Von Anfang an hab ich Ivo total vertraut. Wenn der gesagt hat, das machen wir so und so, dann hab ich genickt, und dann haben wir das so gemacht wie er gesagt hat. Denken Sie aber nicht, ich wäre so eine naive, dumme Nuss, die macht, was so’n Typ befiehlt, weil der stärker ist, schlauer und älter. Mein Vertrauen kommt aus Erfahrung. Hab ganz schön viel Erfahrung mit Menschen, weiß praktisch immer sofort, ob man einem vertrauen kann oder nicht. Mein Vertrauen in Ivo hat sich auch immer ausgezahlt in den zweieinhalb Jahren. Wir sind uns in einem leerstehenden Haus in R. begegnet, wo ich Platte machen wollte. War so ein Geheimtipp bei den Mädels. Da kommt nie jemand hin, schon gar kein Mann, da bist du safe, hatte Pinky gesagt. [Lesezeit ca. 5 min]
War aber doch ein Kerl da, Ivo, nämlich. Der war bestens ausgerüstet mit Isomatte, Schlafsack, Campingkocher und allem Drum und Dran. Ich hatte nur, was ich direkt am Körper trafen konnte. Zugedeckt hab ich mich immer mit der Winterjacke, die für den Sommer viel zu warm war. Ey, sagt der gleich, kannst n Schlafsack abhaben, ich hab zwei. Der hatte nicht nur zwei Schlafsäcke, sondern auch zwei Matten, zwei Tassen, zwei Teller. Der hatte praktisch alles doppelt. Und ein Fahrrad – mit Anhänger. Hatte noch nie einen auf der Straße getroffen, der so gut ausgerüstet war. Ich nahm sein Angebot an, und von dieser Nacht an sind wir zusammengeblieben.
Als er mich nach meinem Namen fragte, hab ich mich total zusammengerissen. Hab’s geschafft, so zu sprechen, dass er mich versteht. Bist du taubstumm oder so? hat er gefragt. Ich konnte es ihm in dem Moment nicht richtig erklären, hat Wochen gebraucht bis ich es so beschreiben konnte, dass er mich versteht. Es gibt irgendein Wort dafür. Jedenfalls bin ich nicht taub, hab aber schon als kleines Kind Probleme gehabt, so zu sprechen, dass die andern mich verstehen. Später haben die Leute oft gedacht, ich sei besoffen: Boah, du lallst aber. Oder haben gedacht, ich sei irgendwie geisteskrank. Bin ich aber nicht. Hab vielleicht mehr gelesen und gelernt als die meisten Mädchen in meinem Alter, die einen Beruf haben. Musst nix sagen, meinte Ivo, mach ich für dich.
Außerdem haben wir uns auch ohne viel Gelaber prima verstanden. Der wollte auch nicht sofort was von mir. Im Gegenteil: Nach drei Wochen auf Trebe war ich es, die zu ihm in den Schlafsack gekrochen ist. War das schön. Danach waren wir ein Paar. Gut, dass ich nicht schwanger werden kann nach der Operation. Das hätte uns noch gefehlt. Wär aber vielleicht auch nicht schlimm gewesen. Ivo war so gut, der hätte bestimmt jederzeit einen Job gefunden. Geld verdient, Wohnung gemietet. Dann hätten wir auch heiraten können und ein Kind adoptieren. Aber, der wollte nicht. Hat aber auch nicht viel Bohei darum gemacht, dass er auf der Straße lebte. War einfach sein Ding.
Geschickt war er, unheimlich. Wenn wir wo länger bleiben wollten, hat der Hütten gebaut. Also nicht nur eine zum Pennen, sondern fast wie eine Villa: Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer. Der hatte ja auch jede Menge Werkzeug in einer Kiste auf seinem Anhänger. Als erstes hat er mir so ein Schrottrad fertiggemacht. Konnten wir zusammen fahren. Am schönsten waren die Wochen oben im Wald über der Stadt. Da gab es mittenzwischen den Bäumen eine winzige Wiese, da hat er unser Lager gebaut. Äste abgeschnitten, rund gebogen und zusammengebunden, als Dach eine Plane. Der hat sogar ein Klo gebaut, also, ein Loch mit Deckel, damit es nicht stinkt. Und den Wasserkanister hat er so aufgehängt, dass man duschen konnte.
Manchmal hätte ich ihn gern gefragt, wo er herkommt und warum er auf der Straße lebt. Erstens konnte ich mich nicht gut genug verständlich machen, und zweitens hätte er sowieso nix erzählt. Ivo hat überhaupt nie was erzählt. Der hat immer nur darüber geredet, was wir als nächstes machen, worauf wir achten müssen, was zu tun war und so. Manchmal hat er mich angestrahlt und gesagt: Ach, du. Sonst war er immer ganz schön ernst. Und hat auch so geguckt. Ein schöner Mann. Und so warm und sanft. Aber, wenn es nötig war, dann konnte der ganz schön böse und gefährlich aussehen. So als Schutz.
Dann kam Babou zu uns. Ja, der ist uns zugelaufen. Da wohnten wir gerade in diesem Viertel, wo früher eine Fabrik war und jetzt nur noch Büsche. Schienen links, Schienen rechts, aber da fuhren keine Züge mehr. Wir saßen am Feuer und grillten Kartoffeln an Stöcken. Ivo hatte einen Wein besorgt, und es war sehr gemütlich. Plötzlich hörte ich ein Geräusch im Gebüsch, wie so ein leises Pfeifen. Hab die Taschenlampe genommen und nachgeguckt: ein kleiner bunter Hund! Ich kenn mich nicht aus mit Hunde, also, ich könnte nicht sagen, was für eine Rasse das war. Der guckt mich an, kommt vorsichtig näher, Nase an Nase und schleckt mir das Gesicht ab. Ivo fand nicht so gut, einen Köter immer dabeizuhaben. Macht nur Probleme, sagte er. Aber, weil ich es so sehr wollte, durfte Babou bleiben. Der war super, der passte zu uns, der konnte schnell alles, was wichtig ist. Ich hab den Babou geliebt.
Unser letzter Sommer war wunderschön. Ivo hatte eine Stelle am Fluss gefunden, ziemlich weit außerhalb der Stadt. Kein Strand in der Nähe, wo die Leute am Wochenende grillen und rumhängen. Babou war ordentlich gewachsen und hörte aufs Wort. Wir hatten wieder eine Hütte. Vom Deich aus kaum zu sehen direkt am Wasser. Wir lebten wie dieses Paar im Paradies. Ivo fuhr nachts zu einem Supermarkt in der Nähe und holte was zum Essen aus den Containern. Dann hatten wir für den nächsten Tag alles, was wir brauchten. Weil Ivo wusste, dass ich gern lese, brachte er von seinen Touren oft Bücher mit. Alles Mögliche, vor allem Romane. Ich kümmerte mich um Ordnung und Sauberkeit in unserem Lager. Wenn nichts zu tun war, las ich. Oder wir machten Spaziergänge mit dem Hund. Oft saßen wir bei Sonnenuntergang oben auf dem Rest einer Mauer und waren glücklich.
Das ging so bis in den Herbst. Die Hütte hielt auch bei starkem Regen oder Sturm. Selbst dieses Unwetter Anfang September überstanden wir ganz gut. Natürlich war Wasser reingelaufen. Aber Ivo hatte eine Menge Drahtkörbe und Netze mitgebracht und an den Pfählen aufgehängt, damit wenigstens die Klamotten und die Lebensmittel trocken blieben. Dann kam die Nacht mit der großen Flut. Es hatte zehn Tage lang geschüttet. War klar, dass der Fluss ansteigen würde. Wir hatten uns vorbereitet und das Zelt hinterm Deich in einem Gebüsch aufgebaut und einen Teil unserer Sachen hingebracht. Tagsüber war der Himmel aufgerissen, die Sonne schien und trocknete alles, was vorher nass war. Nach dem Abendessen tobten wir mit Babou am Ufer. Ivo warf einen Ball, Babou rannte hinterher, und manchmal brachte er ihn auch zurück. Dann landete der Ball im Wasser. Natürlich sprang mein und hinterher. Das Spielzeug wurde vom Sog weg vom Ufer getrieben. Babou versuchte hinterher zu schwimmen. Die Strömung war zu stark. Ivo sprang in den Fluss. Ich sah beide in der Mitte des Stroms. Dann waren sie verschwunden.
Vielleicht hat ja kein Mensch ein Recht auf mehr als zweieinhalb Jahre Glück. Ich erwarte nichts mehr. Bin gegangen, habe nichts mitgenommen außer meiner Winterjacke und die Sachen, die reinpassen. Versuche irgendwie in den Süden zu kommen. Einen Hund möchte ich nie wieder haben.