunden hätte. Dankbar war Carlheinz nicht. Oder ich verstand seine Art, Dankbarkeit zu zeigen, nicht. Er lachte bloß und sagte: Glaub nicht, dass ich jemanden brauche, der mir aus Mitleid ein Dach über dem Kopf bietet. In seiner Abwesenheit hatte ich die vielen Depots ausgeräumt, die er in den Wäldern der Umgebung, in aufgelassenen Fabriken und anderen Stellen angelegt hatte. Die gut 20000 Mark aus dem einen Loch reichten, einen Lagerraum anzumieten, und die Sachen nach und nach dort hinzuschaffen.

Schließlich stapelte sich beinahe zweihundert Kisten verschiedener Größe dort. Manche leicht zu tragen, andere von einem untrainierten Kerl wie mir kaum zu bewältigen. Heute weiß ich, dass ein Teil der Behälter Diebesbeute enthielt: Schmuck, Silberzeug, Goldmünzen und dergleichen, dass einige Dutzend Kisten Waffen und Munition enthielten, Sturmgewehre, Handfeuerwaffen und sogar zwei MG. Der ganze Rest war befüllt mir Werkzeug und allen möglichen Metallbauteilen. Denn Carlheinz plante, nach Nicaragua zu gehen, um in der Hauptstadt Managua eine Straßenbahngesellschaft aufzubauen. Schlüssel her, befahl er, und ab diesem Zeitpunkt hatte ich die Kontrolle über das Lager verloren. Da lag der missglückte Brandanschlag aber bereits fünf Jahre zurück, und ich hatte mich stückweise aus dem linksradikalen Milieu zurückgezogen, war Vater geworden und hatte einen Job als Werbetexter angenommen.

Kurze Zeit später war Carlheinz untergetaucht. Anfangs standen alle paar Wochen Kripobeamte vor meiner Tür und fragte mich nach seinem Verbleib. Sechs- oder siebenmal wurde ich ins Präsidium vorgeladen, und es war klar, dass sie mein Telefon abhörten und mich beschatteten. Einmal traf ich den Komplizen zufällig in einer Kneipe, die ich nicht oft aufsuchte. Aber er machte sich davon, bevor ich ihn ansprechen konnte. Der Mietvertrag für das Lager war abgelaufen, und als ich ein paar Wochen vor dessen Ende hinging, mir mit dem Zweitschlüssel Zutritt verschaffte, da fand ich den Raum vollständig leer und geputzt, als habe jemand dort wohnen wollen. Und dann sah ich ein Foto von Carlheinz im Fernsehen, in den Nachrichten. Er wurde wegen Beteiligung an der Entführung von K. in M. gesucht. Natürlich tauchten umgehend wieder Kripoleute bei mir auf, und dieses Mal nahmen sie mich mit. Das Verhör dauerte über dreißig Stunden, und ich erzählte den Polizisten alles, was ich wusste, wirklich alles. Selbstverständlich erwähnte ich das Lager nicht und dass ich dort seine Sachen untergebracht hatte. Aber sonst alles.

Gut, dass niemand die Verbindung zum Anschlag auf die persische Bank am J.-Platz zog, denn von meiner Beteiligung daran hatte ich auch nichts erzählt. Wieso auch? Ich hatte doch nichts getan, außer eine halbe Stunde dort herumzustehen. Ich war doch nur eine Randfigur.

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